EU und Chile

Handelsabkommen bringt Demokratie in Gefahr

07:03 Minuten
Menschen stehen in Chile Schlange, um über eine neue Verfassung abzustimmen.
Chile hat abgestimmt: Das Land bekommt eine neue Verfassung. Die alte aus der Pinochet-Dikatur wird ersetzt. © Getty Images / Nur Photo / Claudio Abarca Sandoval
Von Sophia Boddenberg · 10.11.2020
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Die EU und Chile verhandeln ein Freihandelsabkommen, das Investoren schützen soll. Zeitgleich wird in Chile an einer neuen Verfassung gearbeitet – für mehr soziale Rechte und besseren Umweltschutz. Das EU-Abkommen könnte das erschweren.
Im Oktober wird aus dem Schülerinnen-Protest ein nationaler Aufstand. Vergangenes Jahr gehen Jugendliche gegen höhere Fahrpreise auf die Straße. Antonia Santos gehörte zu den ersten.

"In Chile gibt es ein neoliberales Modell, das in der Diktatur eingeführt wurde und immer noch in Kraft ist. Das Modell ist die Ursache von all den sozialen Problemen, die es heute gibt. Deshalb muss sich das Modell ändern, damit sich alles ändern kann."
Die Pinochet-Diktatur hat in den Siebziger- und Achtzigerjahren in Chile Bildung, Renten und Gesundheitsversorgung privatisiert, die Rolle des Staats auf ein Minimum reduziert. Private Unternehmen bekamen mehr Rechte als die Bürger des Landes.
Die Folgen sind bis heute zu spüren: Ein Jahr nach Beginn des Aufstands laufen 2500 Klagen wegen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteure – verurteilt wurden nur wenige. Trotzdem treibt die Regierung von Sebastián Piñera, Bruder von Pinochets Arbeitsminister, ein Freihandelsabkommen zwischen Chile und der EU voran. Tomás Hirsch, chilenischer Parlamentsabgeordneter der Opposition verurteilt das.

"Wir haben eine klare Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Chile erwartet. Das hätte bedeutet, keine Verhandlungen mit der Regierung von Sebastián Piñera weiterzuführen, solange die Verantwortlichen nicht verurteilt wurden. Das ist nicht passiert."

Die meisten Freihandelsabkommen der Welt

Mit 26 Abkommen ist Chile eines der Länder mit den meisten unterschriebenen Freihandelsabkommen der Welt. Bei den Verhandlungen mit der EU geht es darum, einen Vertrag von 2003 zu modernisieren. Der Handel hat sich seitdem verdoppelt. Chile exportiert vor allem Rohstoffe und Agrarerzeugnisse wie Kupfer, Lithium, Avocados und Wein, während Europa Fahrzeuge, Flugzeuge und Maschinen nach Chile liefert.

"Die Wirtschaftspolitik Chiles, seine internationalen Beziehungen und Abkommen befinden sich im Herzen des neoliberalen Wirtschaftsmodells. Die Freihandelsabkommen sind nicht neutral, sondern sind Teil einer Ideologie – und sie können zur Falle werden für die kollektiven Entscheidungen der chilenischen Gesellschaft."
Die EU will unter anderem einen Investitionsgerichtshof einführen, um Konflikte zwischen Investoren und Staaten zu lösen. Der Gerichtshof soll private Schiedsgerichte ersetzen. Beide Systeme stehen in der Kritik. Sie ermöglichen es, dass transnationale Konzerne Staaten auf Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe verklagen, wenn ihre Gewinne durch politische Entscheidungen beeinträchtigt werden. Gus Van Harten ist Professor für Verwaltungsrecht an der York University und Experte in Investitionsrecht.
Ein Wagen fährt über eine Straße durch einen Salzsee in der Atacama-Wüste.
Die Atacama-Wüste, eines der größten Abbaugebiete für den begehrten Rohstoff Lithium.© picture alliance / Construction Photography / Photosh / Oliver Llaneza Hesse
"Das zentrale Problem ist, dass dieses Gerichtssystem auf den Privilegien der Superreichen basiert. Wenn man einen Staat verklagt, ist man entweder ein multinationales Unternehmen, größer als sich irgendjemand vorstellen kann, oder eine sehr wohlhabende Person. Es ist selten, dass andere Zugang zum System haben. So wird der staatliche Regierungsapparat an die Interessen der Investoren angepasst."

Welle von Schiedsgerichtsklagen droht

Ein Drittel der Direktinvestitionen in Chile kommen aus der EU: Man findet sie im Energiesektor, im Bergbau oder in der Telekommunikation, aber auch im Gesundheits- und Bildungsbereich oder in den privaten Rentenfonds. Wenn Chile in einer neuen Verfassung beispielsweise eine staatliche Rentenversicherung vorsieht oder den Abbau von Rohstoffen einschränkt, könnten europäische Investoren den chilenischen Staat verklagen – oder zumindest damit drohen.

"Den Chilenen droht eine Welle von Schiedsgerichtsklagen, wenn irgendeine Reform die unternehmerischen Prioritäten multinationaler Konzerne betrifft. Wenn Rohstoffe entprivatisiert werden zum Beispiel. Aber auch in anderen Bereichen. Kolumbien wurde zum Beispiel mit einer Klage gedroht, weil das Verfassungsgericht entschieden hat, dass private Gesundheitsunternehmen bestimmte Medikamente unter Umständen kostenlos anbieten müssen."
Fast alle Vorschläge in den laufenden Verhandlungen zwischen Chile und der EU stammen von europäischer Seite. Die Kapitel zu Nachhaltiger Entwicklung, Arbeitsrechten und Geschlechtergleichheit sind explizit von dem Streitbeilegungsmechanismus ausgeschlossen. Felipe Lopeandía, der Chefverhandler auf chilenischer Seite, meint:

"Ich habe den Eindruck, dass die Europäische Union ihre Position nicht verändern wird. Sie schlägt in diesen Fällen vor, ein Expertenpanel einzuberufen, das eine Empfehlung ausstellt, wenn es zu Problemen bei der Umsetzung dieser Verpflichtungen kommt."

Menschenrechte müssen geschützt werden

Das könnte passieren, wenn etwa ein Unternehmen die Umwelt verschmutzt oder Arbeitsrechte verletzt. Häufig finden Menschenrechtsverletzungen in Chile nicht direkt durch europäische Unternehmen statt, sondern in der Lieferkette. So leiden beispielsweise viele Gemeinden, in denen Avocados angebaut werden, unter Wassermangel. Saisonarbeitende erkranken wegen des Einsatzes giftiger Pflanzenschutzmittel. 40 Prozent der Chilenen arbeitet ohne jeglichen Arbeitsschutz. Alicia Muñoz ist Kleinbäuerin und Mitglied von Anamuri, einer Vereinigung von Kleinbäuerinnen, Saisonarbeiterinnen und indigenen Frauen.
"Die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes besorgt uns Bäuerinnen. Es wird keine Politik gemacht, um eine Landwirtschaft für die Ernährung der Bevölkerung zu entwickeln, sondern nur für den Export. Die Arbeiterinnen werden nicht als Menschen behandelt. Das haben wir jetzt auch mit der Pandemie gesehen. Wer sich ansteckt, wird sofort entlassen. Wir werden wie Wegwerfprodukte behandelt."

Deshalb müsse es verbindliche Vorgaben geben, um Menschenrechte in Freihandelsabkommen zu schützen. Das fordert etwa Judith Schönsteiner vom Menschenrechtszentrum der Universidad Diego Portales in Santiago de Chile.
Demonstranten feiern in Santiago, Chile.
Feiern nach dem Referendum für eine neue Verfassung: Das könnte ein erster Schritt hin zu einem Sozialstaat sein.© picture alliance / Anadolu Agency / Alejandro Olivares
"Die Kapitel zu Umwelt, Arbeitsrechten und so weiter sind normalerweise die unverbindlichen Kapitel, die nicht justizierbar sind, man sie also nicht einklagen kann. Und besonders kann sie niemand einklagen, der Opfer ist. Das müsste der Staat übernehmen, diese Klage zu führen. Und das wird meistens nicht gemacht."
Trotz Kritik: Die Europäische Kommission und die chilenische Regierung wollen die Verhandlungen möglichst im kommenden Jahr abschließen.
Die Recherche zu diesem Beitrag entstand gemeinsam mit Loreta Contreras und Maria Cariola mit Unterstützung eines Stipendiums der Heinrich-Böll-Stiftung.
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