Europa

EU-Ratspräsident ausreichend legitimiert

Der neue EU-Ratspräsident Donald Tusk
Der ehemalige polnische Regierungschef Donald Tusk tritt heute sein Amt als neuer EU-Ratspräsident an © picture alliance / dpa/ Radek Pietruszka
Dieter Grimm im Gespräch mit Nana Brink  · 01.12.2014
Der neue EU-Ratspräsident muss sich nach Ansicht des Rechtswissenschaftlers Dieter Grimm keine Gedanken um mangelnde Legitimität machen. Das Amt werde durch den Europäischen Rat bestimmt, sagte Grimm am Montag im Deutschlandradio Kultur. Im Rat säßen die Regierungen der Mitgliedsländer und die "sind ihrerseits natürlich demokratisch stark legitimiert."
Wenn die Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat einen Vorsitzenden für ihr Gremium wählten, !dann kann man nicht sagen, der sei nicht legitimiert", so Grimm in Deutschlandradio Kultur. Die Legitimation erhalte er nur über die demokratischen Mitgliedsstaaten – über eine direkte, europaweite Legitimation verfüge der Ratspräsident hingegen nicht.
Forderungen, wonach der EU-Ratspräsident besser direkt gewählt werden sollte, wies der ehemalige Verfassungsrichter dennoch zurück: „Das finde ich nicht passend für die Funktion des Rates. Denn der Rat ist die diejenige Institution, die die mitgliedsstaatlichen Interessen und die Trägerinteressen der EU vertritt und deswegen wäre eine europaweite Wahl für den Ratspräsidenten nicht der richtige Weg." Auch eine Abhaltung von 28 nationalen Wahlen zur Bestimmung des Ratspräsidenten, "der ja doch nur sozusagen der Spitzenmanager von demokratisch legitimierten mitgliedsstaatlichen Regierungen ist, wäre übertrieben".

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Wer wissen will, wie die Europäische Union tickt, also wer das Sagen hat, wer die Entscheidungsprozesse steuert und ob das auch im Interesse der Wähler ist, der muss immer mal wieder einen Blick auf die Institutionen der EU werfen: also die Kommission, das eigentliche Steuerungsgremium, den Vorsitz hat gerade der Luxemburger Jean-Claude Juncker übernommen. Er wird ja vom Rat bestimmt, der setzt sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten zusammen, die sind ja bekanntermaßen gewählt – der EU-Kommissionspräsident ist es ja nicht.
Auch der Präsident des Rates wird nicht vom Parlament gewählt, sondern von den Mitgliedsstaaten. Ab heute übernimmt Donald Tusk, ehemals polnischer Regierungschef, dieses wichtige Amt in Brüssel, und wieder einmal stellt sich ja die Frage nach der Legitimität. Professor Dieter Grimm war bis 1999 Richter beim Bundesverfassungsgericht, hat an so berühmten Universitäten wie Frankfurt, Harvard und Yale gelehrt. Guten Morgen, Herr Grimm!
Dieter Grimm: Ja, guten Morgen!
Brink: Welches Amt ist bedeutender, das von Donald Tusk als Ratspräsident oder das von Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident?
Grimm: Das ist gleich zu Anfang eine schwere Frage, wenn man gewichten muss. Der Rat ist ja dasjenige Gremium, in dem die Gründer und die Träger der Europäischen Union, also die Mitgliedsstaaten sitzen. Und die Kommission ist sozusagen das Exekutivorgan der Europäischen Union. Das wichtigste Beschlussorgan ist sicherlich nach wie vor der Rat. Er tagt ja in zwei Formen: als Europäischer Rat – da sitzen dann die Staats- und Regierungschefs, das ist ja sozusagen die Richtlinieninstanz für die Europäische Union, da werden die obersten Richtungsbeschlüsse gefasst –, als Ministerrat ist er ein wichtiger Teil des Gesetzgebungsprozesses, sodass das also schon eine bedeutende Position mit sehr, sehr viel Steuerungsmacht ist. Aber dort sind die nationalen Interessen vertreten, und es bedarf natürlich eines Gegengewichts.
Die Europäische Union ist ja eine Gemeinschaft, und die Gemeinschaftsinteressen vertritt die Europäische Kommission. Sie wacht auch darüber, dass die Mitgliedsstaaten das europäische Recht einhalten. Das gibt ihr also auch ein hohes Gewicht. Außerdem gibt es europäische Gesetzgebung nur, wenn die Kommission Vorschläge macht. Sie ist also zwar nicht der eigentliche Gesetzgeber, aber sie ist der Initiator. Also aus diesen beiden Blicken auf Kommission und auf Rat sieht man schon: Zu sagen, wer ist nun die gewichtigere, wer hat die gewichtigere Position, ist nicht ganz einfach. Es hängt auch viel davon ab, wie die Personen, die die Ämter innehaben, sie füllen.
Brink: Dazu vielleicht später noch. Die Frage nach der Legitimität, die stellen sich ja viele, auch viele Wähler, nach dem Motto: Ich gebe meine Stimme ab und dann will ich die ja auch irgendwie repräsentiert sehen. Das ist immer ein großer Stein des Anstoßes in der Vergangenheit gewesen. Ist denn die Position des Ratspräsidenten, wenn wir die jetzt mal herausnehmen – heute tritt ja Donald Tusk sein Amt an –, ist die wirklich legitimiert?
Grimm: Nein, das kann man nicht sagen. Also zunächst mal: Er wird ja vom Rat selber bestimmt, und im Rat sitzen, wie gesagt, die Regierungen oder Staatsoberhäupter der Mitgliedsstaaten, und die sind ihrerseits natürlich demokratisch stark legitimiert. Also wenn die einen Vorsitzenden für ihr Gremium wählen, kann man nicht sagen, der sei nicht legitimiert. Aber er ist nur legitimiert durch die demokratischen Mitgliedsstaaten, er hat keine direkte europäische, europaweite Legitimation.
Direktwahl des EU-Ratspräsidenten wäre unpassend
Brink: Wäre es dann nicht sinnvoll, zum Beispiel dem Vorschlag von Schäuble zu folgen, der schon seit Jahren fordert, den Ratspräsidenten direkt von den Wählern bestimmen zu lassen?
Grimm: Das finde ich nicht passend für die Funktion des Rates, denn der Rat ist diejenige Institution, die, wie gesagt, die mitgliedsstaatlichen Interessen und die Trägerinteressen der EU vertritt, und deswegen wäre eine europaweite Wahl für den Ratspräsidenten nicht der richtige Weg. Und wenn man sich jetzt überlegt, ob man 28 nationale Wahlen veranstalten sollte, um den Ratspräsidenten zu bekommen, der ja doch nur sozusagen der Spitzenmanager der demokratisch legitimierten mitgliedsstaatlichen Regierungen ist, wäre das übertrieben.
Brink: Also habe ich Sie richtig verstanden, dass für Sie das kein Legitimitätsproblem ist?
Grimm: Nein, das ist für mich kein Legitimitätsproblem, weil der Rat die mitgliedsstaatlichen Interessen vertritt und die mitgliedsstaatlichen Regierungen ihrerseits demokratisch legitimiert sind. Wenn es nur das wäre, wenn es nicht auch gleichzeitig eine europäische Legitimation gäbe, dann wäre das problematisch. Aber es gibt ja auch eine europäische Legitimation neben der mitgliedsstaatlichen, und die kommt durch das Europaparlament.
Brink: Müssen denn dessen Rechte dann bestärkt werden?
Grimm: Ich denke, dass eine Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments sinnvoll wäre. Es hat ja zunehmend an Macht und Gewicht gewonnen, wie man auch gerade nach der letzten Europawahl gesehen hat. Man muss sehen, dass die beiden anderen Organe, über die wir eben gesprochen haben, der Rat sehr stark mitgliedsstaatliche Interessen vertritt, auf der anderen Seite, die Kommission hat ein, wie soll man sagen, ein gewisses technokratisches Übergewicht, sodass beide Organe ein Gegengewicht brauchen.
Der Rat braucht ein Gegengewicht wegen der europäischen Legitimation, die Kommission braucht ein Gegengewicht, ein politisches, gegen die technokratische Einstellung. Also insofern ist das Parlament in einer wichtigen Funktion, und ich kann mir auch weitere Stärkungen des Parlaments durchaus vorstellen.
Brink: Wo könnten die liegen?
Grimm: Die müssten natürlich liegen auf dem Bereich der Gesetzgebung. Mittlerweile ist es so, dass der Großteil der Gesetze von Rat und Parlament gemeinsam verabschiedet wird, aber es gibt noch eine ganze Reihe von Materien, wo gegen den Willen des Rates nichts entschieden werden kann, also wo das Parlament nur eine Vetoposition hat, aber nicht eine wirkliche Bestimmungsposition.
Van Rompuy hat das Amt gestärkt
Brink: Kommen wir noch mal zum Anfang zurück und zu Personen. Sie haben ja gesagt, es ist ja entscheidend, wer diese Positionen auch ausfüllt. Also Donald Tusk, der ehemalige polnische Regierungschef, wird nun Ratspräsident, übernimmt heute sein Amt. Trauen Sie ihm Veränderungen zu?
Grimm: Ich kann das schwer beurteilen, weil ich natürlich kein intimer Kenner dessen bin, was er in Polen getan hat. Aber ich könnte mir schon vorstellen: Ich glaube, dass der erste, sein Vorgänger, der erste Ratspräsident, den es gab, Van Rompuy, eine durchaus starke Stellung gewonnen hat, was ihm anfangs gar nicht so zugetraut worden war, und nachdem das Amt jetzt schon eingeführt ist und die Praxis sich ausgebildet hat, könnte das eine gute Plattform auch für Tusk werden.
Brink: Professor Dieter Grimm, ehemals Richter beim Bundesverfassungsgericht. Danke für das Gespräch!
Grimm: Gerne!
Brink: Und wir sprachen über die unterschiedlichen EU-Institutionen. Heute übernimmt Donald Tusk, der ehemalige polnische Regierungschef, das Amt des Ratspräsidenten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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