Europäische Identität

Europa braucht einen Gründungsmythos!

Hausruinen in der polnischen Hauptstadt Warschau im Jahre 1945.
Gründungsgeschichte Europas könnten die Trümmer von 1945 sein, aus denen die Idee der europäischen Einigung erwuchs. © dpa
Von Ofer Waldman |
Was hält Europa zusammen?, fragt der israelische Musiker und Publizist Ofer Waldman. Demokratie und Menschenrechte reichten nicht, denn das gibt es woanders auch, sagt er und plädiert für eine genuine europäische Erzählung nach dem Vorbild der jüdischen Haggada.
Wieso muss die deutsche Kanzlerin sich erst um eine europäische Lösung bemühen, um die deutsche Souveränität ausüben zu dürfen? Wieso tun sich die Deutschen – ja, alle Europäer – den lästigen europäischen Einigungszwang überhaupt an?
Etwa wegen gemeinsamer Werte wie Demokratie und Menschenrechte? Die teilt Deutschland auch mit Neuseeland und Kanada. Etwa um mit einer einheitlichen europäischen Stimme auf der globalen Arena zu sprechen? Mag sein. Solche realpolitischen Gedanken kamen aber erst viel später im europäischen Einigungsprozess auf. Schon vergessen?

Man braucht konstituierende Geschichten für eine Staatsidee

Wie schaffen es politische Gemeinwesen, sich ihres Ursprungs zu erinnern? In Frankreich etwa markiert der Satz "Liberté, Egalité, Fraternité" den Kern der republikanischen Geschichte. In den USA wurde mit dem Ausruf "I have a dream" die amerikanische Zivilgesellschaft geboren. Es sind Worte, Sätze, konstituierende Geschichten.
Die wohl älteste Geschichte, die es geschafft hat, ein Volk über Tausende von Jahren zusammenzuhalten, ist sicherlich die Haggada, die Erzählung vom Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. Die Haggada erzählt von dem Moment, als aus einer Gruppe von befreiten Sklaven ein Volk wurde.

Auch nicht-religiöse Juden reflektieren die Haggada

Die Details stehen bereits in der Bibel. Doch abweichend vom biblischen Text ist die Haggada als eine spannende Geschichte aufgebaut, die jedes Kind verstehen und zitieren kann, gespickt mit Liedern und Bräuchen. Die Besonderheit der Haggada als konstituierender politischer Text liegt in der Tatsache, dass sie jedes Jahr zum Pessach-Fest von allen Juden dieser Welt – religiös und säkular – im Kreise der Familie gelesen wird. Sie bedarf auch keines religiösen Glaubens, um wirksam zu sein.
Und der wohl wichtigste Satz in der Haggada ist dieser: "In jeder Generation muss jeder Mensch sich selber betrachten, als ob er selber aus Ägypten zog, und davon seinem Kinde erzählen. Und je häufiger man davon erzählt, desto besser."
Also nochmal: Welche Stunde ist die Geburtsstunde Europas? Die Antwort lautet schlicht: Mai 1945, als der Zweite Weltkrieg endete.
Mai 1945 ist der Moment, der alle Europäerinnen und Europäer vereinte, ob in London oder Berlin, Warschau oder Oradour-sur-Glane. Die rauchenden Trümmer europäischer Städte, die Bevölkerung, die vor allem in Zentral- und Osteuropa in fast jeder Familie Opfer zu beklagen hatte. Die europäische Judenheit, die fast ausgelöscht wurde. Dies war der Moment, von dem aus Europa den Weg zu sich selbst fand.

Europa braucht ein wiederkehrendes Element der Erinnerung

Doch die letzten, die noch in Trümmern lebten und verhungerte europäische Kinder begruben, sterben aus. Aus Erinnerung wird Geschichte, die in Vergessenheit gerät. Nationale Egoismen erwachen, Grenzen werden gezogen. Dem Einigungsprozess Europas, dem friedlichsten Projekt des blutigen 20. Jahrhunderts, droht ein kleinpolitisches Ende.
Allein diese Vergessenheit ist das politische Fundament der italienischen Lega, der Brexit-Irreführer, der FPÖ und AfD. Anstatt von Kompromissen, mit denen man leben muss, aber immerhin kann, phantasieren sie über nationale Reinheit, die schon einst in Gewalt und Vernichtung endete.
Es ist Zeit, eine Haggada von 1945 zu schreiben. In allen Sprachen Europas, mit Liedern und Bräuchen, die am 8. oder 9. Mai jedes Jahr in jeder europäischen Familie gelesen und gesungen werden.
Der wichtigste Satz in dieser europäischen Haggada wäre wohl dieser: "In jeder Generation muss jeder Mensch sich selber betrachten, als ob er selber vor den Ruinen Europas stand, und davon seinem Kind erzählen. Und je häufiger man davon erzählt, desto besser."

Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland spielte er als Hornist unter anderem beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. Neben einem Engagement an der Israelischen Oper absolvierte er ein Masterstudium in Deutschlandstudien an der Hebräischen Universität Jerusalem und promoviert in deutscher Literaturgeschichte.

Der Publizist und Musiker Ofer Waldmann
© Kai von Kotze