Eurokrise: Gerade die Deutschen sollten nicht kleinlich sein

Wilhelm Schmid im Gespräch mit Christopher Ricke · 31.12.2011
Der Philosoph und Glücksforscher Wilhelm Schmid hat sich für mehr Großzügigkeit der Deutschen zur Bewältigung der europäischen Krise ausgesprochen. Probleme ließen sich heutzutage in Europa "auf materielle Weise" lösen, sagte Schmid.
Christopher Ricke: Wie wird nun 2012? Ein neues Krisenjahr, in dem alles noch schlimmer wird? Ein Jahr des europäischen Zusammenbruchs? Ein Jahr des europäischen Aufbruchs? Vor allem: Was kann man selber tun außer zuschauen, wie kann man aktiv sein, anstatt sich passiv und fatalistisch der Zukunft und der Politik zu unterwerfen? Vielleicht ist man ja doch seines Glückes Schmied.

Ich habe mit Wilhelm Schmid gesprochen, er ist Philosoph, sein Schwerpunkt ist die Lebenskunstphilosophie, und an den Anfang des Gesprächs habe ich die Aussage gestellt, die wir in diesen Tagen immer wieder hören: Jede Krise birgt auch eine Chance. Herr Schmid, was hören Sie aus "jede Krise birgt auch eine Chance", Zweckoptimismus, Gottvertrauen oder was ganz anderes?

Wilhelm Schmid: Langeweile. Das hört man doch mittlerweile an jeder Straßenecke. Ich will ja nicht bestreiten, dass da vermutlich was dran ist, aber so viele Chancen haben wir aus den Krisen nun auch nicht gemacht. Die europäische Krise böte die Chance, endlich mehr Europa zu fabrizieren, aber da scheinen nicht so viele Menschen so begeistert davon zu sein.

Ricke: Vielleicht sind viele Menschen einfach zu sehr auch auf sich selbst bezogen, suchen ihr eigenes individuelles Glück?

Schmid: Ja, das sehe ich schon auch ein bisschen so. Ich hab ja selber auch über das Glück publiziert, aber mir wird mittlerweile ganz mulmig, wenn ich daran denke, was die Menschen vom Glück erwarten. Das kann das Glück nicht leisten. Und natürlich, ich verstehe ganz gut, wenn so viele Krisen sind, ziehen die Menschen sich natürlich zurück auf ihr privates Glück, soll es wenigstens da gut gehen, aber damit ist das Glück zum einen überfordert, und zum anderen wächst natürlich die Abkehr von den Problemen, die wir lösen sollten.

Ricke: Es gibt ja Menschen, die sagen, gut sein ist wichtiger als glücklich zu sein. Menschen, die so etwas sagen, die hart für andere arbeiten, sind oft religiös motiviert und begründen das dann auch mit Demut. Ist das vielleicht der richtige Weg?

Schmid: Ich gönne das jedem, aber es muss natürlich auch möglich sein, ohne religiös zu sein, arbeiten zu können und gut zu sein, und sehe das ja auch weit und breit. Es ist ja nicht so, dass die Hälfte der Bevölkerung, die nicht in irgendwelchen Religionen organisiert ist, dass die übermäßig kriminalmäßig auffallen würden, sondern das sind ganz normale Menschen, die sich auch ihren Kopf machen und auch ein Gewissen haben und sich auch bemühen. Und das scheint mir in der Tat ein bisschen wichtiger zu sein als das Glück, dass wir uns wieder stärker bemühen, das heißt, dass wir arbeiten, dass wir die Grundlage dafür schaffen, mithilfe von Arbeit Probleme auch zu lösen.

Ricke: Das individuelle Glück ist ja so schwer zu greifen, weil man es nicht klar definieren kann. Manche streben nach mehr Wohlstand, andere wollen für ihre Kinder das Beste, andere wieder möglichst schnell raus aus dem Arbeitsprozess, die Füße hochlegen. Was ist denn Ihre Definition?

Schmid: Im Grunde ist es nicht so schwer mit dem individuellen Glück. Zum einen natürlich sehr viel Zufall, auf den haben wir wenig Einfluss, aber um sich wohlzufühlen, muss ein Mensch nur wissen, was ihm gut tut, dann kann er das auch suchen und finden.

Mir tut eine Tasse Espresso jeden Tag gut - das ist nicht schwer, die Tasse Espresso zu kriegen. Die größere Schwierigkeit ist, die Menschen erwarten, dass sie sich dauerhaft wohlfühlen können, und das ist nun genau das, was das Glück halt gar nicht leisten kann. Es kann immer nur da sein für Momente und für gewisse Zeiten, aber das auf Dauer haben zu wollen, ist nicht möglich. Und wäre es möglich, wäre es auch nicht gut, denn dann würden wir endgültig einschlafen in diesem Leben.

Ricke: Wir leben in einer sehr reichen Region, da kann man sich solche Glücksmomente, solche Glücksaugenblicke sehr häufig, wenn auch nicht andauernd besorgen, dennoch sind die Menschen in den reichen Ländern der Welt so oft unzufrieden und unglücklich. Wie kommt das?

Schmid: Das ist die Grundlage jedes Wohlstands, deswegen, weil sie unzufrieden waren, haben sie daran gearbeitet, zufriedener zu werden. Und nun ist es halt so, dass das Leben nicht darauf eingerichtet ist, dass Menschen sich ständig zufrieden fühlen, von Grund auf nicht. Wenn Menschen dafür ausgelegt wären, zufrieden zu sein, dann wären sie ja gar nicht erst von den Bäumen runtergestiegen. Manche werden vielleicht auch sagen, wäre gut so.

Ricke: Sind wir also zu satt, um glücklich zu sein?

Schmid: Glück ist wie gesagt sehr, sehr relativ, und jeder, der jemals was Tolles genossen hat, weiß, das gibt es nicht auf Dauer, und wenn ich am nächsten Tag wieder versuche, mein Lieblingsgericht zu kochen und genauso zu genießen, dann schmeckt es aber fad. Also das nutzt sich ab, dieses Glück. Von daher sollten wir uns nicht wundern und uns auch nicht unbedingt abverlangen, so wahnsinnig glücklich zu sein, wie das anscheinend andere sind, was ich ehrlich gesagt gar nicht glaube.

Ricke: Herr Schmid, ich versuche noch einmal in die europäische Situation zu gehen. Wir leben ja in sehr glücklichen Zeiten, wir haben Jahrzehnte des Friedens in Europa, die europäische Einigung und nun die europäische Krise, die Europa zwar nicht militärisch, aber doch in seinen Grundstrukturen bedroht. Die Abwesenheit von Glück als Glück zu empfinden, das gelingt aber nicht, viele haben die Nase voll von Europa. Gibt es vielleicht dann doch eine Chance in dieser Krise, auch wenn diese Formulierung Sie so langweilt?

Schmid: Wollen wir uns daran erinnern, was wirklich schlimm ist. Schlimm ist Krieg und Bürgerkrieg, und den haben wir nicht Europa, und das hat etwas mit diesem Europa zu tun. Nun können wir in diesem Europa ganz offenkundig Probleme auch auf materielle Weise lösen, und das können zumal wir Deutschen, die wir so nett waren, viel zu arbeiten und daher auch was auf der hohen Kante zu haben.

Und ich würde sehr dafür plädieren, wie das andere auch tun: Nun rücken wir mal was davon raus, was wir auf der hohen Kante haben, und seien nicht kleinlich und agieren mit so einer Art Marshallplan. Wenn das zur Verfügung steht, wenn uns das gelingt, dann werden uns andere sehr dankbar sein und uns Dinge, die wir in der Vergangenheit auf uns geladen haben, auch eher vergessen.

Ricke: Ist das ein Appell an die Politik oder ist das ein Appell an den Einzelnen?

Schmid: Das ist ein Appell an den Einzelnen, weil die Politik kann nur auf der Basis des Einzelnen agieren. Wenn die Kanzlerin den Verdacht haben muss, die nächsten Wahlen zu verlieren mit einer ganz bestimmten Politik, dann wird sie die nicht einschlagen. Aber wenn die Einzelnen die Bereitschaft entwickeln, ja, ich bin bereit, etwas abzugeben von dem, was ich habe - natürlich wäre es schön, wenn auch hier diejenigen vorangehen würden, die ein bisschen mehr haben, aber erfahrungsgemäß kann man auf die ja lange warten.

Ricke: Der Philosoph Wilhelm Schmid, vielen Dank, Herr Schmid!

Schmid: Gerne!

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