EU-Wahl in Lettland

Wahlkampf mit russischsprachiger Minderheit

23:57 Minuten
Menschen stehen im März 2018 vor der russischen Botschaft in Riga, um zu wählen.
Russen, die in Lettland leben, stehen im März 2018 vor der russischen Botschaft in Riga, um zu wählen. © imago/Russian Look/Victor Lisitsyn
Von Gesine Dornblüth · 15.04.2019
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Russischsprachige Populisten und lettische Nationalisten treten in Lettland bei der EU-Wahl an. Ein Thema, bei dem beide Lager punkten: der Umgang mit den Russischsprachigen im Land. Ein Erbe der sowjetischen Ära.
Der Zentralmarkt in Lettlands Hauptstadt Riga. Es ist Samstagvormittag, Menschenmassen schieben sich vorbei an den Ständen mit Bekleidung und Haushaltswaren in die großen Lebensmittelhallen.
Vor einer Fleischtheke drängeln sich die Kunden. "Bekons", "Sardeles Kurzemes", "Doktora desa" – alle Preisschilder für die Wurst- und Fleischsorten in der Vitrine sind auf Lettisch. Die Verkäuferin aber spricht mit den meisten Kunden Russisch.
Eine Frau steht auf dem Wochenmarkt in Riga und verkauft Fleisch- und Wurstwaren.
Marktstand in Riga mit lettischen Preisschildern.© Deutschlandradio / Gesine Dornblüth
Gut die Hälfte der Bevölkerung Rigas ist russischsprachig. Zwar müssen laut Gesetz alle offiziellen Dokumente und alle Dienstleistungen in lettischer Sprache verfasst sein. Doch Russisch ist überall zu hören: In den Geschäften, in der Straßenbahn, in den vielen Cafes. Eigentlich ist das eine Erfolgsgeschichte, sagt Anhelita Kamenska vom Lettischen Zentrum für Menschenrechte. Sie ist Expertin für Minderheiten.
"Unsere Gesetze mögen sehr restriktiv sein, aber im Alltag wechseln die Leute fließend zwischen den Sprachen hin und her. Viele Verkäufer haben Handzettel auf Russisch unter dem Tresen, auch, wenn sie eigentlich gar nicht gedruckt werden dürfen. Ich würde sagen, die Leute haben sich mit der Situation arrangiert."
Und doch fühlen sich einige Russischsprachige in Lettland benachteiligt.

"Es gilt als unkultiviert, russisch zu sprechen"

Abends im Wohnzimmer von Surab Prtskhalaishvili und seiner Familie. Seine Frau Schanna trinkt Tee. Beide haben einen langen Arbeitstag in einer Werbeagentur hinter sich. Sohn Amiran ist 20 Jahre und Informatikstudent. Tochter Lina, 13 Jahre, übt Akkorde eines Songs von Kino, der legendären sowjetischen Rock-Band aus Leningrad.
Sie sprechen Russisch miteinander. In der Schrankwand stehen Harry Potter und die Krimis von Stieg Larsson auf Russisch. Eltern und Kinder können auch Lettisch, und Sohn Amiran absolviert sein Studium auf Englisch. Trotzdem fühlt er sich als Bürger zweiter Klasse.
"Ich weiß natürlich, dass die Letten um mich herum Russisch verstehen, aber es gibt Situationen, in denen gilt es als unkultiviert, Russisch zu sprechen. Einfach, weil es herrscht so eine Meinung in der Gesellschaft."
Lina besucht eine russische Schule. In Lettland gibt es viele davon. Auf dem Papier sind sie längst bilingual: Ein großer Teil des Unterrichts findet in lettischer Sprache statt. Vom übernächsten Schuljahr an soll der Unterricht auf Russisch noch weiter reduziert werden. Doch viele Lehrer können schlichtweg nicht genug Lettisch, um in der Sprache zu unterrichten.
"Die Bildung an den bilingualen Schulen funktioniert nur, weil die Eltern mithelfen und die Schulbücher ins Russische übersetzen, dann kommt ihr Kind in der Schule gut mit."
So macht es Schanna mit ihrer Tochter auch.

Europarat besorgt um Lettland

Der Umgang Lettlands mit den Russischsprachigen beschäftigt regelmäßig den Europarat. Der Ausschuss zum Schutz nationaler Minderheiten befand Anfang 2018, die Integrationsprozesse in Lettland würden durch ein Misstrauen der Mehrheit gegenüber den nationalen Minderheiten gebremst. Es geht dabei vor allem um Fragen der Einbürgerung. Ein Drittel der Russischsprachigen in Lettland, rund 230.000 Menschen, sind sogenannte "Nichtbürger". Auch Surab.
Surab und Schanna legen ihre Pässe auf den Tisch. Ihrer ist rot, seiner blau. "Pass" steht auf dem einen Ausweis, "Nichtbürger-Pass" auf dem anderen.
Vater, Mutter und zwei Kinder im Wohnzimmer, Portrait
Surab (l) lebt mit seiner Familie zwar in Lettland, gilt offiziell aber als "Nicht-Bürger".© Deutschlandradio / Gesine Dornblüth
"Bei mir steht "Staatsangehörigkeit: lettisch". Und bei dir, Surab? Die Kategorie Staatsangehörigkeit gibt es bei dir gar nicht."

Lettland will seine Identität schützen

Als Lettland unabhängig wurde, erhielten nur diejenigen die Staatsbürgerschaft, die schon vor 1940 dort gelebt hatten – und ihre Nachfahren. 1940 hatte die Sowjetunion das Baltikum besetzt. All jene, die danach dort angesiedelt wurden, erklärte Lettland, sobald es wieder unabhängig war, zu "Nichtbürgern", und ihre Kinder ebenso.
Mit der restriktiven Einbürgerungspolitik wollten die Letten ihre Identität und Sprache schützen. Seit 1995 können sich die "Nichtbürger" einbürgern lassen. Dafür müssen sie unter anderem einen Lettisch-Test ablegen, Fragen zur lettischen Geschichte beantworten, dem lettischen Staat Treue schwören. Viele haben das bisher getan. Surab lehnt es ab, aus Prinzip.
"Lettland ist meine Heimat, ich bin hier geboren. In diesem Haus lebe ich seit 1976. Ich finde, mir stehen dieselben Rechte zu wie jedem anderen Bewohner dieses Landes."
Als Nichtbürger sind Surab eine Reihe von Berufen verwehrt: Polizist, Staatsanwalt, Zollbeamter, Richter und andere Tätigkeiten, die als sicherheitsrelevant gelten. Er darf nicht im Staatsdienst arbeiten und er darf nicht wählen, nicht das Parlament, nicht bei der Europawahl, nicht mal lokale Abgeordnete.
Doch zugleich genießt er alle Vorzüge des Sozialsystems, kann mit seinem Nichtbürger-Pass frei innerhalb des Schengenraums reisen. Nichtbürger haben sogar einen Vorteil: Sie brauchen, anders als lettische Staatsbürger, kein Visum für Russland, wenn sie dort Verwandte besuchen wollen.
Wenn er wählen dürfte, würde er die "Russische Union Lettlands" wählen, erzählt Surab. Die Partei organisiert Proteste gegen die Bildungsreform. Im lettischen Parlament ist die "Russische Union" nicht vertreten, aber sie stellt einen Abgeordneten im Europaparlament. Er heißt Miroslaw Mitrofanow, und sein Assistent in Riga, Aleksandr Kusmin, leitet zugleich eine NGO, das Lettische Komitee für Menschenrechte.

Russische Union Lettlands

Im Flur der Organisation wellt sich der Linoleumboden, die Klappstühle vor der Tür sind leer. Außer Kusmin ist niemand da. Die Miete für das Büro zahlt Russland, genauer, die "Stiftung zur Unterstützung der Landsleute im Ausland". Die wurde auf Anordnung des russischen Präsidenten gegründet und wird unter anderem vom russischen Außenministerium finanziert.
Angehörige der russischsprachigen Minderheit in Lettland gedenken am sowjetischen Siegesdenkmal in Riga dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Sieg Russlands über Nazi-Deutschland.
Angehörige der russischsprachigen Minderheit in Lettland gedenken am sowjetischen Siegesdenkmal in Riga dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Sieg Russlands über Nazi-Deutschland.© AFP/ Ilmars Znotins
"Wir bekommen seit Jahren Projektgelder von der Stiftung. Früher haben sie auch Bücher finanziert. Wir machen das öffentlich, sind transparent. 2018 waren es rund 25.000 Euro."
Alexander Kusmin wurde in Lettland geboren, der 34-Jährige spricht neben seiner Muttersprache Russisch perfekt Lettisch, Englisch und Deutsch, hat in Riga sogar ein Jurastudium in englischer Sprache absolviert. Es gäbe in Lettland keine generelle soziale Benachteiligung der Russischsprachigen, räumt er ein. Aber es sei ungerecht, wenn Russen ihre Schulbildung und auch ein Hochschulstudium nicht in ihrer Muttersprache absolvieren dürften. Die "Russische Union Lettlands" will das mit Hilfe des EU-Parlaments ändern.
"Je tiefer unsere europäische Integration wird, desto größer werden die Chancen, Vielsprachigkeit auch bei uns zu respektieren. Immerhin hat die EU Vielsprachigkeit zu einem Wert erklärt. Und es gibt viele Beispiele. Nehmen wir Südtirol mit Italienisch und Deutsch, Dänisch in Schleswig Holstein, nehmen wir Finnland oder Brüssel."

Lettland ist anders als der Rest der EU

Anhelita Kamenska, die Expertin für Minderheiten beim Lettischen Zentrum für Menschenrechte, hält diesen Vergleich für nicht haltbar.
"Mit den Russischsprachigen in Lettland ist es ganz anders. Waren sie jemals der Gefahr ausgesetzt, sich zu assimilieren? In den vergangenen 25 Jahren gab es keine derartigen Wellen. Besonders hier in Riga trifft man auf viel russische Kultur. Ich sehe hier kein so großes Risiko, dass die Russischsprachigen ihre Identität verlieren."
Einige Letten fordern aber genau das: Dass die Russischsprachigen sich assimilieren. Populisten machen damit Politik.
Andris Cuda tritt aus seiner Werkstatt ins Freie. Auf dem Hof des Firmengeländes in Jurmala an der lettischen Ostseeküste stehen Klettergerüste und ein bunt bemalter Unterstand mit einem ausgeschnittenen Fenster und lettischen Wörtern an den Wänden.
"Dort steht ‘einkaufen‘. Die Kinder können dort Kaufladen spielen."
Andris Cuda, 35 Jahre, verheiratet, drei Kinder, baut Spielgeräte aus lettischer Kiefer. Außerdem sitzt er im Stadtrat von Jurmala, für die Nationale Vereinigung "Alles für Lettland". Die rechtspopulistische Partei erhielt bei der lettischen Parlamentswahl 2018 elf Prozent und ist Teil der Regierungskoalition.
Andris Cuda ist Handwerker und überzeugter Lette.
Andris Cuda ist Handwerker und überzeugter Lette.© Deutschlandradio / Gesine Dornblüth
Cuda spricht zwar auch Russisch, zieht aber Englisch vor. Lettisch sein, das treibt ihn um, deshalb ist er in die Politik gegangen. Letten und Russen trenne mehr als die Sprache, sagt Cuda.

"Diese einfachen Dinge schaffen Distanz"

"Was wir für gut halten, halten sie für falsch. Was uns schmerzt, schmerzt sie nicht. Dauernd gibt es Dinge, die die andere Seite nicht versteht. Wir Letten feiern Weihnachten. Russen feiern Neujahr. Das ist okay, aber du hast dann keine Berührungspunkte. Du kannst mit ihnen nicht zur Weihnachtszeit über Tannenbäume reden. Das sind einfache Dinge, aber sie schaffen Distanz."
Cuda macht sich auf den Weg zum Rathaus. Er muss zu einer Ausschusssitzung. Die Russischsprachigen, sagt er pauschal, hingen gedanklich in der Sowjetunion fest, schauten russisches Staatsfernsehen, sympathisierten mit Russlands Politik.
"Meiner Meinung nach ist es das Wichtigste für jeden Menschen, seine Wurzeln zu kennen und stolz auf diese Wurzeln zu sein. Wir aber entfernen uns von der lettischen Identität, wir fördern eine zweisprachige Gesellschaft. Statt eine starke Nation zu formen, fördern wir ein Land mit zwei Nationen."
Das Rathaus ist ein vierstöckiges Gebäude mit Sitzecken im lichtdurchfluteten Foyer. Eine Frau öffnet den Sitzungssaal, Andris Cuda begrüßt sie ein wenig kühl.

Lettische Russen wählen "Harmonie"

Elizabete Krivcova ist eine russischstämmige Abgeordnete von der Partei Harmonie. Die wird in erster Linie von Russen gewählt und kooperierte bis vor kurzem mit der Kreml-Partei Einiges Russland. Neuerdings nennt sie sich sozialdemokratisch, gilt aber vor allem als russlandfreundlich. Bei der Parlamentswahl erhielt sie die meisten Stimmen, knapp 20 Prozent, trotzdem ist sie nicht an der Regierung beteiligt. Mit Harmonie zu koalieren, gilt den meisten Parteien in Lettland als Tabu.
Krivcova wirkt ein wenig streng in ihrem grauen Sakko. Auch sie ist mustergültig integriert, spricht viele Sprachen, betreibt ein eigenes Anwaltsbüro. Die Partei Harmonie hat gegen die umstrittene Bildungsreform geklagt, die das Russische an den Schulen weiter einschränken soll, und Elizabete Krivcova hat die Klage vorbereitet.
"Da ich es für nötig halte, meine Muttersprache und Kultur zu erhalten, nennen viele meiner Gegner mich eine Agentin des Kremls. Sie geben mir zu verstehen, dass ich in diesem System überflüssig bin. Das ändert aber nichts an meiner Überzeugung, richtig zu handeln, im Gegenteil."

"Wir reden in unterschiedlichen Sprachen"

Krivcova taucht seit Jahren in den Berichten der lettischen Sicherheitsbehörden auf. Dort heißt es, sie vertrete russische Interessen und verbreite ein russisches Geschichtsbild.
"Meiner Bildung und meinen Überzeugungen nach bin ich viel europäischer als zum Beispiel die Partei ´Alles für Lettland`. Soziologisch gesehen, gibt es auch keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Russen und Letten. Wir kommen alle aus der Sowjetunion, wir wollen alle dichter an das Zentrum Europas heran, nur, dass wir darüber in unterschiedlichen Sprachen sprechen."
Im Streit um Sprache und Identität haben beide Seiten, Letten und Russen, gute Argumente. Anhelita Kamenska vom Lettischen Zentrum für Menschenrechte meint, die lettische Bevölkerung könne ruhig ein wenig gelassener mit der russischsprachigen Minderheit umgehen.
"Wir sind Teil der EU, wir gehören zum Schengen-Raum, zur NATO, wir hatten nie so starke Sicherheitsgarantien wie jetzt. Aber zugleich gibt es einige Unsicherheiten in der lettischen nationalen Identität. Wegen der Globalisierung, weil wir ein kleines Land sind. Und wegen des Konflikts in der Ukraine. Ich denke, es mangelt der lettischen politischen Elite an Vertrauen in die Minderheiten. Es fehlt der Wille für einen langfristigen Dialog mit ihnen."
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