Europapolitiker Schulz: "immense Verantwortung" Deutschlands für EU-Verfassung
Martin Schulz, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, sieht in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ab Anfang 2007 einen entscheidenden Impuls für die Wiederbelebung des EU-Verfassungsprozesses. Die Verantwortung und Verpflichtung Deutschlands seien immens, betonte der SPD-Politiker.
Christopher Ricke: Die finnische Ratspräsidentschaft will sich ausdrücklich nicht vordrängeln. Der finnische Außenminister sagt Sachen wie "realistischerweise kann es keinen Fortschritt bei der EU-Verfassung vor 2007 geben". Wie groß sind also die Verantwortungen und die Verpflichtungen bei der deutschen Ratspräsidentschaft?
Schulz: Also die Verantwortung und Verpflichtung ist sicherlich immens, denn wenn unter der deutschen Ratspräsidentschaft keine wesentlichen Fortschritte erzielt werden, dann wird es für diese Verfassung und den Text doch relativ schwierig. Die Bundesrepublik Deutschland ist das größte Mitgliedsland. Sie ist zum Zweiten das Land, aus dem der Verfassungsprozess am stärksten nach dem Abschluss des Nizza-Vertrages, den alle ja für unzureichend hielten, am stärksten vorangetrieben ist.
Und zum Dritten: Die große Koalition in Berlin wird getragen von den beiden europäischen Parteien, SPD und CDU, die in ihren Parteifamilien in Europa die jeweils größten Parteien sind, also auch einen starken Einfluss ausüben können. Das Hindernis ist: Von Januar bis Mai nächsten Jahres, also im größten Teil der deutschen Ratspräsidentschaft, läuft in Frankreich der Präsidentschaftswahlkampf, und bekanntermaßen ist das sicherlich für das Fortkommen der Verfassung ein Hindernis.
Ricke: Genau darauf hat man ja in diesem Merkel-Chirac-Fahrplan auch Rücksicht genommen. Denn erst unter der französischen Führung sollen dann in der zweiten Hälfte 2008 Entscheidungen fallen. Ist das nicht ein bisschen ein Hinauszögern, ein immer weiter Verschieben?
Schulz: Ganz ohne Zweifel wird bei der ganzen Verfassungsdebatte im Moment von allen Beteiligten, von Befürwortern der Verfassung, zu denen ich zum Beispiel gehöre, wie von den Gegnern der Verfassung, auf Zeit gespielt. Das muss man einfach nüchtern so nennen. Von denjenigen, die die Verfassung befürworten, deshalb, weil sie möglichst viele noch im Ratifzierungsverfahren gewinnen wollen, die Verfassung zu bejahen. Und von denen, die dagegen sind, weil sie glauben, je länger das dauert, desto geringer sind die Chancen. Also da gibt es schon ein bisschen Taktik hinter dem, was da abläuft. Aber Fakt ist natürlich: Wenn wir unter französischer Ratspräsidentschaft 2008 zu einem Ergebnis kämen, dann hätte das den Vorteil, dass wir bei der nächsten Europawahl 2009 die Verfassung hätten. Also von daher würde ich nicht so skeptisch sein, sondern sagen: Alles, was den Prozess im Gang hält, ist positiv.
Ricke: Diesen Prozess in Gang halten will Österreich, und aus Österreich kommt eine Idee, die bei all denen, bei denen das Thema Europa unbeliebt ist, durchaus zu einem Schmunzeln führen kann. Denn wir wissen ja, auch in Deutschland wäre die Verfassung gescheitert, wenn es ein Referendum gegeben hätte, und der amtierende Ratspräsident, Österreichs Bundeskanzler Schlüssel, sagt nun, eine gemeinsame Volksabstimmung in allen Mitgliedstaaten wäre doch was. Ist das ein hilfreicher Vorstoß oder ist da sozusagen ein U-Boot …: Damit lassen wir es endgültig scheitern?
Schulz: Das glaube ich nicht. Letzteres halte ich für so gut wie ausgeschlossen. Ich interpretiere es in eine andere Richtung. Die Vorgehensweise, doppelte Mehrheit, also Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Europas und Mehrheit der Staaten und auch europaweites Referendum am gleichen Tag, das sind Ideen, die der Verfassungskonvent, also die Institution, die die Verfassung entworfen hat, ja schon einmal intensiv diskutiert hat. Da gab es damals keine Mehrheit für, aber dennoch ist der Gedanke schon öfter diskutiert worden.
Die Tatsache, dass ein amtierender Ratspräsident wie Herr Schüssel aber erklärt, ich will diese Verfassung und denke darüber nach, wie man sie in Kraft setzen kann, das werte ich als ein positives Zeichen, denn Sie haben damit folgende Situation: Die amtierende Ratspräsidentschaft Österreich bekennt sich öffentlich zu dieser Verfassung und der Notwendigkeit. Herr Vanhanen, den Sie eben zitiert haben, der nächste Ratspräsident aus Finnland, will während seiner Ratspräsidentschaft im Parlament in Helsinki die Verfassung ratifizieren. Und danach kommt die deutsche Ratspräsidentschaft, über die wir eben gesprochen haben. Das heißt, wir haben jetzt doch anderthalb Jahre vor uns von Ratspräsidentschaften, die diese Verfassung wollen, und das ist eigentlich ein positives Zeichen. Ich bin im Übrigen nicht Ihrer Meinung, dass bei einem Referendum in Deutschland die Verfassung gescheitert wäre. Das ist so hypothetisch wie mein Satz, sie wäre angenommen worden.
Ricke: Herr Schulz, wir brauchen bald eine Lösung. Anderthalb Jahre sind in einem politischen Prozess eine Zeit, die man überschauen kann, denn die Entscheidungsstrukturen der 25 sind ja viel zu kompliziert. Aber was tun wir denn, wenn wir in den nächsten 18 Monaten, in den nächsten 24 Monaten das Problem nicht lösen? Dann sind wir 27 in der EU und haben immer noch diese Strukturen, wir haben das Veto, wir haben die Blockademöglichkeiten. Was ist da?
Schulz: Dann ist die EU in einer ganz, ganz schwierigen Situation, weil sie sich so weit ausgedehnt hat, dass sie zur Handlungsunfähigkeit verkommt. Wir haben einen Vertrag, eine vertragliche Grundlage, der Vertrag von Nizza, von dem alle, als sie ihn verabschiedet haben, wussten, der reicht nicht mal für die 15er-Union. Das war ja auch der Grund, warum man nach Nizza gesagt hat, wir brauchen jetzt eine Verfassung, wenn zehn neue Staaten dazukommen. Jetzt sind die dazugekommen, jetzt sind wir 25, Sie sagten es eben, bald kommen zwei, Rumänien und Bulgarien, dazu, dann sind wir 27, haben die Verfassung immer noch nicht und arbeiten mit einem Vertrag, der sichtlich nicht geeignet ist und nicht geeignet war für 15.
Und Sie haben die Probleme benannt, Einstimmigkeit, wobei nicht nur die Einstimmigkeit ein Problem ist, auch die Mehrheitsentscheidungen, aber vor allen Dingen die Elefantenstrukturen. Ich gebe Ihnen ein kleines Beispiel: Vor ein paar Tagen hat der informelle Rat der Arbeits- und Sozialminister in Graz getagt zum Thema Dienstleistungsrichtlinie, eines der umstrittensten Projekte in Europa, hatte jeder Minister, auch der deutsche, drei Minuten Redezeit, zu einem Projekt, das Millionen Menschen betrifft. Also die EU wird an ihrer Stagnation ersticken, wenn wir nicht eine Optimierung der Arbeitsstrukturen bekommen. Deshalb ist diese Verfassung unerlässlich. Die ökonomischen Risiken und sozialen Risiken, die sich aus so einer Stagnation ergeben, die darf man nicht verschweigen.
Ricke: Vielen Dank für das Gespräch.
Schulz: Also die Verantwortung und Verpflichtung ist sicherlich immens, denn wenn unter der deutschen Ratspräsidentschaft keine wesentlichen Fortschritte erzielt werden, dann wird es für diese Verfassung und den Text doch relativ schwierig. Die Bundesrepublik Deutschland ist das größte Mitgliedsland. Sie ist zum Zweiten das Land, aus dem der Verfassungsprozess am stärksten nach dem Abschluss des Nizza-Vertrages, den alle ja für unzureichend hielten, am stärksten vorangetrieben ist.
Und zum Dritten: Die große Koalition in Berlin wird getragen von den beiden europäischen Parteien, SPD und CDU, die in ihren Parteifamilien in Europa die jeweils größten Parteien sind, also auch einen starken Einfluss ausüben können. Das Hindernis ist: Von Januar bis Mai nächsten Jahres, also im größten Teil der deutschen Ratspräsidentschaft, läuft in Frankreich der Präsidentschaftswahlkampf, und bekanntermaßen ist das sicherlich für das Fortkommen der Verfassung ein Hindernis.
Ricke: Genau darauf hat man ja in diesem Merkel-Chirac-Fahrplan auch Rücksicht genommen. Denn erst unter der französischen Führung sollen dann in der zweiten Hälfte 2008 Entscheidungen fallen. Ist das nicht ein bisschen ein Hinauszögern, ein immer weiter Verschieben?
Schulz: Ganz ohne Zweifel wird bei der ganzen Verfassungsdebatte im Moment von allen Beteiligten, von Befürwortern der Verfassung, zu denen ich zum Beispiel gehöre, wie von den Gegnern der Verfassung, auf Zeit gespielt. Das muss man einfach nüchtern so nennen. Von denjenigen, die die Verfassung befürworten, deshalb, weil sie möglichst viele noch im Ratifzierungsverfahren gewinnen wollen, die Verfassung zu bejahen. Und von denen, die dagegen sind, weil sie glauben, je länger das dauert, desto geringer sind die Chancen. Also da gibt es schon ein bisschen Taktik hinter dem, was da abläuft. Aber Fakt ist natürlich: Wenn wir unter französischer Ratspräsidentschaft 2008 zu einem Ergebnis kämen, dann hätte das den Vorteil, dass wir bei der nächsten Europawahl 2009 die Verfassung hätten. Also von daher würde ich nicht so skeptisch sein, sondern sagen: Alles, was den Prozess im Gang hält, ist positiv.
Ricke: Diesen Prozess in Gang halten will Österreich, und aus Österreich kommt eine Idee, die bei all denen, bei denen das Thema Europa unbeliebt ist, durchaus zu einem Schmunzeln führen kann. Denn wir wissen ja, auch in Deutschland wäre die Verfassung gescheitert, wenn es ein Referendum gegeben hätte, und der amtierende Ratspräsident, Österreichs Bundeskanzler Schlüssel, sagt nun, eine gemeinsame Volksabstimmung in allen Mitgliedstaaten wäre doch was. Ist das ein hilfreicher Vorstoß oder ist da sozusagen ein U-Boot …: Damit lassen wir es endgültig scheitern?
Schulz: Das glaube ich nicht. Letzteres halte ich für so gut wie ausgeschlossen. Ich interpretiere es in eine andere Richtung. Die Vorgehensweise, doppelte Mehrheit, also Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Europas und Mehrheit der Staaten und auch europaweites Referendum am gleichen Tag, das sind Ideen, die der Verfassungskonvent, also die Institution, die die Verfassung entworfen hat, ja schon einmal intensiv diskutiert hat. Da gab es damals keine Mehrheit für, aber dennoch ist der Gedanke schon öfter diskutiert worden.
Die Tatsache, dass ein amtierender Ratspräsident wie Herr Schüssel aber erklärt, ich will diese Verfassung und denke darüber nach, wie man sie in Kraft setzen kann, das werte ich als ein positives Zeichen, denn Sie haben damit folgende Situation: Die amtierende Ratspräsidentschaft Österreich bekennt sich öffentlich zu dieser Verfassung und der Notwendigkeit. Herr Vanhanen, den Sie eben zitiert haben, der nächste Ratspräsident aus Finnland, will während seiner Ratspräsidentschaft im Parlament in Helsinki die Verfassung ratifizieren. Und danach kommt die deutsche Ratspräsidentschaft, über die wir eben gesprochen haben. Das heißt, wir haben jetzt doch anderthalb Jahre vor uns von Ratspräsidentschaften, die diese Verfassung wollen, und das ist eigentlich ein positives Zeichen. Ich bin im Übrigen nicht Ihrer Meinung, dass bei einem Referendum in Deutschland die Verfassung gescheitert wäre. Das ist so hypothetisch wie mein Satz, sie wäre angenommen worden.
Ricke: Herr Schulz, wir brauchen bald eine Lösung. Anderthalb Jahre sind in einem politischen Prozess eine Zeit, die man überschauen kann, denn die Entscheidungsstrukturen der 25 sind ja viel zu kompliziert. Aber was tun wir denn, wenn wir in den nächsten 18 Monaten, in den nächsten 24 Monaten das Problem nicht lösen? Dann sind wir 27 in der EU und haben immer noch diese Strukturen, wir haben das Veto, wir haben die Blockademöglichkeiten. Was ist da?
Schulz: Dann ist die EU in einer ganz, ganz schwierigen Situation, weil sie sich so weit ausgedehnt hat, dass sie zur Handlungsunfähigkeit verkommt. Wir haben einen Vertrag, eine vertragliche Grundlage, der Vertrag von Nizza, von dem alle, als sie ihn verabschiedet haben, wussten, der reicht nicht mal für die 15er-Union. Das war ja auch der Grund, warum man nach Nizza gesagt hat, wir brauchen jetzt eine Verfassung, wenn zehn neue Staaten dazukommen. Jetzt sind die dazugekommen, jetzt sind wir 25, Sie sagten es eben, bald kommen zwei, Rumänien und Bulgarien, dazu, dann sind wir 27, haben die Verfassung immer noch nicht und arbeiten mit einem Vertrag, der sichtlich nicht geeignet ist und nicht geeignet war für 15.
Und Sie haben die Probleme benannt, Einstimmigkeit, wobei nicht nur die Einstimmigkeit ein Problem ist, auch die Mehrheitsentscheidungen, aber vor allen Dingen die Elefantenstrukturen. Ich gebe Ihnen ein kleines Beispiel: Vor ein paar Tagen hat der informelle Rat der Arbeits- und Sozialminister in Graz getagt zum Thema Dienstleistungsrichtlinie, eines der umstrittensten Projekte in Europa, hatte jeder Minister, auch der deutsche, drei Minuten Redezeit, zu einem Projekt, das Millionen Menschen betrifft. Also die EU wird an ihrer Stagnation ersticken, wenn wir nicht eine Optimierung der Arbeitsstrukturen bekommen. Deshalb ist diese Verfassung unerlässlich. Die ökonomischen Risiken und sozialen Risiken, die sich aus so einer Stagnation ergeben, die darf man nicht verschweigen.
Ricke: Vielen Dank für das Gespräch.