Europas schwankendes Selbstbild
Die zum Teil verwirrten, zum Teil aggressiven, zum Teil beschwichtigenden Reaktionen europäischer Politiker und Vordenker auf die Krise im Kaukasus und den kurzen Krieg in Georgien zeichnen das Bild eines Kontinents, dem über Nacht sein Selbstbild abhanden gekommen ist. Europa ist irritiert, weil die hässliche Fratze eines geopolitisch motivierten Konfliktes in seiner unmittelbaren Nähe die Wohligkeit seiner weltpolitischen Nische weggeblasen hat.
Und anders als bei den Balkankriegen in den 90er Jahren ist Europa dies mal nicht nur an seinem Rand betroffen, sondern durch die Energieproblematik direkt und an empfindlicher Stelle.
Europa hatte sich gut eingerichtet in seiner Nische nach 1990. Die Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges machte über Jahrzehnte gebundene Mittel frei, Amerikas Sicherheitsgarantien sorgten für ruhigen Schlaf, und die europäische Integration in bester Zusammenarbeit mit der Globalisierung erzeugten Wohlstand auch dort, wo Europa arm und rückständig gewesen war.
Europa war so sehr damit beschäftigt, sein ingeniöses System der Kooperation und friedlichen Konfliktregulierung zu perfektionieren und zu vertiefen, dass es gar nicht bemerkte, wie der Rest der Welt Konflikte in großer Zahl gebar. Vom islamischen Fundamentalismus zum Terrorismus, von Völkermord in Afrika zu nuklearer Aufrüstung, von Failed States zu Energieabhängigkeiten.
Der schöne und träumenswerte Traum der "immer tieferen Einigung" Europas war "in Wirklich" eben auch der Traum vom immerwährenden Infriedengelassenwerden. Der Ausbruch des "frozen conflicts" im Kaukasus hat Europa stärker noch als der 11. September einen Spiegel vorgehalten, dessen Bild frei von Illusionen und Verschonungen ist. Wenn Europa sich traut, genau hinzuschauen, wird es einige unschöne Wahrheiten Dinge erblicken.
Erstens: Zwar hat Europa durch seine erstaunlich einige Reaktion auf die Georgienkrise gezeigt, dass es auch ohne den Lissabonner Vertrag handlungsfähig ist, wenn nur genügend politischer Wille aufgebracht wird. Aber wichtiger als dies ist die Erkenntnis, dass selbst dann, wenn Europa einig ist, es kaum etwas ausrichten kann. Wirtschaftlich fehlt Europa gegenüber Russland der kurzfristige Hebel, um Einfluss zu nehmen auf russische Außenpolitik.
Langfristig können die europäischen Hebel nur wirken, wenn die EU weiter Einigkeit zeigt, eine gemeinsame Energiepolitik konstruiert und seine Energiemärkte liberalisiert. Diplomatisch könnte es Russland zwar isolieren, aber dies ist eine stumpfe Waffe, die zudem den Nachteil hat, dass sie gegen ein Russland, dem sein eigenes internationales Image egal zu sein scheint, wenig Wirkung zeigt.
Zweitens: Europa befindet sich in einer eklatanten geopolitischen Doppelabhängigkeit von zwei Großmächten. Von Russland ist es bereits jetzt wesentlich für seine Energieversorgung abhängig, Tendenz steigend. Russland hat mehrfach zu erkennen gegeben, dass es bereit ist, diese Energiewaffe auch einzusetzen, wenn es sich davon Nutzen verspricht. Von Amerika ist Europa abhängig, weil es im Notfall seine eigene militärische Sicherheit nicht garantieren könnte, also noch immer von der amerikanischen Sicherheitsgarantie lebt.
Doch auch in Fragen der internationalen Sicherheit, also beim Anti-Terrorkampf in Afghanistan oder bei den Bemühungen gegen die nukleare Aufrüstung Irans kann Europa aus Mangel an eigener Kapazität immer nur die zweite Rolle hinter Amerika spielen, mit begrenztem Einfluss auf das amerikanische Vorgehen. Noch wehrt sich Europa mental gegen die bittere Erkenntnis, dass die Welt außerhalb Europas nicht sicherer, sondern unsicherer wird, und dass den Konflikten dort nicht immer nur mit europäischer Soft Power beizukommen ist.
Die altmodische Sicherheitspolitik ist auf die europäische Bühne zurückgekehrt, und Europa ist darauf weder mental noch materiell vorbereitet. Europa ist de facto ein demilitarisierter Kontinent, denn seine an sich recht umfangreichen Armeen sind nur zu einem geringen Teil einsatzbereit und hoffnungslos unterfinanziert.
Drittens: Die Anstrengungen, die Europa unternommen hat, um die es umgebende Welt mitzugestalten, haben nicht ausgereicht. Und andere Instrumente zur Gestaltung der Welt als Erweiterung, die vage Nachbarschaftspolitik und Handelsbeziehungen mag die EU sich nicht vorstellen. Von den Erweiterungsrunden erschöpft, von der Globalisierung verängstigt und von interner Nabelschau um Reformverträge abgelenkt, muss es erkennen, dass am eigenen Beispiel, also am europäischen Wesen nicht die Welt genesen wird. Ernüchtert stellt es fest, dass aus einer kriegerischen Vergangenheit kein Rechtsanspruch auf Friedlichkeit in der Welt entsteht. Und dass das Prinzip Europa, demzufolge alle etwas abgeben, und so am Ende alle als Sieger daraus hervorgehen, von Russland nicht akzeptiert wird, welches unbeirrt in archaischen Nullsummenkategorien denkt.
Die EU hat außenpolitisch fast zehn Jahre mit Nabelschau vergeudet weil ihrem Führungspersonal immer nur Reformverträge einfallen, wenn es darum geht, mehr Handlungsfähigkeit zu erzeugen. Doch neue Institutionen sind vergleichsweise nachrangig, wenn kein politischer Wille zum Handeln besteht.
Statt den Menschen vorzugaukeln, dass der Lissabonner Vertrag Europa zukunftsfähig macht, muss endlich mit größtmöglicher Offenheit über Bedrohungen, Interessen und europäische Schwächen gesprochen werden. Nur bei einer offenen, illusionsfreien Debatte über diese Grundelemente der Welt, die Europa umgibt, kann das generiert werden, was Europa am allermeisten fehlt: der politische Wille, gemeinsam die Zukunft zu gestalten, Wohlstand auszubauen und die eigene Sicherheit zu garantieren.
Der Politikwissenschaftler Jan Techau, geboren 1972, ist Leiter des Alfred von Oppenheim Zentrums für Europäische Zukunftsfragen in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Von 2001 bis 2006 arbeitete er im Bundesministerium der Verteidigung. Techau studierte Politikwissenschaft in Kiel und an der Pennsylvania State University.
Europa hatte sich gut eingerichtet in seiner Nische nach 1990. Die Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges machte über Jahrzehnte gebundene Mittel frei, Amerikas Sicherheitsgarantien sorgten für ruhigen Schlaf, und die europäische Integration in bester Zusammenarbeit mit der Globalisierung erzeugten Wohlstand auch dort, wo Europa arm und rückständig gewesen war.
Europa war so sehr damit beschäftigt, sein ingeniöses System der Kooperation und friedlichen Konfliktregulierung zu perfektionieren und zu vertiefen, dass es gar nicht bemerkte, wie der Rest der Welt Konflikte in großer Zahl gebar. Vom islamischen Fundamentalismus zum Terrorismus, von Völkermord in Afrika zu nuklearer Aufrüstung, von Failed States zu Energieabhängigkeiten.
Der schöne und träumenswerte Traum der "immer tieferen Einigung" Europas war "in Wirklich" eben auch der Traum vom immerwährenden Infriedengelassenwerden. Der Ausbruch des "frozen conflicts" im Kaukasus hat Europa stärker noch als der 11. September einen Spiegel vorgehalten, dessen Bild frei von Illusionen und Verschonungen ist. Wenn Europa sich traut, genau hinzuschauen, wird es einige unschöne Wahrheiten Dinge erblicken.
Erstens: Zwar hat Europa durch seine erstaunlich einige Reaktion auf die Georgienkrise gezeigt, dass es auch ohne den Lissabonner Vertrag handlungsfähig ist, wenn nur genügend politischer Wille aufgebracht wird. Aber wichtiger als dies ist die Erkenntnis, dass selbst dann, wenn Europa einig ist, es kaum etwas ausrichten kann. Wirtschaftlich fehlt Europa gegenüber Russland der kurzfristige Hebel, um Einfluss zu nehmen auf russische Außenpolitik.
Langfristig können die europäischen Hebel nur wirken, wenn die EU weiter Einigkeit zeigt, eine gemeinsame Energiepolitik konstruiert und seine Energiemärkte liberalisiert. Diplomatisch könnte es Russland zwar isolieren, aber dies ist eine stumpfe Waffe, die zudem den Nachteil hat, dass sie gegen ein Russland, dem sein eigenes internationales Image egal zu sein scheint, wenig Wirkung zeigt.
Zweitens: Europa befindet sich in einer eklatanten geopolitischen Doppelabhängigkeit von zwei Großmächten. Von Russland ist es bereits jetzt wesentlich für seine Energieversorgung abhängig, Tendenz steigend. Russland hat mehrfach zu erkennen gegeben, dass es bereit ist, diese Energiewaffe auch einzusetzen, wenn es sich davon Nutzen verspricht. Von Amerika ist Europa abhängig, weil es im Notfall seine eigene militärische Sicherheit nicht garantieren könnte, also noch immer von der amerikanischen Sicherheitsgarantie lebt.
Doch auch in Fragen der internationalen Sicherheit, also beim Anti-Terrorkampf in Afghanistan oder bei den Bemühungen gegen die nukleare Aufrüstung Irans kann Europa aus Mangel an eigener Kapazität immer nur die zweite Rolle hinter Amerika spielen, mit begrenztem Einfluss auf das amerikanische Vorgehen. Noch wehrt sich Europa mental gegen die bittere Erkenntnis, dass die Welt außerhalb Europas nicht sicherer, sondern unsicherer wird, und dass den Konflikten dort nicht immer nur mit europäischer Soft Power beizukommen ist.
Die altmodische Sicherheitspolitik ist auf die europäische Bühne zurückgekehrt, und Europa ist darauf weder mental noch materiell vorbereitet. Europa ist de facto ein demilitarisierter Kontinent, denn seine an sich recht umfangreichen Armeen sind nur zu einem geringen Teil einsatzbereit und hoffnungslos unterfinanziert.
Drittens: Die Anstrengungen, die Europa unternommen hat, um die es umgebende Welt mitzugestalten, haben nicht ausgereicht. Und andere Instrumente zur Gestaltung der Welt als Erweiterung, die vage Nachbarschaftspolitik und Handelsbeziehungen mag die EU sich nicht vorstellen. Von den Erweiterungsrunden erschöpft, von der Globalisierung verängstigt und von interner Nabelschau um Reformverträge abgelenkt, muss es erkennen, dass am eigenen Beispiel, also am europäischen Wesen nicht die Welt genesen wird. Ernüchtert stellt es fest, dass aus einer kriegerischen Vergangenheit kein Rechtsanspruch auf Friedlichkeit in der Welt entsteht. Und dass das Prinzip Europa, demzufolge alle etwas abgeben, und so am Ende alle als Sieger daraus hervorgehen, von Russland nicht akzeptiert wird, welches unbeirrt in archaischen Nullsummenkategorien denkt.
Die EU hat außenpolitisch fast zehn Jahre mit Nabelschau vergeudet weil ihrem Führungspersonal immer nur Reformverträge einfallen, wenn es darum geht, mehr Handlungsfähigkeit zu erzeugen. Doch neue Institutionen sind vergleichsweise nachrangig, wenn kein politischer Wille zum Handeln besteht.
Statt den Menschen vorzugaukeln, dass der Lissabonner Vertrag Europa zukunftsfähig macht, muss endlich mit größtmöglicher Offenheit über Bedrohungen, Interessen und europäische Schwächen gesprochen werden. Nur bei einer offenen, illusionsfreien Debatte über diese Grundelemente der Welt, die Europa umgibt, kann das generiert werden, was Europa am allermeisten fehlt: der politische Wille, gemeinsam die Zukunft zu gestalten, Wohlstand auszubauen und die eigene Sicherheit zu garantieren.
Der Politikwissenschaftler Jan Techau, geboren 1972, ist Leiter des Alfred von Oppenheim Zentrums für Europäische Zukunftsfragen in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Von 2001 bis 2006 arbeitete er im Bundesministerium der Verteidigung. Techau studierte Politikwissenschaft in Kiel und an der Pennsylvania State University.