Europa in der Sackgasse

Weshalb die EU in der Krise ist

Europa auf einem geografischen Globus
Europa auf einem geografischen Globus © picture-alliance / dpa / Felix Hörhager
Von Matthias Becker · 08.02.2016
Die europäische Einigung verliert an Unterstützung: Europafeindliche Parteien feiern Wahlerfolge, die Eurokrise hat eine Bruchlinie zu Südeuropa erzeugt. Während Deutschland gestärkt aus der Eurokrise hervorgeht, stagniert der Rest der Europas weitgehend.
Bei der jüngsten Europameisterschaft der Unterhaltungsmusik – bekannt als Eurovision Song Contest – da erreichte Deutschland nur den allerletzten Platz. Keine Sympathiepunkte mehr, keine Mitleidspunkte für die Bundesrepublik. Nicht aus Osteuropa, nicht von den Südländern, nicht von den Briten.
"In der Tat! Aber irgendwie ist es traurig. Aber wir finden es nicht verdient, was sollen wir tun, wie müssen es einfach locker nehmen."
Münkler: "Wer von allen geliebt werden will, macht sich abhängig. Und das heißt, er muss gewissermaßen zahlen, zahlen, zahlen und kann wenig durchsetzen. Das hat eben zur Voraussetzung, nicht permanent danach zu gucken: Lieben sie mich auch noch?"
Kurz: "Wissen Sie, was seit Ausbruch der Eurokrise geschehen ist, ist eigentlich nichts anderes als Konkursverschleppung. Diese Währung ist, wenn man sie realistisch betrachtet, schon zerfallen. Sie kann ja eigentlich nur am Leben erhalten und gestützt werden durch schockierende Summen."
Duval: "Eins müssen die Deutschen irgendwann mal begreifen: Dass die Krise eine gigantische Transferunion nach Deutschland gewesen ist. Das war eine gute Sache für Deutschland, diese Krise."
Europa steckt in einer Sackgasse. Ob nun Flüchtlinge verteilt, Bürgerrechte geschützt oder Beiträge bezahlt werden sollen, den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union fällt es immer schwerer, sich zu einigen. Ihre Kompromisse klingen zunehmend formelhaft.
Der Streit über die Verteilung von Flüchtlingen beherrscht gegenwärtig die Schlagzeilen. Er ist heftig, aber berührt dennoch nur die Oberfläche. Regierungschefs wie der Italiener Matteo Renzi oder der Ungar Viktor Orban verknüpfen ihre hartnäckige Weigerung, den Deutschen in dieser Frage entgegenzukommen, mit anderen Konflikten.
Es geht um die Banken und den Arbeitsmarkt, um Handelsbilanzen und Staatsverschuldung. Die Krise Europas hat wirtschaftliche Ursachen.
Weber: "Wir sind es leid, diese Provokationen aus Griechenland jeden Tag zu hören. Macht eure Hausaufgaben in Griechenland!"
Der Ausdruck von den versäumten oder erledigten Hausaufgaben ist seit der Eurokrise gängig geworden. Er ist bezeichnend für eine Sichtweise, der zufolge jedes Land zuallererst selbst für seinen Wohlstand und seine Wettbewerbsfähigkeit verantwortlich ist.
Bei einer solchen Betrachtung können gewisse Zusammenhänge natürlich nicht auftauchen: alle, die den nationalen Rahmen überschreiten. Aber die europäischen Nationen beeinflussen sich gegenseitig – und ohne diese Zusammenhänge zu kennen, lässt sich die gegenwärtige Krise nicht begreifen.
Es geht um die Austauschbeziehungen in Europa – um die grenzüberschreitenden Ströme von Waren, Kapital und Arbeitskräften.
Tonio: "Ich kam im letzten Juli nach Berlin. Ich hatte zwei Koffer und kein Geld. Ich will mir hier ein neues Leben aufbauen."
Konflikt: Migration
Ein Café mitten in Berlin. An diesem Samstagvormittag ist es gut besucht.
An der Theke sitzt ein junger Mann, Antonio, 28 Jahre alt. Erkältet, weil er den Berliner Winter nicht gewohnt ist. Sein Beruf:
Tonio: "Ich bin Pizzabäcker! Und dann komme ich auch noch aus dem Geburtsort der Pizza, aus der Gegend um Neapel!"
Von Salerno nach Berlin. Antonio ist einer von vielen Italienern, die seit 2010 nach Deutschland kommen. Sie suchen Arbeit, Ausbildung, Abwechslung, eine Perspektive. Etwa die Hälfte von ihnen kehrt nach einer Weile zurück in die Heimat. Und dennoch machen sich von Jahr zu Jahr mehr auf den Weg.
Der sogenannte Wanderungsgewinn in Deutschland steigt seit acht Jahren. 2014 waren es mehr als eine halbe Million Menschen. Die wichtigsten Herkunftsländer: Polen, Rumänien und Bulgarien, Italien, Spanien, Griechenland und Portugal.
In manchen Ländern am Rand Europas kommt es zu einem regelrechten Bevölkerungsaustausch. Eine halbe Million Portugiesen haben in den letzten vier Jahren ihr Land verlassen – ein Land, in dem gerade einmal zehn Million Menschen leben. Eine viertel Million Iren sind ausgewandert, bei einer Bevölkerung von nur sechseinhalb Millionen. Die Emigration entlastet die Arbeitsmärkte und Sozialsysteme der Herkunftsländer erheblich, vor allem die in Osteuropa und am Mittelmeer.
Als gelernter Pizzabäcker fand Antonio schnell eine Stelle, in einem Restaurant, das vor allem von Touristen besucht wird. Stundenlohn: acht Euro fünfzig. Aber vor zwei Wochen hat er seine Stelle verloren.
Tonio: "Das war Schwarzarbeit und so, ich hatte keinen Vertrag. Sie haben gesehen, dass ich richtig schnell war beim Pizza machen, und da wollten sie immer mehr, mehr Pizza in ganz kurzer Zeit. Jetzt will mir das Jobcenter kein Geld geben. Sie sagen, ich bin gar kein Arbeiter, sondern nur ein Migrant und so."
Die Arbeitsverhältnisse in der Gastronomie sind auch hierzulande nicht rosig; das hat Antonio schnell gemerkt. Zurück nach Italien will er trotzdem nicht.
Tonio: "In Süditalien, wo ich herkomme, ist die Situation richtig schlimm. Dort konnte ich mir keine eigene Wohnung leisten und musste bei meiner Mutter leben."
So geht es vielen, auch älteren Leuten. Eine Zeit lang habe ich drei verschiedene Jobs gemacht. Morgens um sechs bin ich aufgestanden und habe auf einer Baustelle gearbeitet, nachmittags habe ich Tischler-Arbeiten gemacht. Und am Wochenende mit dem Motorroller Pizza ausliefern. 700 Euro habe ich verdient. Sieben Tage die Woche, 14 Stunden am Tag.
Tonio: "Der Süden Italiens war immer schon arm. Die Krise hat es schlimmer gemacht. Mehr als die Hälfte der Süditaliener unter 24 sind arbeitslos. Vier Jahre in Folge schrumpfte die italienische Wirtschaft oder wuchs nur minimal.
Konflikt: Transferunion und Handelsbilanz
Mit Jahresbeginn wurde der Euro 17 Jahre alt. Die gemeinsame Währung sollte allen mehr Wohlstand bringen und den Lebensstandard angleichen. Aber die Volkswirtschaften haben sich auseinander entwickelt. Lucas Zeise, Wirtschaftsjournalist und Autor eines Buchs zur Eurokrise, wundert das nicht.
Zeise: "Wenn ich den Ländern die Möglichkeit nehme abzuwerten und dadurch den eigenen Markt zu schützen, dann werden diese Regionen verarmen. Die Marktgesetze besagen ja, dass der Starke wirklich seine Stärken ausspielen kann, voll. Und dann können die Starken die Schwachen wirklich von der Platte putzen. Wir haben kein gemeinsames Steuersystem, wir haben keine Untergrenzen für Besteuerung, sondern einen Wettbewerb der Staaten untereinander, das ist im Vertrag von Maastricht auch so festgelegt. Und das ist der eigentliche Grund, warum das Ding hier nicht funktioniert."
Als die Währungsunion beschlossen wurde, hielten die Staatenlenker in allen Teilen Europas eine einheitliche Besteuerung, soziale und regionale Umverteilung oder Industriepolitik für verzichtbar. Zwischenstaatliche Konkurrenz war ausdrücklich erwünscht, oder – wie es in Deutschland meist ausgedrückt wird – an eine "Transferunion" war niemals gedacht.
Ohne eigene Währung kann ein Staat sich im globalen Wettbewerb höchstens behaupten, indem er die Löhne senkt und so seine Exporte verbilligt – Fachbegriff "Innere Abwertung". Aber ausgerechnet die stärkste Wirtschaftsmacht setzte vehement auf die Exportförderung durch Lohnsenkung. Nach der Euroeinführung sanken die deutschen Löhne inflationsbereinigt, während sie in Südeuropa stiegen und in Frankreich gleich blieben. Erst 2011 erreichten sie in Deutschland wieder das alte Niveau von 2000.
So wettbewerbsfähig wurden die deutschen Unternehmen dadurch, dass ihre europäischen Konkurrenten reihenweise den Bach hinunter gingen.
Der gemeinsame Markt hat die Schwachen schwächer gemacht und die Starken stärker. Die Polarisierung zeigt sich auch in den Handelsungleichgewichten: Der Exportüberschuss Deutschlands mit der Eurozone stieg mit zunehmenden Tempo und kletterte bis auf 105 Milliarden Euro im Jahr 2007. Das entspricht sieben Prozent des Inlandsprodukts.
Der deutsche Exportmotor hat aber auch manche Länder ins Schlepptau genommen – erklärt Dorothee Bohle, Politologin und Osteuropa-Expertin. Sie lehrt an der Zentraleuropäischen Universität in Budapest.
Bohle: "Die Arbeitsplätze, die mittlerweile nach Osteuropa verlagert werden, oder die entstehen unter der Kontrolle von deutschen Unternehmen, das sind qualifizierte Arbeitsplätze. Es gibt eine Grenze, das ist Forschung und Entwicklung. Da sieht man, dass wenig in Osteuropa passiert, das bleibt in Deutschland. Aber bis dahin gibt es auch wirklich ein Aufsteigen in der Wertschöpfungskette. Also, das sollte man nicht unterschätzen."
Besonders in den Viségrad-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn entstanden Zulieferbetriebe für deutsche Unternehmen. Angeschoben durch solche Direktinvestitionen konnten sie ihre Industrien modernisieren und sind heute auf dem Weltmarkt in einigen Bereichen konkurrenzfähig.
Bohle: "Es hat sehr viele Produktionsverlagerungen insbesondere von Deutschland in diese Länder gegeben. Chemieindustrie, Automobilindustrie, Automobil ist sehr, sehr stark vertreten, Pharmaindustrie, Elektronik und so weiter. Die werden da produziert und reexportieren nach Deutschland oder in die EU. Das heißt, das sind sehr exportabhängige Wirtschaften. Als der deutsche Markt zusammenbrach, sind sie auch zusammengebrochen, aber sobald die deutsche Wirtschaft wieder auf Wachstumspfad gekommen ist, sind diese Länder gefolgt."
Ganz anders als in Zentralosteuropa kam es in den Mittelmeerländern zu einer Deindustrialisierung. Auch dort investierten deutsche Banken und Unternehmen, aber der Gutteil dieser Investitionen floss nicht in industrielle Produktion, sondern in den Immobiliensektors und dann in den Konsum.
Aber warum gaben Länder wie Italien überhaupt die Möglichkeiten so leichtfertig aus der Hand, die eine eigene Währung bietet? Auf die Geldpolitik fixiert glaubten sie, wenn sie im Verbund mit den Deutschen eine ähnlich gute Finanzierung bekämen, würden ihre Unternehmen den Vorsprung der Deutschen einholen – erklärt der schottisch-amerikanische Ökonom Mark Blyth.
Blyth: "Ein Argument für den Euro war ja, dass Länder wie Italien regelmäßig ihre Währung abwerteten, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Dadurch verteuern sich die Importe und die Kaufkraft sinkt, aber es macht die Unternehmen bei den Kosten wettbewerbsfähiger. Der Euro sollte gerade das verhindern: Wenn kein Land mehr abwerten kann, müssen eben alle gleich wettbewerbsfähig werden, die Volkswirtschaften werden sich einander angleichen. Zinsunterschiede bei den Staatsanleihen spiegeln das Risiko von Inflation und Währungsabwertung. Sobald man diese Risiken abschafft, werden sich die Renditen natürlich angleichen. Alle Euroländer hatten plötzlich den gleichen Zinssatz wie Deutschland, was natürlich völlig verrückt ist. Aber wir dachten, das ist schon in Ordnung so – bis es auf einmal nicht mehr in Ordnung war!"
Zeise: "Der Effekt, der ging los, als klar war, welche Länder in den Euro überführt werden würden. Da sind die Hochzinsländer zuerst Mittel- und dann Niedrigzinsländern geworden. Und das hat unglaublich viel Kapital angelockt. Das Kapital kam eben zu einem großen Teil aus dem klassischen Überschussland, aus Deutschland. Und die Zeitungen, der Economist, die Financial Times Deutschland, die Zeitung, für die ich damals gearbeitet habe, die haben dann immer geschrieben: Oh oh, die Profitrate, die Gewinne sind in anderen Ländern viel höher – was stimmte, weil Spekulationsgewinne angefallen sind durch den sinkenden Zins ... Wichtig ist, dass die Attraktion des Euro, einer Weltwährung, für die Schwachwährungsländer, denen einen wirklichen Finanzierungs- und Spekulationsboom beschert hat."
Die goldenen Jahren des Euro beruhten auf günstigen Finanzierungsbedingungen, sprich: auf billigem Geld. Im Baltikum, in Spanien und Portugal wurde das Wachstum zwischen 2000 und 2008 von einem wachsenden Immobilien- und Finanzsektor angeschoben.
Wohlgemerkt: nicht die Regierungen häuften die Schuldenberge auf. Das Haushaltsdefizit und die Schuldenquote in Irland, Spanien oder Estland – Epizentren der Immobilienblase – lagen unter dem Deutschlands. Spanien verstieß in diesem Zeitraum kein einziges Mal gegen die Maastrichter Defizit-Regel – Deutschland vier Mal.
Dann beendete die Finanzkrise abrupt die Jahre der Prosperität. Durch die Bankenrettungen wurden private Schulden zu öffentlichen – und die Finanzmärkte begannen, an der langfristigen Zahlungsfähigkeit der Mittelmeerländer zu zweifeln.
Seitdem entwickeln sich die Zinsen der Staatsanleihen umgekehrt proportional: Wenn sie in der Peripherie steigen, fallen sie im Zentrum. Der Grund dafür ist einfach. Je größer die Furcht der Anleger vor einem Staatsbankrott, umso mehr verlangen sie von einem Wackelkandidaten wie Griechenland, und umso weniger von der Bundesrepublik, die als sicherer Hafen gilt. Der Unterschied der Finanzierungsmöglichkeiten ist zurück – stärker als je zuvor.
Konflikt: Bankenkrise und Einlagensicherung
Zeise: "Die starken Staaten müssen am wenigsten Zinsen zahlen. Der Zinsvorteil, erklärt sich ja von selbst: Je billiger ich an den Kredit komme, desto geringer sind meine Kosten. Das ist ja ein direkter Kostenfaktor, und zwar ein ziemlich wichtiger Kostenfaktor."
Die Bonität einer Nation ist entscheidend im internationalen Wettbewerb. Länder wie Italien erwarten von der Europäischen Union günstige Konditionen auf dem Finanzmarkt – und Deutschland fürchtet, seinen Zinsvorteil zu verlieren. Das ist der Hintergrund des gegenwärtigen Konflikts um die europäische Bankenunion.
Künftig sollen die Eurostaaten gemeinsam bis zu einer gewissen Höhe für Guthaben haften. Über diese Summe hinaus müssen die Anleger zur Kasse gebeten werden. Aber die Bundesrepublik sperrt sich gegen die europäische Einlagensicherung.
Ende Januar macht der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble bei einer öffentlichen Veranstaltung seine Haltung dazu deutlich.
Schäuble: "Natürlich spricht viel, grundsätzlich viel für eine Bankenunion, und in einer Bankenunion für eine gemeinsame Einlagensicherung. Aber alle, alle gemachten Erfahrungen sprechen dagegen, mit der Vergemeinschaftung der Einlagensicherung zu beginnen, solange die zuvor zur Trennung von Banken- und Haushalsrisiken vereinbarten oder auch noch zu vereinbarenden Schritte in vielen Mitgliedsstaaten noch gar nicht implementiert sind."
"Banken – und Haushaltsrisiken trennen", das bedeutet: Banken können bankrottgehen, ohne dass die Regierung eingreifen muss. Aber davon ist Europa weit entfernt. Vor dem Jahreswechsel sich die italienische Regierung gezwungen, vier Banken zu retten.
Schäuble: "Wenn ich sehe, was Italien, mit allem Respekt, jetzt in diesen Tagen in seinen Banken für ein Problem hat, weil man da die BRRD, die Restrukturierungsrichtlinie, die seit 1. Januar 2016 einen Bail-In ihnen vorschreibt, aber weil man nicht sich darauf vorbereitet hat, für Probleme hat, wird es klar: Wir müssen, damit das Ganze funktioniert, darauf bestehen."
Aber – ist die Bankenkrise denn nicht vorbei? Trotz dreistelliger Milliardenhilfen aus der öffentlichen Kasse? Keineswegs. Bei den italienischen und portugiesischen Banken ist die Menge der faulen Kredite seit 2011 sogar gestiegen, in Spanien etwa gleich geblieben. Auch die Staatsschuldenquote ist im Euroraum gestiegen: von 65 Prozent im Jahr 2007 auf 92 Prozent im Jahr 2014.
Nur wenn die Wirtschaft wächst – und zwar kräftig wächst – werden die Staaten Verschuldung abbauen und die Banken ihre Bilanzen bereinigen können. Aber ein solches Wachstum ist nicht in Sicht. Das Bruttoinlandsprodukt der Eurozone hat immer noch nicht das Niveau von 2007 wieder erreicht.
Konflikt: Staatsschulden und gemeinsame Wirtschaftspolitik
Auf einen wirtschaftlichen Abschwung reagieren Regierungen üblicherweise mit kreditfinanzierten, öffentlichen Investitionen. Aber besonders deutsche Politiker interpretieren die Eurokrise als "Staatsschuldenkrise". Sie sind überzeugt: Nur weil die Regierungen zu hohe Schulden anhäuften, verloren sie das Vertrauen der Finanzmärkte.
In Frankreich ist der Versuch, in der gegenwärtigen Situation das Staatsdefizit zu senken, umstritten. Guillaume Duval ist Herausgeber der Wirtschaftszeitschrift "Alternatives Économiques" und steht der französischen Sozialistischen Partei nahe.
Duval: "Das führt zu einer total blöden Politik, kontraproduktiv, auch kontraproduktiv, um die Schulden, die Staatsschulden zu reduzieren. Wenn man in der Rezession ist, kann man überhaupt nicht die Schulden reduzieren. Wenn wir das alle machen, dann passiert, was gerade in Europa passiert: Wir sind am Rande der Deflation und der Rezession."
Ludger Schuknecht, der Chefökonom im Bundesfinanzministerium, antwortete kürzlich in einem Zeitungsbeitrag auf diese Kritik – mit einem Gleichnis.
Mein Lieblingsmythos aus der griechischen Antike ist aus der Odyssee und handelt von den betörenden Sirenen, deren Verlockungen ins Verderben führen. Um dem Sirenengesang zu widerstehen, ließ Odysseus sich an den Mast seines Schiffes binden, damit es Kurs halten würde.
Die europäischen Staaten, meint das, sollen auf die Verlockungen des "Wachstums auf Pump" verzichten. Nur durch Schmerzen erreichen wir die Sterne – so funktioniert "Austeritätspolitik".
Die Initiativen der Bundesrepublik zielen darauf, die Wirtschaftspolitik in der Eurozone zu "entpolitisieren": durch "Schuldenbremsen" und automatische Sanktionen, wenn Regierungen vom Pfad der Tugend abweichen. Durch Aufsichtsbehörden, deren Experten Parlamentsgesetze unter einen Finanzierungsvorbehalt stellen. Angeblich ökonomische Sachzwänge werden in die Form zwischenstaatlicher Verträge gegossen.
Aber je länger der Lohn für die Kürzungspolitik auf sich warten lässt, umso größer werden die Reibungen – zumal der Vorsprung Deutschlands wächst.
Die Eurostaaten vereinbarten im Jahr 2011, dass der Exportüberschuss eines Landes sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen soll. Diese Regel hat eigentlich denselben Stellenwert wie die gemeinsamen Defizit- oder Inflationsziele. Aber zuletzt lag der Überschuss in der deutschen Leistungsbilanz bei acht Prozent. Die anderen EU-Mitgliedsstaaten drängen die Bundesrepublik seit Jahren, ihre Binnennachfrage kräftig zu erhöhen und mehr zu importieren – erfolglos.
Letzten Sommer trat die französische Regierung die Flucht nach vorne an. Finanzminister Emmanuel Macron erklärte, Frankreich sei bereit, auf einen Teil seiner souveränen Rechte zugunsten einer gemeinsamen europäischen "Wirtschaftsregierung" zu verzichten. Nach den Vorstellungen der Franzosen soll ein Parlament der Eurozone über eigene Einnahmen verfügen und Regeln für Steuern, Wirtschaftsförderung und Investitionen gemeinsam entscheiden. Guillaume Duval unterstützt diese Idee – auch wenn er sich keine Illusionen macht über die Erfolgsaussichten dieses Vorschlags.
Duval: "Man muss eine demokratische Legitimierung von Entscheidungen auf europäischer Ebene finden. Das hat Hollande und Macron gesagt, aber ohne Erfolg. Das dauert schon dreißig Jahre, dass französische Politiker sagen, man braucht eine Wirtschaftsregierung in der Eurozone. Das Problem ist, dass die das aufgegeben haben, die Hoffnung und den Willen. Die französischen Politiker müssen den Mut wieder haben, sich mit der deutschen Öffentlichkeit und den deutschen Politikern zu konfrontieren."
Berlin hat den französischen Vorschlag ins Leere laufen lassen. Statt einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung will es die Rechte der Europäischen Kommission beschneiden und eine Art Rechnungshof einsetzen, der "frei von politischer Einflussnahme" über die nationalen Haushalte und Gesetze wachen würde.
In einem Papier des "Bundesfinanzministeriums zur Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion" vom November 2015 heißt es:
Budgettransfers in einer makroökonomisch relevanten Größenordnung würden die Zahlungsbereitschaft der wirtschaftsstärkeren Mitgliedsstaaten deutlich überfordern und damit den Zusammenhalt der Wirtschafts- und Währungsunion in Frage stellen. ... Die bisherige asymmetrische Behandlung von Überschuss- und Defizitländern sollte erhalten bleiben. ... Eine Einflussnahme auf nationale Lohnfindungsprozesse wird eindeutig abgelehnt.
Und jetzt? Europa steckt in einer Sackgasse. Die europäische Vereinigung war weder dazu geeignet, noch dazu gedacht, die Nationalstaaten zu überwinden.
Die Staaten schlossen sich zusammen, um ihre Eigeninteressen zu verfolgen. Aber viele fragen sich, ob die Union diesen Zweck überhaupt noch erfüllt.
Duval: "Eins müssen die Deutschen irgendwann begreifen. Dass die Krise eine gigantische Transferunion nach Deutschland gewesen ist. Da sind sehr viele jugendliche Italiener, Spanier, Portugiesen und so weiter nach Deutschland gekommen und die haben da die mangelnden deutschen Kinder ersetzt und das demographische Problem Deutschlands gelöst. Der deutsche Staat hat davon massiv profitiert, dass in der Eurokrise die Zinsen auf die deutschen Staatsschulden reduziert worden sind."
Gleichzeitig zweifeln auch immer mehr Deutsche, ob Europa noch im deutschen Interesse ist. Das gilt auch für die Unternehmen. Sie haben von dem gemeinsamen Markt profitiert – aber vielleicht wäre das auch ganz ohne den Euro möglich gewesen. Das zumindest sagt Manfred Kurz, Lobbyist für die Würth-Gruppe.
Kurz: "Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Währung erschließt sich aus Sicht einzelner Unternehmen nicht zwingend. Besonders für ein Unternehmen, das in 85 Ländern tätig ist, da kann man sich leicht vorstellen, mit wie vielen Währungen und auch Währungsschwankungen wir es zu tun haben."
Würth, ein Handelskonzern mit Sitz im schwäbischen Künzelsau, vertreibt weltweit Werkzeug und Eisenwaren. Er ist auf fast allen Kontinenten aktiv, einschließlich Süd- und Nordamerika, Afrika und Asien – ein wahrer Global Player. Manfred Kurz kritisiert vehement die laxe Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und die europäischen Bürgschaften für die Krisenländer.
Kurz: "Wissen Sie, was seit Ausbruch der Eurokrise geschehen ist, ist eigentlich nichts anderes als Konkursverschleppung. Diese Währung ist, wenn man sie realistisch betrachtet, schon zerfallen. Sie kann ja eigentlich nur am Leben erhalten und gestützt werden durch schockierende Summen."
Wofür brauchen wir Europa? Lohnt sich der Euro?
Auf dem Höhepunkt der Eurokrise 2011 forderten deutsche und französische Unternehmen – vor allem aus der Großindustrie und dem Finanzsektor – mit einer Anzeige, Griechenland im Euro zu halten. Sonst sei die gemeinsame Währung gefährdet - und die sei allemal ein gutes Geschäft. Würth und etwa hundert andere Unternehmen unterstützten dagegen die Erklärung des "Verbands der Familienunternehmen". Darin hieß es:
Die Währungsunion muss auf eine neue Grundlage gestellt werden. Austritt und Ausschluss müssen möglich werden.
Kurz: "Man fürchtet in der Wirtschaft die Rechnung, wenn die Kosten für diese sogenannte Euro-Rettung tatsächlich mal abgebucht werden."
Gibt es einen Ausweg aus der Sackgasse? Oder bleibt tatsächlich nur der Rückwärtsgang? Und wer setzt sich ans Steuer?
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler glaubt, in ihrer bisherigen Form und Zusammensetzung hat die Eurozone keine Zukunft.
Münkler: "Die Europäer stehen am Scheidewege: Wollen sie Europa weiter vertiefen – und das würde dann auch heißen, dass es eine Transferunion wird – oder wollen sie Entwicklungen in diese Richtung zurückdrehen? Ich denke, dass es auf einen Kompromiss ankommt, und der könnte darin bestehen, dass man den Bereich des Transfers und der Gemeinsamkeiten kleiner schneidet als er zurzeit sich im Europa der 28 sich darstellt. Eine Transferunion unter Einbezug von Griechenland oder Bulgarien, Rumänien, die wird es nicht geben. Die würde in Deutschland auch keine politische Mehrheit finden. Wir brauchen ein Kerneuropa."
Bereits im Jahr 1994 formulierten Wolfgang Schäuble und Karl Lamers einige Überlegungen zu Europa. Schäuble, damals Innenminister, und Lamers, damals CDU-Abgeordneter im Bundestag, forderten, das Zentrum müsse seine Politik stärker vereinheitlichen als die angrenzenden Staaten.
Der feste Kern hat die Aufgabe, den zentrifugalen Kräften in der immer größer werdenden Union ein starkes Zentrum entgegenzustellen und damit die Auseinanderentwicklung zwischen einer eher Protektionismus-anfälligen Süd-West-Gruppe – unter einer gewissen Anführung durch Frankreich – und einer stärker dem freien Welthandel verpflichtete Nord-Ost-Gruppe – unter einer gewissen Anführung durch Deutschland – zu verhindern.
Münkler: "Also wie es in dem alten Schäuble-Lamers-Papier angedacht worden ist, ein Kerneuropa, bei dem die sozioökonomischen Strukturen ähnlich sind, an dem alten EWG-Raum plus ein paar weitere Länder orientiert, das ist ein tendenziell gleicher Raum, und in dem kann man dann auch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik machen und gemeinsame Regeln durchsetzen. Und dann gibt es einen weiteren Kreis von Ländern, die daran angebunden sind, die aber nicht dieses hohe Maß von Vergemeinschaftung mitmachen, die dadurch geringere Rechte, aber auch größere Spielräume haben, und vielleicht gibt es dann noch einen weiteren, einen weiteren, einen dritten äußeren Ring, das wäre die ideale Lösung."
Als im Sommer des letzten Jahres der Streit um die griechischen Staatsschulden einen dramatischen Höhepunkt erreichte, schlug Wolfgang Schäuble vor, Griechenland solle aus dem Euro ausscheiden. "Vorübergehend".
Tasos Koronakis war damals Generalsekretär der Regierungspartei Syriza. Mittlerweile ist er enttäuscht von seinem Amt zurückgetreten.
Koronakis: "Wir dachten, die Androhung unseres Euro-Austritts würde solche Erschütterungen verursachen, dass sie die Eurozone und die Europäische Union beeinträchtigen würden. Aber es stellte sich heraus, dass in der Europäischen Union die radikalste Fraktion sich nicht davon beeindrucken ließ, sondern im Gegenteil einen Austritt Griechenlands beabsichtigte."
Damit war die Strategie der Griechen gescheitert. Die Haltung der deutschen Regierung mag taktisch begründet gewesen sein – aber sie nahm einen Grexit in Kauf. Vielleicht hätte Wolfgang Schäuble den Austritt Griechenlands aus der Währungsunion begrüßt, als ersten Schritt in Richtung Kerneuropa. Die Währungsunion würde sich sozusagen gesundgeschrumpftes – und wäre fortan endgültig ein von Deutschland dominiertes Staatenbündnis.
Aber - ist Kerneuropa überhaupt ein gangbarer Weg? Welche Nationen würden dazu gehören, welche nicht? Herfried Münkler:
Münkler: "Ich weiß nicht, ob das klappen kann. Natürlich ist es nicht selbstverständlich, dass Leute, die zurzeit wirklich den Fuß auf der Bremse haben können, gewissermaßen darauf verzichten, dieses Bein im Fahrerraum in Zukunft zu haben, sondern auf den Rücksitz expediert werden. Aber wenn das nicht der Fall ist, dann wird sich Europa so oder so entweder aufspalten in einen Norden und einen Süden oder, in anderen Fragen, in einen Westen und einen Osten. Also die Zentrifugalkräfte werden übermächtig werden, und das wird dann auch keine Macht der Mitte, und mag sie noch so stark sein, zusammenhalten. Das war's dann."
In ihrem europapolitischen Positionspapier aus dem Jahr 1994 betonten Wolfgang Schäuble und Karl Lamers.
Die Währungsunion ist der harte Kern der politischen Union.
Die Europäische Union droht aber gerade an diesem Kern zu zerbrechen – an einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Der Wirtschaftsexperte Lucas Zeise plädiert deshalb für einen geordneten Rückzug:
Zeise: "Wenn man in eine Sackgasse gerät, ist es ganz gut, man geht wieder zurück. Diese Zerstörung der Währungsunion ist mit grässlichen Opfern und Rückschlägen verbunden, das wird natürlich für Deutschland ganz schlecht sein, aber das wird natürlich für die anderen auch ganz schlecht sein. In der geordneten Abwicklung kann man sich vorstellen, dass das etwas besser abläuft. Aber es wird jedenfalls kein Vergnügen sein."
Der Ökonom Mark Blyth dagegen glaubt nicht, dass die gemeinsame Währung zerbrechen wird.
Blyth: "Der Euro wird weiter bestehen, daran zweifle ich überhaupt gar nicht! Die Frage ist nur, welche Länder auf längere Sicht dazu gehören werden."
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