EU-Reformen

Der weiße Elefant der Regierungsbildung

Angela Merkel beim Gipfeltreffen Östlichen Partnerschaft in Brüssel zwischen zwei Fahnen.
Für CDU-Chefin Angela Merkel und die anderen Parteivorsitzenden spielte die EU-Politik bei den Sondierungsgesprächen kaum eine Rolle. © picture alliance/Belga/dpa/Thierry Roge
Von Ulrike Guérot · 27.11.2017
Kraftwerke, Einwanderung, Steuern und Soli: Viele Dinge waren Thema bei den Sondierungsgesprächen und werden wohl auch die Schlüsselprojekte der nächsten Verhandlungen sein. Was dabei völlig außen vor bleibt, ist das Kernprojekt der letzten Jahrzehnte.
"Europa ist wie eine Zier, doch besser geht es ohne ihr". Schon im Wahlkampf kein Thema, kam Europa auch bei Jamaika kaum vor. Die Zukunft des Landes hing wahlweise an der Abschaffung des Benzinmotors, am Ausstieg aus der Kohle oder am Familiennachzug für Flüchtlinge. Nicht, dass das nicht wichtig wäre. Aber die Zukunft des Landes?
Eigentlich kann man da nur fragen: Wo leben wir denn? Wie kommt es eigentlich, dass Europa wie ein weißer Elefant auf dem Koalitionstisch steht. Von allen gesehen, aber von Niemandem benannt? Dass Deutschland so gar keine Eile besteht, irgendwie grundsätzlich über Europa nachzudenken, während es kaum noch ein europäisches Land gibt, das von keiner politischen Krise befallen ist? Und wer in Deutschland glaubt eigentlich, dass die Nummer des "Island of the happy, wealthy and beautiful" inmitten eines zusammenkrachenden Europas eine von Erfolg gekrönte Strategie sein könnte?

Kritik im Ausland ficht Deutschland nicht an

Auf der einen Seite der Grenze wartet Macron händeringend auf eine deutsche Antwort zu seinen Europa-Plänen. Auf der anderen Seite gibt es in Polen jenseits einer Justizreform fast jeden Abend im Fernsehen blanken Revanchismus gegen Deutschland.
Der ehemalige griechische Finanzminister, Yanis Varoufakis, hat ein Buch über die Eurokrise geschrieben, das sich wie eine Anklageschrift gegen Deutschland liest - über das deutsche Zeitungen indes gepflegt hinwegschweigen. Ungarische Freunde bemühen inzwischen das Wort eines "deutschen Industrie-Imperialismus". Der Brexit wartet nicht auf die deutsche Regierungsbildung. In Italien ist Cinque Stella zur stärksten Partei geworden. In Tschechien regieren dubiose Milliardäre. Ganz Brüssel beschwert sich hinter vorgehaltener Hand über das "deutsche Europa". Aber Deutschland ficht das alles nicht an, wie jene drei Affen: Ohren zu, Mund zu, Augen zu. Die AfD lässt grüßen.

Den "Opferlamm-Diskurs" beenden

Dabei wäre nicht nur die Zeit reif, sich endlich Europa zuzuwenden. Auch die Kassen sind voll wie selten. 23 unerwartete Milliarden hat die jüngste Steuerschätzung den Koalitionären in das Staatssäckel gespült. Die Wirtschaft boomt. Der DAX macht Höhenflüge. Wäre es da nicht angebracht, jenen gebetsmühlenartigen Opferlamm-Diskurs "Deutschland muss für alle zahlen" – der maßgebliche Grund für die deutsche Europa-Ziererei – einfach einmal zu beenden? Denn Lügen haben kurze Beine.
Die Frage ist nicht, ob Deutschland für alle bezahlt, sondern eher, wann es anfängt, die Eurozone so umzugestalten, dass sich auch die anderen Länder in ihr wohlfühlen. Genau darauf zielen die Vorschläge von Macron.

Handelsbilanzüberschüsse, das "German problem"

Nun ist bekannt, dass Halter von Privilegien ihre Privilegien ungern und selten freiwillig aufgeben. Was also muss passieren, damit Deutschland seine Privilegien aufgibt, damit das "German problem", wie jüngst der Economist – wahrlich kein marxistisches Sponti-Blatt – titelte, aufhört, nämlich das Problem der deutschen Handelsbilanzüberschüsse: Sie sind der eigentliche Stachel der Eurozone.
Der deutschen Sozialwissenschaftlers Fritz Scharpf zum Beispiel argumentiert überzeugend, dass Deutschland entweder die Teilhabe der anderen an den Gewinnen der Eurozone organisiert – oder aber der Euro in seiner derzeitigen Form keine Zukunft haben dürfte; und sei es, weil die anderen Ländern politisch implodieren.
Das ist die eigentliche, um nicht zu sagen: die einzige Zukunftsfrage für Deutschland! Sie müsste mitten auf dem nächsten Koalitionstisch stehen beziehungsweise um sie herum müsste der nächste Wahlkampf geführt werden.

Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung

Dass sich vor diesem weißen Elefanten in Europa indes alle Parteien wegducken, mag man verstehen. Es hilft nur nichts. Mit zunehmenden Befremden müssen zwei Dinge zur Kenntnis genommen werden: Die Entfernung Deutschlands von seiner Tradition in der Europapolitik und damit seiner Geschichte. Und die zunehmende Diskrepanz zwischen deutscher Selbst- und Fremdwahrnehmung in Europa. Beides verheißt nichts Gutes.

Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des "European Democracy Lab" in Berlin, und seit April 2016 Professorin und Departementsleiterin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems in Österreich.

Ulrike Gúerot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung, zu Gast in einer Talksendung.
© imago
Mehr zum Thema