Eva Menasse über Heinrich Böll

"Böll würde sich auch heute polemisch einmischen"

Schriftsteller Heinrich Böll (1982)
Der Schriftsteller Heinrich Böll (1917-1985) wäre heute 100 Jahre alt geworden. © imago/Sven Simon
Eva Menasse im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 21.12.2017
Der Schriftsteller Heinrich Böll hat sich nie den Mund verbieten lassen. Das wäre heutzutage nicht anders, ist sich die Autorin Eva Menasse sicher. Eines seiner Themen wäre die unter Druck stehende Demokratie. Menasse fragt sich aber, ob Gelassenheit nicht besser wäre.
Eva Menasse glaubt nicht, dass es Heinrich Bölls "vordringliches Problem" gewesen wäre, dass Deutschland noch keine neue Regierung hat. Sie selbst vertraue fest darauf, dass das in absehbarer Zeit kommen werde. Aber: "Die Demokratie, die unter Druck steht durch Digitalisierung, durch Rechtsruck, auch durch Phänomene der Globalisierung - das ist bestimmt etwas, was Böll zu seiner typisch sehr temperamentvollen und polemischen Einmischung gebracht hätte."
Bei Bölls politischen Einlassungen falle auf, "wie glühend, wie zornig, wie brennend sein Ton" sei und wie er oft "wahnsinnig sarkastisch" argumentiere. Bei seinen Attacken gegen die "Bild"-Zeitung habe er "kein Blatt vor den Mund genommen", sagt Menasse:
"Das ist ein Ton, den wir uns heute abgewöhnt haben, und ich denke, vielleicht ist es auch ganz gut, dass wir uns den abgewöhnt haben, weil er kommt ja jetzt wieder auf eine andere Weise. Die Frage ist schon, ob man heute als Schriftsteller so in die Vollen greifen muss sprachlich - oder ob es nicht besser wäre, gelassen zu bleiben und durch Gelassenheit zu punkten."
Die österreichische Journalistin und Schriftstellerin Eva Menasse.
Die österreichische Journalistin und Schriftstellerin Eva Menasse.© picture alliance / dpa / Jens Kalaene

Keine kollektive Hysterisierung

Über Bölls Interventionen in Sachen Umgang mit der RAF, sein Vorwurf, die "Bild"-Zeitung schüre Hysterie, denke sie viel nach. Heute habe Deutschland mit Terrorismus leider viel mehr Erfahrung gemacht als damals. Dennoch gebe es keine "kollektive Hysterisierung" wie im Deutschen Herbst:
"Ich stelle mir viele Fragen. Warum ist das so? Ist es nicht vielleicht so, dass die Hysterisierung eben an anderer Stelle stattfindet, nämlich politisch durch dieses unglaubliche Erstarken der rechtsextremen Parteien selbst jetzt auch in Deutschland? (…) Also irgendwas ist da anders, irgendwas ist da passiert. Ich glaube, dass sogar die kollektive Hysterisierung sich sozusagen auf diese vielen Kanäle verteilt, die uns heute zur Verfügung stehen. (…) Es ist fast eine gute Nachricht. Es ist nicht so greifbar. Die Leute drehen nicht durch, weil jemand versucht, die Stimme der Vernunft zu erheben."
(bth)

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Heinrich Böll wäre heute hundert Jahre alt geworden. Der Schriftsteller, der mit 28 Jahren aus dem Zweiten Weltkrieg kam und sich all das dann von der Seele geschrieben hat, was ihm als Infanterist geschehen war im Zweiten Weltkrieg, was er gesehen hatte, was er erlebt und erlitten hatte. Der Autodidakt wurde zu einem der wichtigsten Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland. Sie kennen sicher seine Bücher, "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", "Das Irische Tagebuch" oder "Ansichten eines Clowns". Teilweise sind sie ja sogar Schulliteratur.
Der Mann, der 1972 auch den Literaturnobelpreis bekam, wofür er damals erstmals im Leben statt Cord einen Frack trug, der wurde geehrt, natürlich für seine Literatur, aber es stand dahinter auch immer der Mensch, der Schriftsteller, der das Maul aufmachte, der sich äußerte und den Preis auch für seine Einmischung zahlte. Dass er die RAF differenzierter betrachtet wissen wollte, dafür wurde er öffentlich diffamiert, es gab Hausdurchsuchungen.
Oder wir erinnern uns auch, dass er die katholische Kirche kritisierte, so weit, dass er auch austrat, weil die nämlich damals auch Waffenkäufe finanziert hat. Wir feiern heute also einen wunderbaren Literaten und einen Bürger, und wir tun das mit einer Frau, die 2013 mit dem Heinrich-Böll-Preis seiner Heimatstadt Köln ausgezeichnet wurde, der österreichischen Journalistin und Schriftstellerin Eva Menasse, die ja auch zu denen gehört, die sich einmischen. Als PEN-Mitglied hat sie unter anderem die Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union unterstützt. Frau Menasse, schön, dass Sie da sind!
Eva Menasse: Gern, guten Tag!
von Billerbeck: In Ihrer Dankesrede damals 2013 zum Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln haben Sie ja laut darüber nachgedacht, was er wohl gesagt hätte zu Deutschland und der Welt jetzt. Und an diesem heutigen hundertsten Geburtstag Bölls wollten wir noch mal bei Ihnen nachfragen. Was hätte er gesagt zu Politikverdrossenheit und dazu, dass derzeit in Deutschland irgendwie keiner richtig regieren will?
Menasse: Das ist ja eine Art Was-wäre-wenn-Spiel, das wir hier betreiben. Da muss man sich natürlich fragen, welchen Böll schauen wir uns an? Den späten Böll, der dann durchaus resigniert und deprimiert und schwer krank war ganz am Ende seines Lebens? Das, glaube ich, ist nicht die Idee dieser Frage, die Sie mir stellen. Sondern der Böll, der sich immer eingemischt hat, der hätte sich natürlich in Zeiten wie diesen auch eingemischt. Ich glaube nicht, dass sein vordringliches Problem gewesen wäre, dass wir noch keine Regierung haben. Ich vertraue fest darauf, dass wir irgendeine bekommen werden in absehbarer Zeit. Aber die Demokratie, die unter Druck steht durch Digitalisierung, durch Rechtsruck, durch auch Phänomene der Globalisierung. Das ist bestimmt etwas, was Böll zu seiner typisch sehr temperamentvollen und polemischen Einmischung gebracht hätte.

"Der hat sich kein Blatt vor den Mund genommen"

von Billerbeck: Rechtsextremismus – wir haben jetzt eine Mitte-Rechts-Regierung in Österreich, wir haben bei uns im Parlament eine Partei, der auch Rechtsextreme angehören. Was meinen Sie, wie hätte Böll darauf reagiert, in welcher Tonalität?
Menasse: Wenn man heute die politischen Einlassungen Bölls liest aus den damaligen Jahren – es gibt ja einen ganzen Band in der Gesamtausgabe mit den journalistischen Texten, den Leserbriefen, den Einmischungen und auch den politischen Reden, die er geschrieben und gehalten hat –, dann fällt doch auf, wie glühend, wie zornig, wie brennend sein Ton ist. Wie er auch oft wahnsinnig sarkastisch argumentiert, also wie er zum Beispiel die "Bild"-Zeitung und die Macher von Boulevardzeitungen attackiert. Der hat sich kein Blatt vor den Mund genommen.
Das ist ein Ton, den wir uns heute abgewöhnt haben, und ich denke, vielleicht ist es auch ganz gut, dass wir uns den abgewöhnt haben, weil er kommt ja jetzt wieder auf eine andere Weise. Die Frage ist schon, ob man heute als Schriftsteller so in die Vollen greifen muss sprachlich, oder ob es nicht besser wäre, gelassen zu bleiben und durch Gelassenheit zu punkten. Da haben sich einfach die Zeiten geändert, deswegen kann man Böll eben nicht so gut in eine Zeitmaschine setzen und heute wieder aussteigen und sich einmischen lassen. Ich denke doch, oder das ist jedenfalls eine Sache, die ich von mir verlange, eher ruhiges Blut zu bewahren bei allen Einmischungen, gerade heute, wo alles so laut und polemisch geworden ist.
von Billerbeck: Sie haben die Boulevardmedien eben in so einem Nebensatz erwähnt. Der Sohn von Heinrich Böll, René, hat ja vor Kurzem noch mal schwere Vorwürfe erhoben und hat explizit die Springer-Presse kritisiert, die ja Böll wegen seiner Forderung nach einem differenzierten Umgang mit der RAF im Visier hatte. Und der Sohn hat gesagt, das hätte den 1985 mit nur 67 Jahren verstorbenen Schriftsteller Jahre seines Lebens gekostet. Die Familie sei massiv angefeindet worden, polizeilich überwacht. Dieses Klima der Angst, des Hasses von damals – sehen Sie da Parallelen, wenn wir wieder in die Zeitmaschine steigen und nach Heute reisen?
Menasse: Ich denke viel darüber nach, gerade im Hinblick auf Böll und auf seine Intervention damals in Sachen RAF, die Intervention, die ihm ja so zur Last gelegt worden ist, war ja 1972, Anfang '72, der "Spiegel"-Artikel "Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit?". Man muss ja immer von heute aus sagen, das war noch, bevor die RAF ihre schlimmsten Sachen, ihre Morde, ihre Entführungen begangen hatte. Damals gab es ein paar Kaufhausüberfälle, ja, es gab auch zwei tote Polizisten, aber es gab noch nicht diese totale Monstrosität der RAF-Taten. Er hat damals gesagt, die sind sechs, wir sind 60 Millionen, das war einer der Kernsätze. Aber er hat eben auch die "Bild"-Zeitung speziell, besonders und ganz polemisch dafür kritisiert, dass sie Hysterie schürt. Nun sind wir heute in einer Lage, wo wir mit Terrorismus sehr viel mehr Erfahrung leider gemacht haben als Deutschland damals.

"Was Böll passierte, ist beispiellos gewesen"

Dennoch ist merkwürdigerweise heute diese kollektive Hysterisierung, die man im Deutschen Herbst gesehen hat, nicht da, die findet nicht statt. Ich stelle mir viele Fragen, warum ist das so, und ist es nicht vielleicht so, dass die Hysterisierung eben an anderer Stelle stattfindet, nämlich politisch, durch dieses unglaubliche Erstarken der rechtsextremen Parteien jetzt selbst auch in Deutschland. Deutschland, wie wir wissen, das letzte Land, das sich das sozusagen leistet. Also irgendwas ist da anders, irgendwas ist da passiert. Ich glaube, dass sogar die kollektive Hysterisierung sich sozusagen auf diese vielen, vielen Kanäle verteilt, die uns heute zur Verfügung stehen.
Und da ist es fast – ich wollte jetzt das Gegenteil sagen –, es ist fast eine gute Nachricht. Es ist nicht so greifbar, die Leute drehen nicht durch, weil jemand versucht, die Stimme der Vernunft zu erheben. Was Böll passiert ist, ist ja beispiellos gewesen. Der hatte ja wirklich dann die Geheimpolizei, also die GSG 9 oder wer immer das damals war, die sein Haus sozusagen mal auf links gedreht haben, auf der Suche nach Terroristen, während er mit irgendeinem Schriftsteller Kaffee trinken wollte. Solche Sachen, also auch solche Übergriffe, solche staatspolizeilichen Übergriffe, kommen heute dann doch nicht vor.
von Billerbeck: Wenn Sie darüber nachdenken – Sie haben den Heinrich-Böll-Preis bekommen –, was haben Sie vom Schriftsteller und vom Bürger Böll gelernt?
Menasse: Ich finde, es hilft wirklich, Böll wieder zu lesen oder immer noch zu lesen, weil er sich eben den Mund nicht hat verbieten lassen. Und das kommt natürlich aus seiner wirklich physischen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Der hat gekämpft, er hat den Horror gesehen. Der hat das Grauen erlebt an der Front, und er wusste, so was darf nie wieder kommen. Wir sind ja ganz anders. Wir sind ja im Glück und im Wohlstand und im Nachkriegsaufbau groß geworden. Wir wissen gar nicht, was es zu verlieren gibt. Also auch diese eminente Art von Böll, sich nicht den Mund verbieten zu lassen, sondern immer zu sagen, man muss dann das Risiko auch eingehen.
Das kann dann auch unangenehm sein, den Mund aufzureißen, zu demonstrieren, Stellung zu beziehen. Das kann man von ihm lernen. Und abgesehen davon hat er ein paar Romane geschrieben, gerade sein vorletzter, die man heute fast prophetisch lesen kann. "Fürsorgliche Belagerung", sein Roman zum Deutschen Herbst dann, '78/'79 geschrieben, liest sich heute wie ein früher Internet-Roman. Was passiert, wenn alles über einen gewusst wird? Was kann dann mit diesen Informationen über das Privateste der Menschen gemacht werden?
von Billerbeck: Ein Literaturtipp also zum Schluss im Interview mit Eva Menasse am heutigen hundertsten Geburtstag von Heinrich Böll! Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Menasse: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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