Rechte Rhetorik

Der Ruf nach einem "Europa der Vaterländer" ist hohl

Ein Wahlplakat mit der Aufschrift "Europa braucht Vaterländer"
Rechte Parteien in ganz Europa werben mit einem Europa der Vaterländer © picture alliance / dpa / Revierfoto
Ein Kommentar von Christoph Quarch · 08.09.2023
Die rechten Parteien befinden sich im Wahlkampfmodus für die Europawahl 2024. Statt mit einem Ausstieg aus der EU, werben sie mit einem "Europa der Vaterländer". Davon dürfe man sich aber nicht täuschen lassen, findet der Philosoph Christoph Quarch.
Neuerdings geistert ein fast schon vergessenes Schlagwort durch politische Debatten. Von einem "Europa der Vaterländer" ist die Rede – eine Formulierung, die vom einstigen französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle geprägt wurde und die derzeit von rechtskonservativen Politikern bemüht wird, um ihre EU-feindlichen Programme zu vertuschen.
Tatsächlich ist das von ihnen propagierte "Europa der Vaterländer" nichts anderes als eine Chiffre für die Zerschlagung der Europäischen Union und die europaweite Wiedereinführung vollständig souveräner Nationalstaaten: Die Europäische Union müsse sterben, „damit das wahre Europa leben kann“. So verrät der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke, worum es beim "Europa der Vaterländer" wirklich geht.

Beschwörung einer überholten Männlichkeit

Doch damit nicht genug: Wes Geistes Kind dieses Konzept ist, gibt derselbe AfD-Politiker zu erkennen, wenn er davon schwadroniert, die Deutschen müssten ihre Männlichkeit wiederentdecken, um wehrhaft dem Vaterland dienstbar zu sein.
Hier bekundet sich ein wohlfeistes Maskulinitätsgehabe, das von der Rückkehr überholter Geschlechterrollen träumt und sich die eiserne Hand eines starken Mannes zurückwünscht: eine Fantasie, die überall da verfängt, wo Männer sich zu kurz gekommen fühlen oder Frauen davor zurückschrecken, die mühsam erstrittene Emanzipation anzunehmen. Kurz: Wer mit dem "Vaterland" hausieren geht, gibt zu erkennen, dass er der freien und offenen Gesellschaft feindlich gesonnen ist.

Blick auf die Mutter Europa

Überhaupt ist Feindschaft eine Haltung, die mit dem Konzept des "Vaterlandes" eng verbunden ist. Den Heldentod fürs Vaterland zu sterben war eine dieser maskulinen Parolen, mit denen in Europa Millionen von Vätern dazu verführt wurden, in sinnlosen Kriegen ihr Leben zu lassen. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts von "Vaterländern" zu reden, ist schlicht zynisch.
Gerade wenn es um die Zukunft Europas geht, liegt es viel näher, den Blick auf das Mütterliche zu richten: auf die eine Mutter Europa, nicht auf die vielen, ewig streitenden national gesinnten Väter.
Hier lohnt es, die Metapher ernst zu nehmen: Wer von "Vaterländern" spricht, muss sich fragen lassen, wer die Mutter ist, ohne die aus biologischen Gründen kein Vater jemals Vater sein kann. Ist es doch die Mutter, die neues Leben gebiert und nährt. Ganz so steht es um Europa. Es ist kein Zufall, dass sie weiblich ist. Europa ist die Mutter, die ihre Nationen nährt und die ihnen allererst das Leben schenkt.

Europa als Chiffre für eine bestimmte Kulturform

Auch das ist metaphorisch zu verstehen. Das, womit Europa die Nationen nährt, ist ihre Lebensart – ihre Kultur. Europa ist ja nicht nur der Name für einen geografischen Raum, sondern auch die Chiffre für eine bestimmte Kulturform, die durch das geprägt ist, was man westliche Werte nennt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – oder Freundschaft, wie es im alten Athen hieß, wo ebendiese Werte die Demokratie hervorbrachten. Werte, die dann in der Renaissance und in der Französischen Revolution neuerlich zur Geltung kamen – wenn sie auch nie ganz verwirklicht wurden.
Es ist der mütterliche Geist Europas, der Epochen nährte und zu kulturellen Blütezeiten inspierte, von denen wir bis heute profitieren. Es ist die mütterliche Seele Europas, die es politisch zu organisieren gilt. Der Ruf nach einem "Europa der Vaterländer" ist hohl. Wir brauchen eine Europäische Union, die unsere europäischen Werte manifestiert und sich auf ihren Ursprung als Friedensprojekt beruft.
Wem es um das Wohl der europäischen Nationen zu tun ist, muss für eine mütterliche EU eintreten. Nur als politische und geistige Einheit wird Europa den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen können. Ein "Europa der Vaterländer" hingegen wird fruchtlos bleiben, Feindschaft und Krieg bringen.


Dr. Christoph Quarch (*1964) ist Philosoph und Bestsellerautor zahlreicher Bücher zu Themen aus Philosophie, Lebenskunst und Ethik. Er ist Denkbegleiter in Unternehmen und unterrichtet an verschiedenen Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Für die Wochenzeitung DIE ZEIT veranstaltet er philosophische Reisen. 2019 gründete er mit seiner Frau Christine Teufel die Neue Platonische Akademie zur Entwicklung eines geistigen Paradigmas für das heutige Europa.

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