Europa bleibt unter seinen Möglichkeiten
Als im Frühjahr 2005 der erste europäische Airbus 380 vom Boden abhob, schäumten führende westeuropäische Staatsmänner schier über vor Stolz. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder meinte, dies sei ein Beweis dafür, dass "unser Europa noch immer in der Lage ist, großartige Impulse für die Moderne im 21. Jahrhundert zu geben". Schröder rief die europäische Industrie auf, in der Konkurrenz mit den USA "die europäische Fahne hochzuhalten" und enger mit Russland zu kooperieren. Frankreichs Präsident Jacques Chirac wollte nicht nachstehen und pries das Ereignis als "ein herrliches Ergebnis der industriellen Zusammenarbeit Europas."
Die schon damals arg lädierte Idee einer "europäischen Gegenmacht" zu Amerika mit der Achse Paris-Berlin-Moskau schien an diesem Jubeltag noch einmal einen kräftigen symbolischen Schub erhalten zu haben. Doch der kurze euronationalistische Rausch ist längst verflogen. Abstimmungsprobleme zwischen den verschiedenen nationalen Komponenten des europäischen Airbus-Produktionsverbunds haben zu Lieferverzögerungen bei dem Wundervogel geführt, die den Erfolg des gesamten Projekts gefährden. Statt um die Eroberung Führungsrolle Europas beim Aufbruch in neue Zeitalter geht es jetzt wieder um die Rettung von Arbeitsplätzen und die Sicherung von Produktionsstandorten - und da kämpft jedes beteiligte europäische Land für sich allein und seine engen nationalen Interessen. Die Bundesregierung will nun den deutschen Staat zum Anteileigner im Airbus-Konzern zu machen - um Frankreich, das sich mit einer aggressiven Industriepolitik die Dominanz im Projekt gesichert hatte, nicht gänzlich das Feld zu überlassen.
Statt Europa gegen Amerika also jetzt wieder: jeder gegen jeden innerhalb Europas, statt Kampfansage an Washington innereuropäisches Gerangel mit den alt bekannten Mitteln des nationalen Etatismus. Das Beispiel, das die großen westeuropäischen Nationen damit den neuen EU-Mitgliedsstaaten im Osten geben, ist verheerend. Von Ländern wie Polen verlangen wir, dass sie ihre nationalen Egoismen und Komplexe zugunsten einer offenen europäischen Marktperspektive hintanstellen. Wir schütteln mit dem Kopf, wenn dort Parteien an die Regierung gewählt werden, die aus der Furcht, von den Großen überrollt zu werden, populistisches Kapital schlagen. Doch wenn es um unsere eigenen Vorteile geht, sind die Sonntagsreden über die gesamteuropäische Ziele und Ideale schnell vergessen, und wir fallen in Kleinstaaterei und kontinentale Machtgleichgewichtspolitik zurück.
Man sollte sich in Westeuropa bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass es nicht Polen, Tschechen oder Ungarn waren, die dem europäischen Verfassungsentwurf per Volksabstimmung den Garaus gemacht haben, sondern Franzosen und Niederländer. Das Scheitern der Verfassung zeigt, in welchem Maße sich Europa in illusionärer Symbolpolitik erschöpft hat: Der großen Geste folgt zwangsläufig das kleinlaute Eingeständnis der eigenen Begrenzungen.
Die Verfassung platze nicht zuletzt, weil sie zu einem detailbesessenen Monstrum aufgebläht wurde, statt vor allem eines zu formulieren: eine übergreifende europäische Idee, eine beflügelnde Freiheitsbotschaft an die Welt und an die Europäer selbst. Genau diese aber fehlt. Ersetzt wird sie gerne durch eine wohlfeile negative Idee: bloß nicht zu sein wie die USA. Nicht von Aufbruchstimmung wird Europa heute beherrscht, sondern von Zukunftsängsten und Selbstzweifeln, die sich mühsam hinter selbstzufriedenen Verweisen auf die ehrwürdigen alten Traditionen des Kontinents verbergen. Vor der Herausforderung durch China und Indien möchten wir uns am liebsten hinter protektionistischen Schutzwällen verstecken, um unsere Sozialstandards zu retten. Wenn islamistische Fanatiker die Religion benutzen, um unsere pluralistische, säkulare Lebensweise zu bedrohen und herabzusetzen, flüchten wir uns in eine Diskussion darüber, ob wir uns nicht doch auch lieber wieder in die vermeintlichen Gewissheiten unserer eigenen religiösen Werte zurückziehen sollen. Dabei wird vergessen, dass die europäischen Werte, auf die wir heute so stolz sind, nur traditionsbildend werden konnten, in soweit sie nach vorne gerichtet waren, und in soweit sie Europa ermöglichten, sich der Welt zuzuwenden, die Erfahrungen der Welt in sich aufzunehmen und zum Motor des Fortschritts zu werden.
Dass der Airbus sich in die Lüfte erheben konnte, zeigt, dass der europäische Erfindungs- und Pioniergeist nicht verschwunden ist. Doch Europa bleibt unter seinen Möglichkeiten, weil es in einer prekären Mischung aus Kleinmut, Selbstzufriedenheit und Größenphantasien gefangen ist. So lange es kein realistisches Verhältnis und Zutrauen zu seinen Möglichkeiten gefunden hat, sollte es zumindest auf pathetische Proklamationen seiner eigenen Bedeutung verzichten, die durch die Wirklichkeit nicht gedeckt sind.
Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als außenpolitischer Redakteur bei der "Welt am Sonntag". Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden "Weltwoche" und hatte als Redakteur und Autor der Wochenzeitung "DIE ZEIT" gearbeitet. Letzte Buchveröffentlichungen: "Die Tyrannei des Gemeinsinns - ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" und "Republik ohne Mitte".
Statt Europa gegen Amerika also jetzt wieder: jeder gegen jeden innerhalb Europas, statt Kampfansage an Washington innereuropäisches Gerangel mit den alt bekannten Mitteln des nationalen Etatismus. Das Beispiel, das die großen westeuropäischen Nationen damit den neuen EU-Mitgliedsstaaten im Osten geben, ist verheerend. Von Ländern wie Polen verlangen wir, dass sie ihre nationalen Egoismen und Komplexe zugunsten einer offenen europäischen Marktperspektive hintanstellen. Wir schütteln mit dem Kopf, wenn dort Parteien an die Regierung gewählt werden, die aus der Furcht, von den Großen überrollt zu werden, populistisches Kapital schlagen. Doch wenn es um unsere eigenen Vorteile geht, sind die Sonntagsreden über die gesamteuropäische Ziele und Ideale schnell vergessen, und wir fallen in Kleinstaaterei und kontinentale Machtgleichgewichtspolitik zurück.
Man sollte sich in Westeuropa bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass es nicht Polen, Tschechen oder Ungarn waren, die dem europäischen Verfassungsentwurf per Volksabstimmung den Garaus gemacht haben, sondern Franzosen und Niederländer. Das Scheitern der Verfassung zeigt, in welchem Maße sich Europa in illusionärer Symbolpolitik erschöpft hat: Der großen Geste folgt zwangsläufig das kleinlaute Eingeständnis der eigenen Begrenzungen.
Die Verfassung platze nicht zuletzt, weil sie zu einem detailbesessenen Monstrum aufgebläht wurde, statt vor allem eines zu formulieren: eine übergreifende europäische Idee, eine beflügelnde Freiheitsbotschaft an die Welt und an die Europäer selbst. Genau diese aber fehlt. Ersetzt wird sie gerne durch eine wohlfeile negative Idee: bloß nicht zu sein wie die USA. Nicht von Aufbruchstimmung wird Europa heute beherrscht, sondern von Zukunftsängsten und Selbstzweifeln, die sich mühsam hinter selbstzufriedenen Verweisen auf die ehrwürdigen alten Traditionen des Kontinents verbergen. Vor der Herausforderung durch China und Indien möchten wir uns am liebsten hinter protektionistischen Schutzwällen verstecken, um unsere Sozialstandards zu retten. Wenn islamistische Fanatiker die Religion benutzen, um unsere pluralistische, säkulare Lebensweise zu bedrohen und herabzusetzen, flüchten wir uns in eine Diskussion darüber, ob wir uns nicht doch auch lieber wieder in die vermeintlichen Gewissheiten unserer eigenen religiösen Werte zurückziehen sollen. Dabei wird vergessen, dass die europäischen Werte, auf die wir heute so stolz sind, nur traditionsbildend werden konnten, in soweit sie nach vorne gerichtet waren, und in soweit sie Europa ermöglichten, sich der Welt zuzuwenden, die Erfahrungen der Welt in sich aufzunehmen und zum Motor des Fortschritts zu werden.
Dass der Airbus sich in die Lüfte erheben konnte, zeigt, dass der europäische Erfindungs- und Pioniergeist nicht verschwunden ist. Doch Europa bleibt unter seinen Möglichkeiten, weil es in einer prekären Mischung aus Kleinmut, Selbstzufriedenheit und Größenphantasien gefangen ist. So lange es kein realistisches Verhältnis und Zutrauen zu seinen Möglichkeiten gefunden hat, sollte es zumindest auf pathetische Proklamationen seiner eigenen Bedeutung verzichten, die durch die Wirklichkeit nicht gedeckt sind.
Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als außenpolitischer Redakteur bei der "Welt am Sonntag". Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden "Weltwoche" und hatte als Redakteur und Autor der Wochenzeitung "DIE ZEIT" gearbeitet. Letzte Buchveröffentlichungen: "Die Tyrannei des Gemeinsinns - ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" und "Republik ohne Mitte".