Europa vor der Wahl

"Die Politik missbraucht nationalistische Themen"

Die Flagge der Europäischen Union weht vor wolkenverhangenem Himmel.
Die Flagge der Europäischen Union weht vor wolkenverhangenem Himmel. © picture alliance / dpa / Soeren Stache
Moderation: Katrin Heise · 19.05.2014
Der slowakische Schriftsteller Michal Hvorecký denkt anlässlich der bevorstehenden Europawahl über die Zukunft des Kontinents nach - und erklärt, weshalb kulturelle Vielfalt zu Europa dazugehört.
Katrin Heise: Bestandsaufnahme Europa und Bestandsaufnahme der europäischen Idee, und nach der Bestandsaufnahme folgen dann ja vielleicht auch Veränderungsideen. Vielleicht. Wir lassen uns jetzt mal überraschen! Der Schriftsteller Michal Hvorecký ist 1976 in Bratislava geboren. Er hat sich die ihm bietende Reisemöglichkeiten doch sehr gut genutzt, diverse Stipendien führten ihn auch für längere Zeit nach Deutschland.
Vernetzung ist ihm wichtig, in seinen Romanen, da erfährt man viel über die Situation beispielsweise der Intellektuellen in der Slowakei, Hoffnung und Ringen um den Lebensunterhalt. Wie sieht Europa aus, wie könnte es aussehen? Ich konnte darüber kurz vor der Sendung mit ihm sprechen, ich grüße Sie!
Michal Hvorecký: Ich grüße Sie auch aus Bratislava. Dobrý deň!
Heise: Sie wurden kürzlich für die Europäische Schriftstellerkonferenz in Berlin gebeten, einen Blick in die Zukunft Europas zu werfen, zehn Jahre im Voraus, 2025. Das war von Ihnen ein absolut unromantischer Blick, allein die Wirtschaft, der Konsum hält Europa in zehn Jahren zusammen. War das eine reine Provokation oder tatsächlich Ihre Befürchtung?
Hvorecký: Das war eine Befürchtung. Ich habe da in Berlin erzählt, dass halt die Slowakei, die vor zehn Jahren wirklich ein Land der Optimisten war, inzwischen eher skeptisch Europa wahrnimmt. Es hat sich sehr geändert, leider ist Europa kein gutes Thema in meinem Land, es wird immer heftiger kritisiert. Und vor allem was gerade passiert und was bei der Europawahl droht, dass der Aufstieg der Rechtsextremisten in der Slowakei wirklich sogar den Weg nach Brüssel weiter führt. Und das verursacht bei mir Gänsehaut!
"Wir hatten einen Fast-Diktator an der Macht"
Heise: Fangen wir mal so ein bisschen von vorne an, Sie haben von den Hoffnungen gesprochen, die auf Europa gerichtet waren. Also, wenn wir mal so in Ihre Jugend schauen oder danach, junge Erwachsenenzeit, welche Hoffnung hatten Sie da und Ihre Generation, was Europa betraf?
Hvorecký: Da war die Hoffnung wirklich groß und es hat sich auch viel erfüllt. Also, viele Erwartungen ... Die Slowakei war ja jahrelang ein Außenseiter im Osten Europas, die 90er-Jahre waren für mein Land extrem schwierig, wir waren fast auf dem Weg Richtung Weißrussland oder Ukraine.
Die Wirtschaft war fast kaputt, wir hatten einen Fast-Diktator, Vladimír Mečiar, an der Macht. Also, Anfang 90er-Jahre nach der Trennung der Tschechoslowakei waren wir auf jeden Fall so der schwächere Bruder, der da halt wirklich so Neustart suchte. Und dann überraschenderweise, Ende der 90er-Jahre, 00er-Jahre waren sehr erfolgreich in der Slowakei.
Und dann kam der EU-Beitritt, NATO-Beitritt, auf einmal war die Slowakei mittendrin und die Reisefreiheit, Studenten auf einmal bei Erasmus, viele haben Jobs im Westen gesucht, vor allem viele Pflegekräfte aus der Slowakei, zum Beispiel in Österreich, aber auch in Deutschland. Inzwischen ist viel selbstverständlich geworden und die Leute wissen das nicht zu schätzen.
"Man hat vielleicht viel zu viel erwartet"
Heise: Sie sprechen von den Hoffnungen, die man sich gemacht hat auf Europa. In Ihren Romanen liest man sehr viel von ungestillten Konsumerwartungen. Ist das so ein Punkt, wo das Ganze umschlägt, die Europa-Erwartung sich in Konsumerwartung erschöpft hat und deswegen jetzt so darniederliegt?
Hvorecký: Ich glaube, vor allem hat man vielleicht viel zu viel erwartet. Und das hat sich nur teilweise erfüllt. Das war vielleicht auch ein Fehler der Politiker. Man muss sich das auch so vorstellen, die Slowakei ist zwar ein kleines Land, hat nur ein bisschen mehr als fünf Millionen Einwohner, ist aber ein Land, das sich drastisch geteilt hat, wirklich.
Es gibt den Westen des Landes, hoch entwickelt, ziemlich reich, wirklich viele wichtige wirtschaftliche Standorte. Und dann Osten und Südosten, sehr verarmte Regionen mit vielen Roma, es gibt da über eine halbe Million Roma. Es gibt hohe Arbeitslosigkeit, wenig Chancen. Das Land hat sich leider nicht gleich entwickelt und viele junge Menschen sind arbeitslos oder arbeiten lieber im Ausland und verdienen sehr schlecht.
Es gibt viele Berufe wie zum Beispiel Lehrer oder Krankenschwester, wo man wirklich bis heute über 500 Euro kaum verdient. In dem Sinne sieht man jetzt die Welt, man sieht halt, wie es anders besser geht, und man ist enttäuscht, dass bei uns doch auch wegen Korruption, die extrem war, sich wenig, viel zu wenig verbessert hat.
"Nationalismus war immer das große slowakische Problem"
Heise: Also ist der Grund, sich jetzt vielleicht innerlich von Europa abzuwenden, sogar dem stärkeren Nationalismus zuzuwenden, einfach enttäuschte Hoffnung?
Hvorecký: Kann man auch sagen. Nationalismus war ja immer das große slowakische Problem, auch schon während der Tschechoslowakei. Inzwischen hat sich das sehr radikalisiert, Brüssel wurde zum Feind. Und man merkt auch, dass bei der Europawahl es fehlt an wirklich konstruktiven Themen. Es wird eher der ewige Kampf, was ist besser, Richtung Moskau oder jetzt wieder Versklavung von Brüssel, spricht man immer wieder.
Es wird populistisch missbraucht und man versteht bei uns Europa nicht wirklich. Deswegen hatte die Slowakei halt die niedrigste Wahlbeteiligung bei der Europawahl. Erst 17 Prozent, letztes Mal 19 Prozent, und ich habe wirklich Zweifel, ob es diesmal besser wird.
Heise: Herr Hvorecky, würden Sie sich denn - im Rücken das alles, was Sie uns geschildert haben - als Proeuropäer nach wie vor bezeichnen?
Hvorecky: Auf jeden Fall! Ich bin ein stolzer Europäer so wie ich ein stolzer Bratislaver bin. Ich bin sehr stolz darauf, dass mein Land doch ein EU-Mitglied ist, und ich habe nicht vergessen, wie es vorher war. Und dieses Vierteljahrhundert seit der Wende ist eine Erfolgsgeschichte auch für die Slowakei in dem Sinne, jeden Tag, immer wenn ich halt Richtung Österreich fahre, diese Grenze, die wirklich an der Stadt Bratislava direkt liegt, also drei Kilometer von wo ich wohne, das war früher eine unbekannte, vergessene Welt. Und jetzt ist es wirklich zugänglich, jetzt wohnen sogar viele Slowaken an der österreichischen Seite. Also, bei mir ist Freude auf jeden Fall im Vordergrund!
"Wir sind dabei und wir machen mit!"
Heise: Was glauben Sie, was braucht es denn, um tatsächlich ein europäisches Bewusstsein jetzt in der Slowakei zu schaffen? Oder braucht es eine gesamteuropäische Öffentlichkeit? Das ist wahrscheinlich dann gleich viel zu hoch gegriffen!
Hvorecký: Vielleicht das auch, aber ich glaube, man soll vor allem den Menschen klar erklären, dass Europa etwas ist, wohin die Slowakei natürlicherweise gehört, und dass Brüssel auch von Slowaken ja kreiert wird, diese ganze europäische Politik, da machen Slowaken mit! Der Premierminister ist ja fast jede Woche da, viele Minister, wir haben den Vizepräsident der EU-Kommission, Maroš Šefčovič, ist ja auch unser Landsmann.
Also, das ist nicht etwas, was von außen kommt, sondern wir sind dabei und wir machen mit! Und die Leute haben immer noch das Gefühl, das ist eine fremde Welt, die uns irgendeine Regel, Verpflichtung geordnet hat und ... Nein, das sind wir auch! Und das haben die Leute nicht kapiert und ich habe Angst, es ist in vielen osteuropäischen Ländern ähnlich.
Heise: Sie haben eben gesagt, also, die Leute haben Angst und haben vieles nicht kapiert, und haben vorhin gesagt, die Politik hat es nicht geschafft. Welche Rolle können dann aber auch andere Bevölkerungsgruppen spielen? Greife ich mal die Künstler raus, die Literatur beispielsweise, die Ihnen am nächsten liegt!
"Das hat sich leider nicht so durchgesetzt"
Hvorecky: Ich hoffe sehr, dass eigentlich ... Die wirklich gemeinsame europäische Sprache ist die Übersetzung. Also, auch literarische Übersetzung, dass man sich austauscht, dass man sich informiert, dass es irgendwie unterschiedliche Projekte gibt, wo gemeinsam was gestaltet wird. Und es ist tatsächlich auch sehr viel los, in dem Sinne ist auch europäisches Kulturleben in der Slowakei schon sehr präsent. Zum Beispiel Košice, die zweitgrößte Stadt, war letztes Jahr europäische Kulturhauptstadt. Es hat sich dann sehr viel zum Besseren geändert und entwickelt, nur hält sich das als Idee – wir sind jetzt nicht nur eine kleine Nation, wir sind auch Europäer –, das hat sich nicht so durchgesetzt leider.
Heise: Ist es überhaupt so gedacht gewesen? Wenn man europäische Kulturhauptstadt, wenn man das mal nimmt als eine Chance, sich vielleicht dann danach europäischer zu fühlen, ist das tatsächlich das Ziel? Oder ist es mehr dieses: Ich präsentiere mich?
Hvorecký: Ich würde sagen, das ist eines von den Zielen, ja. Man muss es auch so verstehen, die Slowakei ist ein Land, das jahrzehnte-, jahrhundertelang europäisch war und eine Mischung von Nationen und Sprachen war. Dieses Land war Teil Ungarns. Man sagt auch Oberungarn, Felvidék, war halt früher Raum der heutigen Slowakei, es gab viele Deutschsprachige wie auch mein Großvater Stefan Kirchmeier, es waren Juden hier, die das Land geprägt haben und die Kultur.
In dem Sinne, diese Vielfalt ist hier nicht was Neues. Es gehört zu unserer Identität, nur haben wir das ein bisschen vergessen und die Politik missbraucht eher diese nationalistischen Themen und Ausgrenzung gegenüber zum Beispiel Minderheiten oder den anderen, statt zu erklären, wir haben diese gemeinsame europäische Geschichte.
Heise: Die Vielfalt Europas ist eigentlich gar nichts Neues, stellt der Schriftsteller Michal Hvorecky aus der Slowakei fest. Seine Romane "City. Der unwahrscheinlichste aller Orte" oder zum Beispiel "Tod auf der Donau" sind übrigens bei Klett-Cotta erschienen. Herr Hvorecký, ich danke Ihnen ganz herzlich!
Hvorecký: Ich danke Ihnen. Ďakujem Vám!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema