EU-Wahl im Gespaltenen Königreich

Debakel für Labour und Tories

12:30 Minuten
Ein Anti-Brexit-Demonstrant hält Plakate von May und Corbyn in den Händen
Die beiden großen britischen Parteien - Tories und Labour - werden bei der EU-Wahl massiv Stimmen verlieren. © www.imago-images.de / Victor Szymanowicz
Von Friedbert Meurer |
Audio herunterladen
Wer einen harten Brexit will, wird bei der EU-Wahl für Nigel Farage stimmen. Seine Partei dürfte gut 30 Prozent erhalten, ähnlich wie das EU-Lager aus Grünen, Liberaldemokraten und "Change UK". Das verschiebt die Kräfteverhältnisse in der britischen Politik.
Die "Nigel"-Rufe kommen vom Band und stimmen das Publikum in Sunderland darauf ein, dass er wieder da ist: Nigel Farage, der Chef der neuen Brexit-Partei. Als Farage noch vorne schreitet, gibt es im Saal Standing Ovations. Anhänger halten blau-weiße Pappschilder hoch. Sie zeigen einen Pfeil, der die Richtung vorgibt. Wir wollen endlich raus aus der EU.
Farage erinnert zunächst an die triumphale Wahlnacht des Referendums, als das Ergebnis von Sunderland landesweit als eines der ersten bekanntgegeben wurde.
"50.000 Stimmen für den Verbleib in der EU, aber 83.000 dagegen."
Das Ergebnis war damals ein Schock, ein Vorbote für das Endergebnis.
Nigel Farage holte mit UKIP bei der EU-Wahl 2014 rund 27 Prozent der Stimmen im Vereinigten Königreich. Mit seiner neuen Brexit-Partei dürften es mehr als 30 Prozent werden.
Nigel Farage holte mit UKIP bei der EU-Wahl 2014 rund 27 Prozent der Stimmen. Mit seiner neuen Brexit-Partei dürften es mehr als 30 Prozent werden.© Mark Thomas / imago images
Nigel Farage schwelgt aber nicht lange in Erinnerungen, sondern greift Premierministerin Theresa May frontal an.
"Sie hat sich allen Forderungen von Monsieur Barnier unterworfen."
"Sie hat jede Beleidigung hingenommen von Donald Tusk."
"Und jeden Angriff auf unser Land vom scheußlichen Guy Verhofstadt."
May sei verlogen, heuchlerisch, völlig unfähig – Farage attackiert ohne Unterlass Premierministerin May. Und das Publikum geht begeistert mit.

Klimawandel-Leugner in Brexit-Partei

Unterstützung erfährt Farage u. a. von Ann Widdecombe. Die 71-Jährige mit ihren grauen Jahren ist fast noch mehr als Farage eine Reizfigur in Großbritannien, weil sie u. a. gegen Frauen im Priesteramt agitiert oder Sätze sagt wie: "Es gibt keinen Klimawandel, schaut doch nur mal aus dem Fenster". Jetzt richtet Widdecombe ihre Attacke gegen alle, die für ein zweites Referendum sind.
"Sie sitzen dann bei ihren Dinner-Partys und sagen: 'Sie wussten nicht, für was sie da gestimmt haben!' Wir haben ganz genau gewusst, wofür wir gestimmt haben!"
Der Moderator liest jetzt Fragen aus dem Publikum vor. Was sie, Ann Widdecombe, denn sagen würde, wenn sich Konservative und Labour doch noch einigen und gemeinsam einen "windigen Kompromiss" beim Brexit finden?
"Wenn der Deal windig ist und wir die EU nicht verlassen haben, dann übernehmen wir bei der nächsten Wahl das Unterhaus!"

Liberaldemokraten wollen Brexit stoppen

Ortswechsel. Ein Wohnzimmer in einem Privathaus in Wandsworth im Londoner Südwesten. Es gehört einer freundlichen älteren Dame. Sie ist Mitglied der Liberaldemokraten und hat ihr Haus für den Wahlkampf der Spitzenkandidatin der Partei geöffnet. Auf dem Wohnzimmerschrank reihen sich unzählige kleine Porzellanfiguren, Stühle und Tische sind zur Seite geschoben. Der örtliche Regionalvorsitzende der Liberaldemokraten stellt den etwa 30 Mitgliedern und Anhängern der Partei Irina von Wiese vor, eine gebürtige Deutsche.
Irina von Wiese sagt, sie sei es gewöhnt, dass ihr Name falsch ausgesprochen wird. "Wiese" statt "Weiß" sei richtig. Die Anwältin lebt seit 1996 in London, hat die britische Staatsbürgerschaft angenommen und spricht sich dafür aus, was alle hier im Raum wollen: ein zweites Referendum zum Brexit.
"Wir sind die einzige Partei mit der Botschaft, dass wir den Brexit stoppen wollen. Labour gehört nicht dazu, sie bekennen sich nicht eindeutig zu einem zweiten Referendum. Sie tun das nicht."
Jetzt werden Fragen an die Kandidatin gestellt. Ob sie, wenn sie gewählt werde, im Europaparlament Reformen anstoßen werde. Ja, antwortet von Wiese. Es sei z.B. keine gute Idee, dass das Europaparlament zwei Sitze habe, einen in Brüssel und einen anderen in Straßburg. Sie wisse aber, wie schwer das zu verändern sei. Dann die nächste Frage.
Was seien ihre Top-Prioritäten, wenn sie gewählt wird? Irina von Wiese antwortet, sie wisse es nicht. Alles sei jetzt so schnell gekommen, dass Großbritannien überraschend an der Europawahl teilnimmt. Sie wolle erst einmal helfen, dass es nicht zum Brexit kommt und dass das Vereinigte Königreich als Mitgliedsland weiter Einfluss auf die EU nehmen kann.
Von Wiese hat im Moment ganz andere Probleme, als die EU zu reformieren. Ihre Wahl gilt zwar als sicher, aber es ist völlig offen, wie lange sie dann Europaabgeordnete sein wird. Nur bis zum Sommer? Oder bis zum 31. Oktober? Oder darüber hinaus? Wenn das Unterhaus dem Brexit-Vertrag doch noch zustimmt, müssen alle 73 gewählten britischen Abgeordneten das Europaparlament sofort verlassen. Welche Mitarbeiter werden da unter diesen Umständen in ihrem Büro in Brüssel anheuern wollen?
Dass sie so sehr gegen den Brexit kämpfen will, habe mit ihrer Familie zu tun. Die Großeltern sind in den beiden Weltkriegen im Osten vertrieben worden. Für Irina von Wiese ist klar: die Länder Europas sollen zusammenstehen.
"Ich kenne sehr viele Wähler, die ihre Meinung geändert haben, und zwar nicht nur hier in London, sondern in ganz Großbritannien. Es geht ja einfach darum, dass wir jetzt viel mehr Informationen haben und ein zweites Referendum keine Wiederholung des ersten Referendums ist, sondern wirklich eine neue Frage. Und die neue Frage ist: Wollt ihr diesen Brexit oder wollt ihr keinen Brexit?"

Labour-Chef will unter Umständen zweites Referendum

Ortswechsel, Chatham in Kent. In einer ehemaligen Turnhalle gibt Labour-Chef Jeremy Corbyn den Startschuss für den Europawahlkampf seiner Partei. "Wir wollen das Land einen", lautet das Motto der größten Oppositionspartei. Corbyn versucht den Graben zwischen Brexit-Befürwortern und Gegnern dadurch zu überwinden, dass er sich alle Optionen offenhält. Wenn Theresa May Kernforderungen Labours erfüllt – zum Beispiel eine Mitgliedschaft in der EU-Zollunion, dann will man dem Brexit-Vertrag zustimmen. Jeremy Corbyn gibt dem Publikum zu bedenken, dass die Partei doch versprochen hat, das Ergebnis des Referendums von 2016 zu akzeptieren.
"Über 17 Millionen Menschen haben dafür gestimmt, dass wir die EU verlassen. Als demokratische Sozialisten dürfen wir das nicht ignorieren. Wir haben im Unterhaus für den Antrag auf Austritt nach Artikel 50 gestimmt und in unserem Wahlkampfprogramm versprochen, das Ergebnis des Referendums zu respektieren."
Das Publikum schweigt. 80 Prozent aller Mitglieder von Labour wollen ein zweites Referendum.
Das Bild zeigt Jeremy Corbyn bei einer Rede im britischen Unterhaus.
Labour-Chef Jeremy Corbyn während der Brexit-Debatte im britischen Unterhaus.© dpa-bildfunk / PA Wire / House Of Commons
Der letzte Parteitag hat es für den Fall beschlossen, dass Theresa May mit ihrem Vertrag scheitert und Labours Antrag auf Neuwahlen abgelehnt wird. Beides ist eingetreten.
"Wenn wir keinen vernünftigen Vertrag bekommen, der unseren alternativen Vorstellungen entspricht, oder wenn es nicht zu Neuwahlen kommt: dann ist Labour für eine Volksabstimmung."
An dieser Stelle gibt es erstmals Applaus für Corbyn. Viele Briten empfinden Labours Brexit-Kurs als unklar. Wer für ein zweites Referendum ist, neigt etwa dazu, die Liberaldemokraten zu wählen, weil Labours Versprechen doch vage ist. Und wer umgekehrt für den Brexit ist, fühlt sich bei Labour auch nicht richtig aufgehoben. Labour will allen gefallen – und droht Wählerinnen und Wähler in beide Richtungen zu verlieren.

Stimmung hat sich leicht gegen den Brexit gewandelt

"Wir spüren doch an den Haustüren, dass die Leute jetzt anders denken. Das Land ist furchtbar gespalten, vieles wird durch die Medien beeinflusst."
"Wenn Sie mitten auf der Straße stehen, werden Sie von beiden Seiten überfahren. Nicht nur unsere Mitglieder und Wähler wollen eine Volksabstimmung, sondern auch die Mehrheit der Bevölkerung, die jetzt die wahren Kosten eines Brexits kennt."
Die Umfragen zeigen in der Tat jetzt eine Mehrheit gegen den Brexit, aber sie ist vergleichsweise knapp. Beide Seiten sind sich drei Jahre nach dem Referendum nicht näher gekommen – ganz im Gegenteil. Um die 40 Prozent der Briten sind sogar für einen harten Brexit, bei dem das Vereinigte Königreich die EU ganz ohne Vertrag verlässt. Und gut 50 Prozent sind für eine neue Volksabstimmung.
Auch Labour ist zerrissen. Angeblich wollen 20 oder 25 Labour-Abgeordnete für Theresa Mays Vertrag stimmen, wenn er Anfang Juni wieder im Unterhaus vorgelegt wird. Labour wird bei den Europawahlen vermutlich deutlich weniger Stimmen bekommen als die Brexit-Partei. Die liegt mit 34 Prozent in den Umfragen klar vorne, mehr als Labour mit 22 und Konservative mit kläglichen 11 Prozent zusammen. Die Europawahl könnte für die großen Parteien zum Menetekel werden für mögliche Neuwahlen des Unterhauses und dabei das Parteiensystem ins Rutschen bringen.
Denn vielen Abgeordneten von Konservativen und Labour klingt als Mahnung in den Ohren, was Nigel Farage während seiner umjubelten Kundgebungen nicht müde wird, allen einzuhämmern.
"Kein Brexiteer kann für Labour oder die Konservativen stimmen. Sie werden für unsere Brexit-Partei stimmen!"
Mehr zum Thema