"Europa ist der Modellfall für eine neue Weltordnung"

Moderation: Marie Sagenschneider |
Der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hat die Entwicklung der Europäischen Union als Erfolgsgeschichte bezeichnet. Die EU sei ein Vorbild für den künftigen Zusammenschluss kleinerer und mittlerer Staaten, sagte Genscher anlässlich des bevorstehenden 50. Jahrestags der Unterzeichnung der Römischen Verträge
Marie Sagenschneider: Sonntag also die große Feier zum Gründungsjubiläum der Europäischen Union, mit Gipfeltreffen und Berliner Erklärung, um die allerdings immer noch ein großes Geheimnis gemacht wird. Außenminister Steinmeier wollte gestern im Bundestag allenfalls das Motto, unter dem die Erklärung steht, bekannt geben, nämlich "Europa gelingt nur gemeinsam". Nun ja, das stimmt natürlich immer. Dass die Europäische Union eine Erfolgsgeschichte ist, darin war man sich gestern im Bundestag einig, und auch darin, dass, um diesen Erfolg fortzusetzen nun dringend neuer Schwung in die Verfassungsverhandlungen komme müsse. 50 Jahre Römische Verträge und die Zukunft Europas, darüber wollen wir nun hier im Deutschlandradio Kultur mit dem früheren Außenminister Hans-Dietrich Genscher sprechen. Guten Morgen Herr Genscher!

Hans-Dietrich Genscher: Guten Morgen!

Sagenschneider: Sie haben gesagt, Sie sehen die Europäische Union als ein Modell für eine künftige Weltordnung. Was verstehen Sie darunter?

Genscher: Wir sind ja nach der Zeit der Bipolarität, also des Gegensatzes zwischen den westlichen Demokratien und der Sowjetunion, der sozialistischen Staaten, tatsächlich in eine neue Weltordnung eingetreten, die auf Zusammenarbeit angewiesen ist. Die Debatte über den Klimaschutz zeigt das deutlich, wo immer gesündigt wird gegen den Klimaschutz, betroffen sind alle. Dasselbe gilt für wirtschaftliche Entwicklung. Dasselbe gilt für Ausbreitung von Krankheiten. Es gilt für Ausbreitung von Atomwaffen, für unterlassene Abrüstung, ein wichtiges Thema und Kapitel für die Staatengemeinschaft. Wir sind also gegenseitig voneinander abhängig. Es gibt keine entfernten Gebiete mehr, und deshalb brauchen wir auch einen Rahmen, in dem wir das Zusammenleben in der Zukunft regeln. Und für mich ist dieser Jahrestag der Europäischen Union deshalb so wichtig, weil der Beweis geliefert worden ist, dass noch so komplizierte Probleme gelöst werden können, wenn man guten Willens ist und – das Wichtigste – wenn die Großen damit einverstanden sind, dass alle Staaten, ob groß oder klein, gleichberechtigt und ebenbürtig sind. Die europäische Geschichte ist vergiftet worden durch das Streben der großen Staaten nach Vorherrschaft. Jeder wollte der Stärkste sein und die Kleinen konnten sich allenfalls auf die eine oder andere Seite schlagen. Das haben wir mit der Europäischen Union überwunden, und deshalb sage ich, Europa ist der Modellfall für eine neue Weltordnung.

Sagenschneider: Modell für was genau? An welche Regionen denken Sie da?

Genscher: Ja, ich denke zunächst einmal daran, dass wir in Zukunft wenige große Staaten haben werden wie die USA, Russland, China, Indien, und die werden eine wichtige Rolle spielen. Aber mittlere und kleinere Staaten werden sich regional zusammenschließen, und hier ist für diese, für die regionalen Zusammenschlüsse, in der Tat die EU ein Modell. Aber der Grundsatz innerhalb der Europäischen Union, dass nur das gemeinsame Interesse auch das Interesse der einzelnen sein kann und dass das Wohlergehen des Nachbarn auch das eigene Wohlbefinden positiv beeinflusst, das gilt dann für die ganze Welt. Es wird keine unipolare Weltordnung geben, in der einer sagt, was zu machen ist, und die anderen haben das weitgehend zu befolgen, sondern wir müssen kooperativ zusammenarbeiten. Wir müssen sehen, dass wir alle Regionen der Welt zu ihrem Glück mit verhelfen können, indem wir ihnen die gleichen Chancen einräumen. Mehr kann die Staatengemeinschaft nicht tun. Also hier ist eben das Modell Europa wirklich ein großer Entwurf auch für eine neue und gerechte Weltordnung.

Sagenschneider: Diese neue Weltordnung, die ja den Kalten Krieg hinter sich gelassen hat, eigentlich immer noch auf der Suche nach einer Definition ist. Wo sollte sich Europa da verorten?

Genscher: Ja, Europa hat eine Botschaft, das ist eben die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union, und das sollte diese Botschaft in Gesprächen mit den anderen Regionen der Welt, aber auch mit den großen Staaten, die es entweder in ihrem vollen Einfluss schon gibt oder die erst im Wege zu einem großen Gewicht sind, ich erinnere hier etwa an China und an Indien, sollte sich anbieten als ein Modell, wie man das tun kann. Bedenken Sie einmal, als Irland Mitglied der Europäischen Union geworden ist, da war Irland wirklich das Armenhaus Europas. Heute ist es eine blühende Volkswirtschaft. Warum? Weil die anderen nicht gesagt haben, für uns ist gut, wenn Irland arm ist, sondern weil sie gesagt haben, wenn es auch Irland gut geht, wird es uns anderen auch gut gehen. Und das gilt für alle. In dieser Weltordnung gilt das Prinzip der Verantwortung, wie auch in der Europäischen Union, das heißt, je größer ein Land ist, umso größer seine Verantwortung. Aber es hat deshalb nicht mehr Rechte. Das ist die Grundlage des friedlichen Zusammenlebens. Das können Sie schon bei Immanuel Kant nachlesen, und das muss jetzt in der Welt durchgesetzt werden, das ist die Botschaft Europas, da gilt es altes Denken von Vorherrschaft zu überwinden, und hier hat Europa eine ganz entscheidende Funktion.

Sagenschneider: Ist es dafür von Bedeutung, Herr Genscher, dass Europa seine Grenzen noch weiter steckt, oder würden Sie sagen, na ja, die EU ist jetzt schon halbwegs am Rande ihrer Möglichkeiten angekommen?

Genscher: Also wenn wir von der EU sprechen, ist das natürlich nur ein Teil von Europa. Wir könnten EU-Europa sagen, da weiß man, das sind die 27 Mitgliedstaaten, und ich finde schon, dass man in einer Zeit, in der Deutschland schon einmal die Präsidentschaft hatte, sehr richtig entscheiden hat, dass man bei Neuaufnahmen a) zu prüfen hat, ob das Land politisch und rechtsstaatlich und wirtschaftlich die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft bietet, aber dass natürlich auch zu beachten ist, ob die Europäische Union aufnahmefähig ist oder ob sie erst einmal die Aufnahme einer großen Zahl von Staaten verdauen muss. Im Augenblick ist ja absehbar, wer noch an der Tür steht, das sind die Staaten aus dem südlichen Balkan, wo durchaus also nach dem Zerfallsprozess Jugoslawiens, wo eigentlich eine dauerhafte Stabilität und Friedenschance nur in der Europäischen Union besteht. Darüber ist man sich auch einig, und dann wird man weitersehen.

Sagenschneider: Nun ja, die Türkei steht auf der Matte.

Genscher: Ja, mit der Türkei. Der Türkei hat die Regierung Adenauer und dessen Beauftragter Hallstein, und Ludwig Erhard war da auch Mitglied der Regierung, schon Anfang der sechziger Jahre die Mitgliedschaft, und zwar recht bald, versprochen. Inzwischen sind da fast 50 Jahre vergangen, und jetzt sind Verhandlungen aufgenommen worden, und diese Verhandlungen werden zwischen 10 und 15 Jahren dauern, und dann muss man am Ende dieser Frist und wenn das Verhandlungsergebnis auf dem Tisch liegt, prüfen, reicht das aus für die Mitgliedschaft oder nicht. Bei dem Thema Türkei habe ich immer das Gefühl, dass das für einige Leute ein wohlfeiles Wahlkampfthema ist, dass sie der Notwendigkeit enthebt, sich mit den Problemen von heute zu befassen. Die reden dann lieber über die Probleme in 15 Jahren, obwohl die meisten, die an der Debatte teilnehmen, dann nicht mehr in politischer Verantwortung stehen werden.

Sagenschneider: Herr Genscher, ich danke Ihnen.