Europas eigentliches Kernproblem
Zuerst die gute Nachricht: Nach dem Scheitern des irischen Referendums zum Lissabonner Vertrag scheint es den Staats- und Regierungschefs der EU ernst damit, das Projekt Europa mit einer gewissen Entschlusskraft voranzutreiben. Statt sich wie 2005 nach den ablehnenden Voten zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden einer zweijährigen Reflexionsphase - sprich der Tatenlosigkeit - hinzugeben, soll es nun gleich weitergehen.
Deutlich spürbar war Ende der vergangenen Woche der Wille in Brüssel, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Das Ergebnis lautet wie folgt: 1. Am Vertrag wird festgehalten, 2. Ohne Irland kann er nicht in Kraft treten und 3. Die irische Regierung muss deshalb einen Plan entwickeln, wie man den trotzigen Insulanern doch noch ein Ja zum Vertrag abringen kann. Letzteres muss dann allerdings sehr zügig geschehen, denn bereits im Mai 2009, bei den nächsten Wahlen zum Europaparlament, braucht man die neuen Regeln zu Sitzverteilung und Parlamentskompetenzen. Noch einmal nach den allgemein als unzulänglich eingestuften Regeln des derzeit geltenden Vertrags von Nizza abstimmen, das will niemand.
Man kann trefflich streiten über diesen Notplan. Für die einen ist er Plan angesichts des Reformbedarfs der EU, der Unmöglichkeit einer Neuverhandlung des Vertrages und der zum Teil beachtlichen Fortschritte, die er bringen würde, der einzig praktikable Weg. Der Vertrag muss gerettet werden, so die Devise. Für die anderen ist der Plan ein weiterer Beweis für die undemokratische Gesinnung der "Brüsseler Krake", die als einzige Antwort auf ihre Pläne immer nur ein Ja akzeptiert und auf Abweichler, vor allem kleine Länder, massiven Druck ausübt.
Doch ganz gleich, ob man dem Lager der europhilen Integrations-Befürworter anhängt, denen jede Abweichung vom Pfad der "ever closer union" ein Gräuel ist, oder ob man zu den Skeptikern gehört, denen Integration nicht so wichtig ist, und die sich auch weniger Europa vorstellen können – niemand hat derzeit Grund zur Fröhlichkeit. Denn das irische Referendum hat mit chirurgischer Präzision die beiden Kernprobleme Europas freigelegt. Und diese beiden Probleme sind letztlich für beide europäische Denkschulen bedrohlich.
Kern des EU-Problems ist, dass spätestens seit dem Vertrag von Maastricht im Jahre 1992 weder die politische Führung von oben noch die demokratische Partizipation von unten in der EU richtig funktionieren.
Zur politischen Führung gehören Vision und Vorstellungskraft, entschlossenes Handeln, langer Atem und öffentliches Einstehen für das Projekt Europa. Doch seit Maastricht vermögen es die wechselnden Konstellationen der Staats- und Regierungschefs nicht mehr, eine einheitliche Idee von Europa zu formulieren oder gar durchzusetzen. In fast allen Politikfeldern, von der Gemeinsamen Außenpolitik über die Währungsunion bis hin zur Agrar-, Energie-, und Nachbarschaftspolitik, herrscht trotz riesigen Handlungsbedarfs Stagnation und Hinhaltetaktik. Selbst der Binnenmarkt, Zugpferd und Kernstück Europas, ist nicht mehr sicher, wenn es einzelnen Regierungschefs darum geht, die heimische Industrie vor dem bösen Wettbewerb zu schützen.
Zugegeben, es ist viel, viel schwerer, mit 27 Einzelstaaten Politik zu machen als mit sechs, 12 oder 15 EU-Mitgliedern. Andererseits gibt es heute durch die Globalisierung von Wirtschaft und Sicherheit einen erheblich größeren Handlungsdruck, der politische Führung eigentlich erleichtern sollte. Zwar ist es unfair, die heutige Politikergeneration mit den legendären Gründervätern Adenauer, De Gaulle und Schumann zu vergleichen. Aber es waren die heutigen Staats- und Regierungschefs selbst, die im März 2007 mit der Erklärung zum 50. Geburtstag der EU diesen hohen Maßstab angelegt haben, als sie feierlich die Neubegründung der EU verkündeten. Doch im Vergleich mit den Helden der Gründerjahre schneiden unsere Staatslenker schwach ab. Nur halbherzig werben die meisten von ihnen in ihren Ländern für Europa, und der Verdacht liegt nah, dass ihnen auch selbst ein wenig der Glaube fehlt. Fakt bleibt, dass die Zahl derer, die aus Überzeugung, mit Nachdruck und mit Glaubwürdigkeit für Europa streiten, also politisch führen, heute geringer ist als noch vor 20 Jahren.
Doch auch am Gegenstück zu Führung, an echter Partizipation, mangelt es in Europa. Zwischen der indirekten Teilhabe des Bürgers an der EU-Politik durch seine Teilnahme an den nationalen Wahlen in seinem Heimatland einerseits und der nachträglichen Scheinpartizipation zur Absegnung von Verträgen in Referenden andererseits klafft eine gigantische Lücke. Der Unionsbürger spürt dies. Wenn er in seinem eigenen Land zur Wahl geht, dann hat er gerade noch das Gefühl, am Ergebnis des Urnengangs mitgewirkt zu haben. Wenn die von ihm gewählte Regierung dann aber in Brüssel in seinem Namen europäische Rechtsakte beschließt, dann verliert er dieses Gefühl der eigenen Relevanz fürs Ergebnis. Europa ist genau diese eine Ecke zu weit weg vom Bürger, als dass er sich wirklich beteiligt fühlte.
Auf beide Probleme, die Führungslosigkeit und die Partizipationslücke, hat auch der Vertrag von Lissabon keine Antworten. Oder anders ausgedrückt: Selbst wenn der Notfallplan von letzter Woche gelingt, ist die Zukunft Europas noch lange nicht gesichert. In einer Demokratie heißt das wie immer, dass am Ende der Bürger gefragt ist. Wer Europa will, in welcher Form auch immer, der muss Führung wollen und Partizipation einfordern. Europas Zukunft liegt nicht in Lissabon oder in Dublin. Sie liegt bei uns allen.
Jan Techau (geboren 1972) ist Leiter des Alfred von Oppenheim Zentrums für Europäische Zukunftsfragen in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Von 2001 bis 2006 arbeitete er im Bundesministerium der Verteidigung. Techau studierte Politikwissenschaft in Kiel und an der Pennsylvania State University.
Man kann trefflich streiten über diesen Notplan. Für die einen ist er Plan angesichts des Reformbedarfs der EU, der Unmöglichkeit einer Neuverhandlung des Vertrages und der zum Teil beachtlichen Fortschritte, die er bringen würde, der einzig praktikable Weg. Der Vertrag muss gerettet werden, so die Devise. Für die anderen ist der Plan ein weiterer Beweis für die undemokratische Gesinnung der "Brüsseler Krake", die als einzige Antwort auf ihre Pläne immer nur ein Ja akzeptiert und auf Abweichler, vor allem kleine Länder, massiven Druck ausübt.
Doch ganz gleich, ob man dem Lager der europhilen Integrations-Befürworter anhängt, denen jede Abweichung vom Pfad der "ever closer union" ein Gräuel ist, oder ob man zu den Skeptikern gehört, denen Integration nicht so wichtig ist, und die sich auch weniger Europa vorstellen können – niemand hat derzeit Grund zur Fröhlichkeit. Denn das irische Referendum hat mit chirurgischer Präzision die beiden Kernprobleme Europas freigelegt. Und diese beiden Probleme sind letztlich für beide europäische Denkschulen bedrohlich.
Kern des EU-Problems ist, dass spätestens seit dem Vertrag von Maastricht im Jahre 1992 weder die politische Führung von oben noch die demokratische Partizipation von unten in der EU richtig funktionieren.
Zur politischen Führung gehören Vision und Vorstellungskraft, entschlossenes Handeln, langer Atem und öffentliches Einstehen für das Projekt Europa. Doch seit Maastricht vermögen es die wechselnden Konstellationen der Staats- und Regierungschefs nicht mehr, eine einheitliche Idee von Europa zu formulieren oder gar durchzusetzen. In fast allen Politikfeldern, von der Gemeinsamen Außenpolitik über die Währungsunion bis hin zur Agrar-, Energie-, und Nachbarschaftspolitik, herrscht trotz riesigen Handlungsbedarfs Stagnation und Hinhaltetaktik. Selbst der Binnenmarkt, Zugpferd und Kernstück Europas, ist nicht mehr sicher, wenn es einzelnen Regierungschefs darum geht, die heimische Industrie vor dem bösen Wettbewerb zu schützen.
Zugegeben, es ist viel, viel schwerer, mit 27 Einzelstaaten Politik zu machen als mit sechs, 12 oder 15 EU-Mitgliedern. Andererseits gibt es heute durch die Globalisierung von Wirtschaft und Sicherheit einen erheblich größeren Handlungsdruck, der politische Führung eigentlich erleichtern sollte. Zwar ist es unfair, die heutige Politikergeneration mit den legendären Gründervätern Adenauer, De Gaulle und Schumann zu vergleichen. Aber es waren die heutigen Staats- und Regierungschefs selbst, die im März 2007 mit der Erklärung zum 50. Geburtstag der EU diesen hohen Maßstab angelegt haben, als sie feierlich die Neubegründung der EU verkündeten. Doch im Vergleich mit den Helden der Gründerjahre schneiden unsere Staatslenker schwach ab. Nur halbherzig werben die meisten von ihnen in ihren Ländern für Europa, und der Verdacht liegt nah, dass ihnen auch selbst ein wenig der Glaube fehlt. Fakt bleibt, dass die Zahl derer, die aus Überzeugung, mit Nachdruck und mit Glaubwürdigkeit für Europa streiten, also politisch führen, heute geringer ist als noch vor 20 Jahren.
Doch auch am Gegenstück zu Führung, an echter Partizipation, mangelt es in Europa. Zwischen der indirekten Teilhabe des Bürgers an der EU-Politik durch seine Teilnahme an den nationalen Wahlen in seinem Heimatland einerseits und der nachträglichen Scheinpartizipation zur Absegnung von Verträgen in Referenden andererseits klafft eine gigantische Lücke. Der Unionsbürger spürt dies. Wenn er in seinem eigenen Land zur Wahl geht, dann hat er gerade noch das Gefühl, am Ergebnis des Urnengangs mitgewirkt zu haben. Wenn die von ihm gewählte Regierung dann aber in Brüssel in seinem Namen europäische Rechtsakte beschließt, dann verliert er dieses Gefühl der eigenen Relevanz fürs Ergebnis. Europa ist genau diese eine Ecke zu weit weg vom Bürger, als dass er sich wirklich beteiligt fühlte.
Auf beide Probleme, die Führungslosigkeit und die Partizipationslücke, hat auch der Vertrag von Lissabon keine Antworten. Oder anders ausgedrückt: Selbst wenn der Notfallplan von letzter Woche gelingt, ist die Zukunft Europas noch lange nicht gesichert. In einer Demokratie heißt das wie immer, dass am Ende der Bürger gefragt ist. Wer Europa will, in welcher Form auch immer, der muss Führung wollen und Partizipation einfordern. Europas Zukunft liegt nicht in Lissabon oder in Dublin. Sie liegt bei uns allen.
Jan Techau (geboren 1972) ist Leiter des Alfred von Oppenheim Zentrums für Europäische Zukunftsfragen in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Von 2001 bis 2006 arbeitete er im Bundesministerium der Verteidigung. Techau studierte Politikwissenschaft in Kiel und an der Pennsylvania State University.