Europäische Identität

Nur eine Wirtschaftsgemeinschaft

Flaggen der Europäischen Union vor dem Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel, Belgien (14.5.2012)
Flaggen der Europäischen Union vor dem Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel © picture alliance / dpa / CTK Photo / Vit Simanek
Egon Flaig im Gespräch mit Nana Brink · 28.04.2014
Ein Zusammenwachsen der Länder Europas und eine gemeinsame europäische Identität sei im Grunde unmöglich, glaubt der Althistoriker Egon Flaig. Schuld daran sei die Grundkonstruktion als Wirtschaftsgemeinschaft.
Nana Brink: Überall hängen schon die Plakate für die Europawahl am 25. Mai, und ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber auf vielen Plakaten wird schon geradezu gebetsmühlenartig dafür geworben, dass wir uns für ein gemeinsames Europa bemühen müssen. Als ob das nicht die Idee von Europa gewesen wäre – aber anscheinend glaubt keiner mehr so recht an diese Idee. Egon Flaig ist Professor für alte Geschichte an der Universität Rostock und hat erhebliche Zweifel an dieser Idee von Europa, die sich Europäische Union nennt. Schönen guten Morgen, Herr Flaig!
Egon Flaig: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Europa den Europäern unterzujubeln, ist gescheitert – so steht es in Ihrem neuen Buch über Europa. Was ist denn da gescheitert?
Flaig: Nun, gescheitert ist, das Projekt Europa auf den Weg zu bringen über das Medium einer Wirtschaftsgemeinschaft, also das Projekt, zu glauben, dass Europa entstehen könne dadurch, dass Wirtschaftssubjekte zusammenwachsen, und das tun sie nicht.
Brink: Ist das der Geburtsfehler? Denn eigentlich war die Idee doch mal eine Gemeinsamkeit. Sie ist sicherlich wirtschaftlich begründet gewesen, weil man versucht hat einmal in diesem Europa wirtschaftlich zu handeln nach dem Zweiten Weltkrieg. War das so ein Fehler?
Länder sehen sich als Konkurrenten
Flaig: Das muss kein Fehler gewesen sein, nur das hat eben nichts zu tun mit einem gemeinsamen Europa. Es war eine Wirtschaftsgemeinschaft. Und eine Wirtschaftsgemeinschaft disponiert die Menschen dazu, sich nicht als Bürger zu fühlen, sondern als Wirtschaftssubjekte, als Homines oeconomici – und das sind Konkurrenten.
Brink: War wäre dann Ihre Idee gewesen? Wie hätte man dies vermeiden oder vielleicht auch in der Zukunft verändern müssen?
Flaig: Man hätte ein Europa einen Gründungsprozess geben müssen auf dem Weg der Gründung der Vereinigten Staaten von Europa. Das hätte bedeutet im Klartext, ich sage es ganz scharf: Wenn die europäischen Nationen willentlich und feierlich ihre Souveränität abgeben und eine gemeinsame europäische Nation werden wollen, dann brauch es dazu bestimmte institutionalisierte Handlungen, also Volksentscheide, in denen über eine gemeinsame europäische Verfassung abgestimmt wird. Das heißt in der Tat, die Nationen hören auf, Nationen zu sein, und sie bilden eine gemeinsame europäische Nation.
Brink: Also so was ungefähr, damit wir uns eine Vorstellung machen können, wie die Vereinigten Staaten von Amerika?
Flaig: Genau das!
Brink: Nun ist dies ja nicht passiert, und wir sind ja jetzt auch in einer ökonomischen, also einer Wirtschaftskrise, die für Sie dann folgerichtig ist, auch die Entwicklung nationaler Antipathien, die wir jetzt ja sehen?
Flaig: Ja. Weil kein politisches System es auf die Dauer verträgt, dass die jetzige Generation auf Pump lebt und die Kosten auf die nächste Generation abwälzt. In gewisser Weise sind die Hilfen für Griechenland die logische Folge einer falsch konstruierten Europäischen Union. Um es deutlicher zu machen, eine Wirtschaftsgemeinschaft kann nie eine politische Gemeinschaft werden, weil es eben keine Gemeinschaft von Bürgern ist, sondern eine Gesellschaft von Wirtschaftssubjekten, die Konkurrenten bleiben. Man könnte den Gedanken noch weiter spinnen und sagen, eine Wirtschaftsgemeinschaft funktioniert, solange kräftig verteilt wird nach allen Seiten. Aber wenn es nichts mehr zu verteilen gibt, dann beginnen Missgunst und Neid und schließlich auch der nationale Hass. Und der nationale Hass ist jetzt wiedergekehrt, einfach weil die Union eine Verteilungsanstalt ist und das auch von Anfang an war. Meines Erachtens hilft nur eine radikale Neugründung Europas als politische Gemeinschaft.
Brink: Dann ist für Sie so etwas wie die Europawahl am 25. Mai eigentlich völlig überflüssig?
"Es ist keine Europawahl"
Flaig: Völlig überflüssig muss sie nicht sein. Nur, es ist keine Europawahl, und es ist keine Wahl zu einem Europaparlament. Ein solches Europaparlament gibt es nicht.
Brink: Na, es gibt es doch – wir wählen es ja!
Flaig: Es ist ein sogenanntes Europaparlament, aber es ist einfach keine demokratische Institution. Es erfüllt nicht die Bedingungen eines demokratischen Parlamentes. Zunächst einmal ist festzustellen, dass das sogenannte Europaparlament sich von innen entlegitimiert durch die schleichende Entparlamentarisierung, der viele Parlamente unterworfen sind in Europa.
Brink: Was bedeutet das? Können Sie das noch ein bisschen erklären?
Flaig: Das bedeutet, dass in den Parlamenten keine Deliberation mehr stattfindet, weil der Fraktionszwang und die Ausverlagerung der Entscheidungen in die Ausschüsse des Parlaments langsam, aber nachhaltig in eine Zustimmungsmaschine verwandeln. Ich geb ein Beispiel: Von 2004 bis 2009 sind 72 Prozent aller Gesetzesentwürfe sofort angenommen worden in der ersten Lesung. Das ist eine Akklamationsmaschine. Und mit einer solchen Maschine geht kein Spaziergang Richtung demokratisches Europa. Der zweite Punkt ist, die Demokratie verlangt ein gleiches Stimmrecht. Und wenn eine Stimme die Stimme eines Bürgers von Malta dreizehnmal so viel zählt wie das Stimmrecht eines deutschen Bürgers, dann haben wir eine politische Ungleichheit. Gegenüber der ist das preußische Dreiklassenwahlrecht geradezu fortschrittlich.
Brink: Nun ist das ja von allen so verabschiedet worden. Wie, denken Sie denn, oder wie besteht denn die Chance, dass das in Ihrem Sinne geändert werden könnte? Darauf haben sich ja erst mal alle verständigt.
Bis heute keine europäische Verfassung
Flaig: Ich weiß nicht, was Sie mit "alle" meinen. Wenn eine eurokratische Klasse sich darauf verständigt hat, und sich inzwischen angepasst hat an das Funktionieren, dann kann man dafür Verständnis aufbringen. Nur – das sind nicht "alle". Hätte man alle gefragt, hätte man Volksentscheide darüber veranstalten müssen. Das wurde ja nicht gemacht. Das Wort "alle" müssen wir spezifizieren. Wir haben keine Verfassung, wir haben nur Verträge. Wir haben bis heute keine europäische Verfassung.
Brink: Nun müssten also Ihrer Meinung nach am Endpunkt dieser Entwicklung oder vielmehr am Anfang Volksentscheide in jedem europäischen Staat oder in jedem Mitglied der EU stehen?
Flaig: Ja.
Brink: Über was?
Flaig: Volksentscheide darüber, ob das betreffende Volk bereit ist, seine Souveränität abzugeben. Das muss man ganz hart und ganz scharf formulieren: Seid ihr bereit, eure Souveränität abzugeben und aufzugehen in einer gemeinsamen europäischen Nation? Es hilft nichts, an dieser Frage zu mogeln und zu hoffen, dass die Leute dann schleichend eines Tages über Nacht Europäer werden. Das funktioniert bei Wirtschaftssubjekten, das funktioniert niemals, wenn es um die Frage der politischen Identität geht.
Brink: Egon Flaig, Professor für alte Geschichte an der Universität Rostock! Schönen Dank für das Gespräch!
Flaig: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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