Europa

"Beispiel Schottlands könnte Schule machen"

Blick auf die Ruine des Urquhart Castle am Loch Ness in den Schottischen Highlands
Blick auf die Ruine des Urquhart Castle am Loch Ness in den Schottischen Highlands © picture alliance / zb
Moderation: Nana Brink  · 12.09.2014
Wie verhält sich Brüssel, sollte Schottland unabhängig werden? Das ist völlig unklar, sagt der Politologe Robert Kaiser. Die Entscheidung werde aber sicherlich Einfluss auf andere Unabhängigkeitsbewegungen in Europa haben.
Nana Brink: Sie meinen es ernst: In sieben Tagen stimmen die Schotten über ihre Unabhängigkeit vom Vereinten Königreich ab, und es sieht gar nicht schlecht aus. Nach den letzten Umfragen ist eine Mehrheit sogar dafür. Die Schotten galten ja immer schon als renitent, aber dann fallen einem ja sogleich weitere Völkchen ein in Europa wie die Basken – oder die Katalanen: Die haben gestern zu Hunderttausenden demonstriert, die wollen nämlich am 9. November ein Unabhängigkeitsreferendum abhalten, was Madrid natürlich strikt ablehnt.
Ein prominenter Fürsprecher ist übrigens Pep Guardiola, der Bayerntrainer und Katalane. Oder Südtirol: Dort will man sich ja immer noch gerne auch von Rom lösen, wenn auch vielleicht in anderer Form. Gut zu sehen ist das immer bei der Fahrt über den Brenner an den Aufklebern: „Südtirol ist nicht Italien". Scheint also Schottland kein Einzelfall?
Robert Kaiser, Professor für vergleichende Politikwissenschaften an der Universität Siegen, untersucht seit Langem die Entwicklung unterschiedlicher Regionen in Europa. Schönen guten Morgen, Herr Kaiser!
Robert Kaiser: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Warum diese Autonomiebestrebungen gerade jetzt?
Kaiser: Im Moment sind sie natürlich sehr stark in den Medien präsent. Tatsächlich stellen wir aber fest, dass diese Bewegungen sich verstärkt haben ungefähr seit den 1980er-Jahren, was viel damit zu tun hat, dass es sich ja hier vielfach um ökonomisch sehr starke Regionen handelt, die unter den Bedingungen stärkerer europäischer und globaler Wirtschaftskonkurrenz nach mehr eigenen Gestaltungsmöglichkeiten suchen, die ihnen von den jeweiligen Zentralstaaten selten bewilligt werden. Und das ist ja ein Phänomen, das uns aus dem deutschen Bundesstaat auch nicht völlig unbekannt ist.
Brink: Und woher kommen jetzt diese Tendenzen? Oder scheint uns das jetzt so plötzlich, weil wir uns gerade so viel mit Schottland beschäftigen?
Wirtschaftliche Bedeutung stärkt das Autonomiestreben
Kaiser: Gut, vielen dieser Unabhängigkeits- und Autonomiebewegungen liegen natürlich kulturelle Differenzen in den jeweiligen Staaten zugrunde. Nicht zu Unrecht behaupten ja die Katalanen von sich, sie seien eine Nation. Auch Schottland ist eine Nation innerhalb Großbritanniens. Das heißt, die Ursache sind in der Regel kulturelle, vor allen Dingen auch sehr häufig sprachliche Autonomiebestrebungen. Aber wie ich schon sagte: Es sind eben sehr häufig starke ökonomische Regionen in den jeweiligen Nationalstaaten, das heißt, hier spielt vor allen Dingen auch die ökonomische Bedeutung und die Fähigkeit, über die eigene ökonomische Wettbewerbsfähigkeit alleine entscheiden zu dürfen, eine große Rolle. Und man kann ja schon die Frage stellen, wie sicher es wäre, dass Schottland die Unabhängigkeit anstreben würde, wenn es eben nicht über weitreichende Öl- und Gasvorkommen verfügen würde.
Brink: Was erhoffen sich dann diese Regionen? Haben sie keine Angst vor den Folgen? Also zum Beispiel bei den Schotten sieht man ja ganz selbstbewusst, nein, sie haben keine Angst, weil sie sagen, wir haben aber auch etwas finanziell im Hintergrund.
Kaiser: Das ist auf der einen Seite natürlich richtig. Auf der anderen Seite sind mit diesen Referenden natürlich erhebliche Unsicherheitsfaktoren verbunden. Ein ganz wichtiger Faktor ist zum Beispiel: Was geschieht eigentlich mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Union? Wenn Schottland sich tatsächlich als Ergebnis dieses Referendums unabhängig erklären sollte, wäre es mit diesem Tag eben nicht mehr Mitglied der Europäischen Union, und es ist im Moment völlig offen, wie die Europäische Union, etwa auf einen Aufnahmeantrag Schottlands, reagieren würde.
Brink: Also da würde ich gerne noch weiterhaken, aber erst noch mal zurück zu den einzelnen Regionen, vielleicht Schottland, und auch bei den Katalanen: Ist das den Leuten bewusst oder blendet man das dann einfach aus?
Risiken der Unabhängigkeit werden ausgeblendet
Kaiser: Das mag im Einzelfall unterschiedlich sein. In der schottischen Kampagne der Befürworter der Unabhängigkeit werden die potenziellen Risiken weitestgehend ausgeblendet. Hier werden vor allen Dingen naturgemäß die Vorteile einer Unabhängigkeit proklamiert, zu denen natürlich insbesondere gehört die Eigenständigkeit in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, die Eigenständigkeit in der politischen Gestaltungsfähigkeit und insbesondere auch die Fähigkeit, aufgrund der eigenen wirtschaftlichen Situation durchaus als unabhängiger Staat existieren zu können.
Wie dann aber diese Staaten, wenn sie denn mal unabhängig sind, in der EU, im globalen Wirtschaftssystem einbezogen werden können, diese Themen werden in der Regel – zumindest von den Befürwortern – gänzlich ausgeblendet. Auf der anderen Seite: Die Gegner der Unabhängigkeit tun sich nun auch nicht gerade mit einer sehr rationalen Beschreibung der Konsequenzen hervor. Wenn wir mal daran denken, dass den Befürwortern in Großbritannien wenig mehr eingefallen ist als die Drohung, die Schotten dürften nach der Unabhängigkeit nicht mehr das britische Pfund benutzen, ist das ja auch nicht unbedingt eine sehr konstruktive Auseinandersetzung mit dem schottischen Wunsch nach Unabhängigkeit.
Brink: Aber es muss sich ja – und das verwundert uns ja jetzt eigentlich, gerade in diesem Europa –, es muss sich ja unglaublich viel aufgestaut haben, dass es dann zu solchen Referenden kommt oder dass die Menschen, wie wir jetzt gesehen haben, zu Hunderttausenden auf die Straße gehen.
Kaiser: Ja, und da sind aus meiner Sicht zwei Faktoren entscheidend. Zum einen hat der Wunsch nach Eigenständigkeit und nach eigener Gestaltung der politischen und ökonomischen Bedingungen seit der Finanzkrise 2008 und Folgejahre deutlich zugenommen. Das hat damit zu tun, dass nicht alle Nationalstaaten, vor allen Dingen nicht die, in denen die Finanzkrise besonders verheerend war, in der Lage waren, die Folgen dieser Krise bis heute zu korrigieren. Da ist sicherlich Spanien das Paradebeispiel.
Das zweite Problem ist natürlich, dass viele nach Autonomie oder Unabhängigkeit strebende Regionen in den letzten Jahren auch wenig erfolgreich waren in Verhandlungen mit dem Nationalstaat um mehr eigene Rechte. Auch da ist insbesondere Katalonien ein gutes Beispiel, die ja seit Jahren versuchen, mehr individuelle Rechte zu bekommen, und dann in der Regel am spanischen Zentralstaat scheitern. Wenn dies dann alles in einer Krisensituation passiert, kann man sich leicht vorstellen, dass solche Unabhängigkeitsbewegungen deutlich an Zulauf gewinnen, selbst wenn sie Jahre vorher eigentlich kaum darstellbar gewesen sind.
Brink: Sie haben nun erwähnt vorher, dass es ja auch noch unabsehbare Folgen für die Europäische Union haben könnte. Das heißt: Was macht man dann mit einem Schottland? Ist das nun Mitglied in der EU oder ist es das nicht? Hat man sich in Brüssel auf solche Szenarien eigentlich vorbereitet? Momentan hat man ja den Eindruck, die gucken irgendwie ein bisschen angsterfüllt nach Schottland.
Schottland muss neuen EU-Antrag stellen
Kaiser: Gut, offiziell hat Europa für diesen Fall keine Strategie. Das wäre sicherlich auch nicht förderlich, weil man damit ja den Gruppen, die die Autonomie und die Unabhängigkeit erreichen wollen, noch in die Hände spielen würde. Klar ist – und das hat die Europäische Kommission mehrfach betont –, dass mit der Unabhängigkeit Schottlands es keine Mitgliedschaft in der Europäischen Union mehr gibt. Das heißt, Schottland müsste – wie jeder andere europäische beitrittswillige Staat auch – einen neuen Aufnahmeantrag oder doch zumindest eine Entscheidung des Europäischen Rates über eine erneute Mitgliedschaft suchen. Und da ist das Ergebnis völlig ungewiss, denn Sie können sich leicht vorstellen bei der Notwendigkeit einer einstimmigen Zustimmung aller übrig gebliebenen Mitgliedsstaaten, dass eine Zustimmung der spanischen Regierung etwa aus genannten Gründen sehr schwerfallen würde.
Brink: Wenn es nun wirklich gelänge, anders herum gefragt, also wenn die Schotten nun erfolgreich wären mit ihrem Referendum, also sich abspalten würden – macht das Schule?
Kaiser: Das würde mit Sicherheit Schule machen, insbesondere dann, wenn es den Schotten gelingen würde, zeitnah zurück in die Europäische Union zu kommen. Denn Sie dürfen ja nicht vergessen, dass durch die fortschreitende europäische Integration der nationale Rechtsrahmen in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in den letzten 20 Jahren an Bedeutung verloren hat. Überall haben wir eine, vielleicht nicht eine Dominanz, aber eine sehr starke Rolle des europäischen Rechtes, was quasi die einheitsstiftende Rolle des nationalen Rechtes mehr und mehr ersetzt hat. Das heißt, wenn es einem unabhängigen Schottland gelingen würde, relativ bald erneut in die Europäische Union aufgenommen zu werden, könnte ich mir sehr gut vorstellen, dass Unabhängigkeitsbestrebungen vor allen Dingen in Flandern und Katalonien sehr starken Zulauf bekommen würden.
Brink: Robert Kaiser, Professor für vergleichende Politikwissenschaften an der Uni Siegen. Danke für die Zeit und Ihre Einschätzungen!
Kaiser: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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