Europa gegen Google

Von Siegfried Forster · 13.05.2005
"Google" hat die europäischen Geister offenbar wachgerufen. 15 Millionen Werke aus prestigeträchtigen amerikanischen und englischsprachigen Bibliotheken will die amerikanische Suchmaschine in den nächsten zehn Jahren digitalisieren und kostenlos ins Internet stellen. Eine Ankündigung, die Jean-Noël Jeanneney, der Präsident der Französischen Nationalbibliothek als "Kriegserklärung" an Europa auffasste und deshalb zum Gegen-Angriff ausholte.
"Wenn wir uns damit abfinden und nichts dagegen unternehmen, dann kommt es unausweichlich zu einer Vorherrschaft der angelsächsischen Akteure: und dies nicht, weil diese Akteure uns etwa Böses wollen oder bewusst imperialistisch agieren. Hinzu kommt, dass dieses Unternehmen profitorientiert ist. Die Auswirkungen sehen wir bereits beim heutigen Dialog, der sich im Kommerz zwischen Inhalt und Werbung sich einstellt bei Google. Das führt zu bestimmten Entscheidungen, die nicht jene der Kultur und der Bibliothekare gewesen wären."

Mit vereinten Kräften will Europa seinen Rückstand aufholen. Seit 2001 hat die Europäische Union lediglich 15 Millionen Euro für die Digitalisierung des Kulturerbes bereitgestellt. Ein Betrag, der bis 2008 verzehnfacht werden soll. 150 Millionen Euro, soviel wie Google für sein gigantisches Digitalisierungs-Projekt veranschlagt.

19 National- und Universitäts-Bibliotheken in Europa haben den Appell der französischen Nationalbibliothek unterzeichnet, um eine drohende geistige und kulturelle Vorherrschaft der USA zu verhindern. Die europäischen Spitzenreiter in diesem Bereich finden sich nicht immer da, wo man es vermutet, bemerkt Kai Ekholm, Direktor der finnischen National-Bibliothek. Er erachtet vom Ansatz her die Bibliotheken in den Niederlanden als europaweit führend:

"Sie haben zusätzliche 40 Millionen Euro für die Digitalisierung ihrer Bibliotheks-Bestände bekommen. Und das jährliche Budget für die Entwicklung der Informationsgesellschaft beläuft sich auf 800 Millionen Euro im Jahr.
Dänemark hat in einem kleineren Maßstab ebenfalls vorbildhaft gehandelt. Dort wurde eine politische Entscheidung des Parlamentes herbeigeführt. In meinem Heimatland Finnland hingegen könnte das Parlament sich gar nicht weniger um die Digitalisierung kümmern. Um es brutal auszudrücken: Sie wissen nicht einmal, was Digitalisierung bedeutet."

Ungarn verfolgt hingegen überaus ehrgeizige Pläne, von denen Länder wie Frankreich oder Deutschland nur träumen können, verrät Ivan Ronai vom ungarischen Kulturministerium.

"Die Pläne wurden gerade verabschiedet. Sie sehen die Digitalisierung von fünf Millionen Büchern vor. Der gesamte Buchbestand der Ungarischen National-Bibliothek. Erforderlich ist dafür eine Summe, die dem dreifachen Jahresbudget der National-Bibliothek entspricht: 40 Millionen Euro. Die gesamte Digitalisierung könnte in vier bis acht Jahren beendet sein."

Frankreich hatte die Digitalisierung des Buchbestandes bereits 1988 anvisiert, dann aber lieber Milliarden in den Bau der Französischen National-Bibliothek gesteckt, als - wie zunächst beabsichtigt - 300 Millionen für die Digitalisierung der Bücher. Trotzdem ist die virtuelle Bibliothek "Gallica" der Bibliothèque Nationale de France mit 100.000 online abrufbaren Werken derzeit immer noch das europaweit führende Projekt, bemerkt Britta Woldering von der Deutschen Bibliothek in Frankfurt:

"Wenn man direkt Frankreich mit Deutschland vergleichen möchte, dann kann man schon sagen, dass Frankreich vorne liegt. In Deutschland bestehen vielerlei Schwierigkeiten, was Digitalisierung angeht. Da ist zum einen die Kulturhoheit der Länder: es ist sehr schwierig, da eine nationale Strategie, ein nationales Programm aufzulegen. Natürlich läuft in einigen großen Staats- und Universitätsbibliotheken Digitalisierungsprogramme, die auch sehr erfolgreich sind. Aber es fehlt so etwas wie der große nationale Zusammenschluss."

Auch Meldungen von einer in Auftrag gegebenen deutsch-französischen Suchmaschine namens "Quaero" seien vollkommen aus der Luft gegriffen, bemerkt Britta Woldering. Der Weg zu einer wirklichen Europäischen Digital-Bibliothek ist also noch weit. Es fehlen nicht nur die entsprechenden Gelder und das Personal, sondern auch eine Einigung im Hinblick auf die Auswahlkriterien oder die zum Einsatz kommende Software, bemerkt die Vize-Generaldirektorin der Französischen Nationalbibliothek, Caroline Wiegandt:

"Ob es eine gemeinsame Software geben wird, weiß ich nicht. Es wäre bereits ein Riesenfortschritt, wenn die im Digitalbereich bestehenden Normen, Protokolle, Standards vereinheitlicht würden, um zu ermöglichen, dass alle Bibliotheken Zugang zu den bestehenden digitalisierten Wissensbeständen haben."

In einem Punkt waren sich alle Teilnehmer der Konferenz einig: Sie sehen die "Europäische Digital-Bibliothek" nicht als Konkurrenz zu Google, sondern als Bekräftigung einer anderen "kulturellen" Identität und Vermittlung der Kulturen und Wissensbestände in Europa.