Europa-Träumer

Von Susanne von Schenck · 19.09.2012
David van Reybrouck lebt in Brüssel. Der vielseitige Autor verfasst Gedichte, Prosa, politische Essays, er ist Präsident des flämischen Penclubs und setzt sich als überzeugter Europäer für direkte Demokratie ein.
Dienstagabend in der Rue Antoine Dansaert, mitten in Brüssel. Dort tagt in den Räumen des Literaturhauses das Brüsseler Schriftstellerkollektiv. David van Reybrouck ist der Vorsitzende und stellt die Tagesordnungspunkte vor.

Die von ihm erwähnte "Europäische Verfassung in Versen" ist eines der großen Projekte, die der umtriebige flämische Schriftsteller initiiert hat. Vor drei Jahren bat er Autoren aus allen europäischen Ländern jeweils in ihrer Sprache die europäische Verfassung umzuschreiben. Das Ergebnis - Texte voller Hoffnungen, Träume und auch Enttäuschungen - wurde auf die Bühne gebracht.

"Für mich ist der europäische Traum immer noch ein Traum, auch wenn er zur Zeit eher einem Alptraum ähnelt","

sagt David van Reybrouck.

""Es ist doch großartig, dass sich der Frieden in Europa so lang gehalten hat. Aber lasst uns diesen Traum auch weiterträumen und nicht in einen Krampf zurückfallen. Es erschreckt mich, wie wir überall in Europa wieder in Nationalismen zurückfallen."

David van Reybrouck lebt allein im Brüsseler Stadtteil St. Gilles in einer großzügigen Jugendstilwohnung. Er ist schmal, gepflegt, seinem Gegenüber zugewandt, ein Intellektueller mit feinen Gesichtszügen. Die Literatur liebt er, schreibt Gedichte, Prosa, Essays, aber manchmal, sagt er, werde er politisch und mische sich ein.

Und so hat der 41-Jährige, dem Demokratie in seiner Heimat eine Herzensangelegenheit ist, im vergangenen Jahr G1000 gegründet, eine Bürgerbewegung, die über Fragen diskutiert, die das Land bewegen.

"Ich verdanke der europäischen Demokratie sehr viel. Dass ich mit 40 Jahren gesund bin, dass ich studieren konnte, eine literarische Karriere machen konnte - all das ist das Ergebnis der europäischen Demokratie. Aber was wir in Belgien zur Zeit erleben, ist äußerst ernst. Die repräsentative Demokratie steckt in einer tiefen Krise. Das ist total erschreckend."

David van Reybrouck studiert in Leiden, Paris, Cambridge und Barcelona Archäologie und Philosophie. Aber eine akademische Laufbahn liegt ihm nicht. 2005 kündigt er in Leiden seine feste Professorenstelle und lebt seitdem als freier Schriftsteller.

Und bald kommt sein erster internationaler Erfolg: "Mission". Für das Einpersonenstück hat David van Reybrouck zahlreiche belgische Kongomissionare interviewt und deren Erzählungen in eine Geschichte gegossen.

Wenn man David van Reybrouck gegenübersitzt, kann man sich kaum vorstellen, dass dieser Mann über zwölf abenteuerliche, zum Teil lebensgefährliche Reisen ins südliche Afrika und besonders in den Kongo unternommen hat. Unvergesslich ist ihm der Silvesterabend des Jahres 2003. Da landet er erstmals in der Hauptstadt des Kongo, in Kinshasa. Die heiße und feuchte Stadt mit ihren Menschenmassen, die wie in einem riesigen Ameisenhaufen durcheinanderwimmeln, bringt ihn vollkommen aus der Fassung.

"So eine Stadt wie Kinshasa hatte ich noch nie gesehen: Es ist ein Riesendorf, das wächst und wächst. Eine Stadt ohne Struktur, die dennoch überlebt. Das hat mich von Anfang an fasziniert. Anfangs war ich total destabilisiert, weil es eben nichts gibt, kein staatliches Netz, das einen schützt. Dadurch fühlt man sich völlig zerrüttet. Aber nichtsdestotrotz fahre ich immer wieder hin."

Der Kongo lässt David van Reybrouck nicht mehr los: zum einen wegen der belgischen Kolonialgeschichte, zum anderen aus biographischen Gründen.

"Es liegt daran, dass mein Vater dort vor meiner Geburt gelebt hat. Er arbeitete nach 1961, nach der Unabhängigkeit des Landes, dort bei der kongolesischen Bahn. Allerdings sprach er sehr wenig über diese Zeit. Aber es reichte, um mein Interesse zu wecken. Ich war fasziniert von den Fragen, die mein Vater aufwarf. Aber Antworten gab er nicht."

Die gibt David van Reybrouck nun in seinem großartigen Buch "Kongo. Eine Geschichte". Auf 800 Seiten erzählt er die "Biografie" dieses Landes aus der Perspektive seiner Bewohner.

Zum Schreiben zieht sich David van Reybrouck in den Brüssler Stadtteil Anderlecht zurück, ein Viertel mit türkischer, arabischer und schwarzafrikanischer Bevölkerung. In einer alten Kleiderfabrik hat er sein Büro: offline, ohne Internet, ohne Telefon. Dort taucht der vielseitige Schriftsteller und überzeugte europäische Demokrat in seine Welten ein.

"In ein paar Monaten werde ich allein durch die Pyrenäen wandern. Ich brauche diese Einsamkeit, um mich dann wieder meinen öffentlichen und sozialen Aufgaben zu widmen. Ich flüchte mich also in die Berge und in einen Roman über den Alpinismus."
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