Was Philosophen über Europas Zustand denken

Von Alexander Pschera · 25.09.2015
Die Europäische Union steckt in tiefen Schwierigkeiten, das haben auch Philosophen erkannt. Viele suchen nach Lösungen aus der Krise. Manche prophezeien gar den Untergang. Einig sind sie sich aber nicht.
Europäische Philosophen denken oft in Kategorien des Untergangs. Zumindest seit Friedrich Nietzsche. Sie tun das nicht etwa aus reiner Zerstörungswut, sondern weil sie glauben, eine neue, bessere Ordnung könne nur aus einem Kollaps des Bestehenden hervorgehen. Griechisches Finanzchaos, Migrationskatastrophe, Brüsseler Konzeptlosigkeit - man muss kein Philosoph sein, um zu erkennen, dass das real existierende Europa vom Zusammenbruch bedroht ist. Die Fassade steht noch, dahinter aber bröselt die Mauer. Der Blick des Philosophen dringt jedoch noch tiefer. Er richtet sich auf die Idee Europas, der sich die Institutionen verdanken. Und hier zeigt sich das wahre Ausmaß der Tragödie: Denn diese Idee Europas ist es, die dem Untergang geweiht scheint.
Der Italiener Giorgio Agamben kritisiert Europa als einen rein ökonomischen Zweckverein, der durch den globalen Kapitalismus ideell ausgehöhlt sei. Der Westen befinde sich in einer epochalen Umbruchsituation. Die Zukunft Europas liege, so Agamben, in seiner Vergangenheit - in einer Wiederentdeckung des mönchischen, zweckfreien Lebens auf politischer Ebene: "Suche nicht den Kampf, sondern finde den Ausweg" empfiehlt er seinen müden Zeitgenossen. Konkret heißt das, das faustische Ringen um Produktivitätssteigerung zugunsten von "Flucht und Rückzug", von Muse und Kult aufzugeben und Lebensformen der Geschäftslosigkeit zu entwickeln. Entschleunigung auf höchster metaphysischer Ebene, also.
Muss sich Europa seines künstlerischen Erbes besinnen?
Ähnlich denkt der Franzose Alain Finkielkraut. Auch er sucht das Heil Europas in der Welt von gestern. Seine Vorschläge indes sind konkreter. Finkielkrauts Kritik am Staatenverbund ist identitär. Er sieht die Bürger der europäischen Nationen als Gefangene einer politischen Struktur, die sie nicht mehr beherrschen. Die Preisgabe nationaler Identitäten würde, so der jüdische Philosoph, das europäische Selbstverständnis zerstören. Denn Identität sei immer nur sprachlich und historisch, also national, begründbar: "Es gibt keine post-nationale Demokratie", sagt er, und: "Wir werden nicht als Weltbürger geboren". Um zu überleben, müsse sich Europa seines nationalen künstlerischen Erbes besinnen: französische Literatur, deutsche Philosophie und Musik - darin liege die Rettung: "All das, was die Nationen Europas in ihrem Wetteifer errichtet haben, der nicht nur mörderisch war".
Hier widerspricht der deutsche Philosoph Peter Trawny. Er hat gerade mit "Technik.Kapital.Medium" ein gutes Buch über den destruktiven Universalismus der kapitalistischen Weltordnung vorgelegt. Für Trawny ist nicht nur Europa, sondern die ganze Geschichte am Ende. Sein Argument: Geschichte wird von Revolutionen vorangetrieben, diese aber sind in einem vom Kapitalismus disziplinierten Raum unmöglich. Dieser ökonomisch-technische Universalismus hat das Erbe Europas ausgelöscht. Die Folge: Europa muss seine nationale Identitätsfixierung aufgeben und sich nach dem Vorbild der USA zu einem politischen Großraum zusammenschließen, in dem es dann auch Sinn machen würde, dass Deutsche für Griechen arbeiten.
Droht nach innen der totale Polizeistaat?
Während westliche Geister in die Vergangenheit reisen oder ihre politische Theorie der Geschichte anpassen, ertönen aus dem tiefen Osten ganz andere Stimmen. Zum Beispiel die des russischen Denkers Eduard Limonov, der sich früher mit seiner Nationalbolschewistischen Partei NBP auch in die Politik einmischte. Kürzlich sprach er in der Zeitung Izvestia davon, dass der Prozess der Selbstauflösung des Westens unwiderruflich geworden sei. Europa stehe am Scheideweg: "Entweder werden Migranten Europa anthropologisch verändern, oder Europa wird sich hinter einer Mauer mit Stacheldraht und Maschinengewehren verstecken. Tertium non datur". Nach innen drohe der totale Polizeistaat: "Entweder regiert in Europa der militante Faschismus, oder es wird sich bis zur Unkenntlichkeit transformieren".
Ein solches Entweder-Oder wäre tatsächlich das Ende der europäischen Geschichte. Aber es wäre zugleich auch das Ende der Philosophie, die ja erst in der dialektischen Synthese Erkenntnis erzeugt. Zu viele Sorgen sollten wir uns angesichts solcher grüblerischer Prognosen also vielleicht doch nicht machen.
Alexander Pschera, geboren in Heidelberg, Studium und Promotion der Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen in Hörfunk, Zeitungen und Zeitschriften, Buchautor bei Matthes & Seitz, lebt als Autor, Publizist und Kommunikationsberater in der Nähe von München.

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