"Wir müssen ein europäisches Asylsystem schaffen"
Die EU-Innenminister werden sich über eine Verteilung der Flüchtlinge einigen, glaubt der liberale Europa-Politiker Guy Verhofstadt. Langfristig benötige man aber eine Änderung der europäischen Verträge, um mehr Gemeinsamkeit in der EU zu erreichen - und das nicht beim Thema Migration.
Deutschlandradio: Zum Anfang eine persönliche Frage: Ein früherer belgischer Premierminister im Europäischen Parlament, das ist ja nicht gerade eine gewöhnliche Karriere. Also, was hat Guy Verhofstadt ins Parlament geführt?
Guy Verhofstadt: Nun, meine europäische Überzeugung. Schon als Premierminister habe ich einige Bücher über Europa veröffentlicht, eins davon mit dem Titel "Die Vereinigten Staaten von Europa". Ich kann Ihnen sagen, da war ich dann nicht mehr das beliebteste Mitglied im Europäischen Rat. Alle fragten: Was soll das denn? Sie sind Premierminister und publizieren ein Buch über die Vereinigten Staaten von Europa? Das Buch erschien 2005 und ich erwähne dieses Beispiel, um zu zeigen, dass ich fest an die Zukunft der Europäischen Union als einzigen Weg nach vorn für diesen Kontinent glaube.
Deutschlandradio: Nun ist ja Belgien eher ein schwieriges Land zu regieren, das ständige Lavieren zwischen den Interessen der Wallonie und den Flamen. Ist das für Sie so eine Art Déjà-vu-Erlebnis jetzt im Europäischen Parlament, mit den verschiedenen Kulturen, mit den Interessen von 28 Mitgliedsstaaten?
Verhofstadt: ... aber natürlich kann man es nicht vergleichen. Wir scherzen manchmal: "Belgien ist wie ein kleines Europa", aber es ist etwas ganz Anderes. 28 Staaten auf der Grundlage von Einstimmigkeit zu regieren, - und wenn Einstimmigkeit nicht vorgeschrieben ist, so wenden wir sie doch an. Das ist etwas anderes als ein Land mit Sprachgemeinschaften und Regionen [ Anm: die Grundstrukturen des belgischen Föderalismus]. Das ist zweifelsohne wichtig: Wie Deutschland ist Belgien ein Föderalstaat, und er funktioniert, wenn auch mit Schwierigkeiten. Deutschland ist ein Föderalstaat mit vielen Unterschieden im Inneren, kulturell, religiös... aber er funktioniert. Für mich sind Deutschland und Belgien, ebenfalls ein Föderalstaat, Vorbilder für Europa. Wenn wir uns eine föderale Struktur für Europa ausdenken, dann bringt das womöglich bessere Ergebnisse als die derzeitige Flickschusterei an Regierungszusammenarbeit.
"Es gibt keine europäische Einwanderung- und Asylpolitik"
Deutschlandradio: Es gibt jetzt diese schwierige Flüchtlingskrise. Denken Sie, dass Europa wirklich funktioniert?
Verhofstadt: Nein, aber es ist nicht Europa, das versagt, sondern das Problem ist dass wir nicht genug Europa in der Flüchtlingskrise sehen können. Seien wir ehrlich: es gibt keine europäische Einwanderung- und Asylpolitik. Wir haben aber schon mehrmals beschlossen, dass wir eine haben sollten. Ich erinnere mich an meinen ersten Europäischen Rat als belgischer Premierminister 1999 in Tampere, im Norden Finnlands. Und dort haben wir beschlossen, eine europäische Immigrations- und Asylpolitik zu entwickeln. Und was sehen wir heute, 15, 16 Jahre später? Wir haben überhaupt nichts. Im Ernst: Die Asylpolitik, das Dublin-Prinzip, das ist ja das Gegenteil einer europäischen Lösung. Man sagt einfach, die Griechen und die Italiener sollen sich darum kümmern, das ist deren Verantwortung.
Es gibt keine gemeinsame Immigrationspolitik. Wirtschaftsmigration fällt in die nationale Kompetenz, es gibt 28 verschiedene Systeme in Europa. Es ist nicht wie in den Vereinigten Staaten mit der green card oder in Kanada mit der green card, nein, wir haben 28 Systeme in Europa. Es gibt keine gemeinsame Grenzsicherung. Das ist eine Krise aus ‚zu wenig' Europa, ganz ähnlich wie bei der Eurokrise. Auch dort fehlt es an europäischen Institutionen, die sich mit der Krise befassen können.
Deutschlandradio: Im Juli hatten wir ja die Krise mit Griechenland, viele haben ja auch vor dem Auseinanderbrechen der Eurozone gewarnt, bei einem Austritt Griechenlands. Seit Ende August schwelt jetzt die Flüchtlingskrise. Ist jetzt nicht auch klar, dass Europa vor einer viel größeren Herausforderung steht? Ist das jetzt der eigentliche Test, die eigentliche Bewährungsprobe?
Verhofstadt: Ich denke, es ist eine tiefere Krise als die Eurokrise, da stimme ich Ihnen zu... Ich denke, das ist ein echter Test, ja. Ein Test und auch eine Chance. Sie wissen ja, Herausforderungen haben zwei Seiten: Einerseits fürchtet man sie, und sie können auch das ganze europäische Projekt zum Fallen bringen, andererseits sind sie auch eine riesige Chance, einen großen Sprung nach vorne zu wagen und um festzustellen: Wir müssen das jetzt gemeinsam machen. Migration, nein, es ist eine Flüchtlingsbewegung, mit der wir es jetzt zu tun haben, und die kann nur von einem geeinten Europa bewältigt werden.
Beweise dafür gibt es genug: Die Tragödien auf dem Mittelmeer, die Tragödien in Lastwagen und die Unfähigkeit der Mitgliedsstaaten damit umzugehen. Es wäre die Gelegenheit, Institutionen einzurichten, die wir jetzt nicht haben: ein gemeinsames, quotenbasiertes Asylregime, zweitens ein europäisches Einwanderungssystem, denn jetzt gebrauchen bzw. missbrauchen die Migranten das Asylsystem, um nach Europa zu gelangen. Aber dann brauchen wir auch einen gemeinsamen Grenzschutz, ein gemeinsames Management der EU-Außengrenzen.
"Von Solidarität ist derzeit keine Spur"
Deutschlandradio: Bleiben wir doch bei dem Punkt. Von Solidarität ist derzeit keine Spur, muss man sagen. Jeder macht eigentlich, was er will. Schengen wurde von vielen Mitgliedsstaaten ausgesetzt. Ungarn hat einen Zaum gebaut. Sehen Sie jetzt den Kern, sozusagen das Herz der Union bedroht?
Verhofstadt: Ja. Das denke ich. Das Herz Europas, der Kern des europäischen Projekts ist dadurch bedroht. Denn entweder wir fallen zurück in die Zeit vor Schengen, mit nationalen Grenzkontrollen, nationalen Einwanderungs- und Asylsystemen etc., oder wir machen einen Sprung nach vorn und erkennen: wir brauchen ein europäisches Einwanderungssystem, ein europäisches Asylrecht etc. Das ist die Wahl, vor der wir stehen. Außerdem ist diese Flüchtlingskrise auch eine enorme Lektion: sie lehrt uns, dass wir bei Konflikten in unserer Nachbarschaft nicht so tun können, als gingen uns die nichts an. Blicken wir den Tatsachen ins Auge. Die meisten Flüchtlinge kommen aus Syrien. Und warum kommen sie aus Syrien? Weil wir uns vor vier Jahren nicht der Verantwortung in dem Konflikt dort gestellt haben, weil wir weggeschaut haben - wie die Amerikaner auch. Und wir haben gesagt: Ach nein, das ist nicht unser Problem, wir helfen der demokratischen Opposition in Syrien nicht. Und durch das Wegschauen haben wir zwei Dinge geschaffen. Erstens: den IS, der zuvor nur ein Problem im Irak war und gleichzeitig eben die Flüchtlingskrise. Das ist die Folge einer nicht vorhandenen gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik in Europa. Wir sind nicht fähig, in dem Konflikt zu helfen, ihn zu beenden. Und als Resultat haben wir nun die Flüchtlingskrise und Terror durch den Islamischen Staat.
Deutschlandradio: Es gibt ja nun eine Debatte über mögliche Kürzungen der jährlichen Finanzmittel für die Länder, die die Quote ablehnen. Halten Sie das jetzt für eine gute Idee?
Verhofstadt: Ich halte das für keine gute Idee, denn das ruft mehr Widerstände hervor, als es zu einer Lösung beitragen kann. Ein Quotensystem kann die Lösung sein, aber nur als letzter Teil eines umfassenderen Entwurfs. Das heißt, wir müssen erst ein europäisches Asylsystem schaffen, eine Politik für wirtschaftliche Einwanderung und eine gemeinsame Grenzkontrolle, und dann kann ein Quotensystem Teil der Lösung werden. Ich denke, dann können wir die Position einiger der Vysegrad-Länder wie Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakei, überwinden, wenn die Quoten Teil eines globalen Konzepts sind.
Deutschlandradio: Wir haben jetzt eine Debatte über die Verteilung von 160.000 Flüchtlingen in Europa. Man muss sagen: Deutschland rechnet ja allein mit einer Million in diesem Jahr. Ist das also letztlich nicht alles ein Tropfen auf dem heißen Stein?
Verhofstadt: Ich stimme Ihnen zu, denn 160.000 sind 0,03 Prozent der europäischen Bevölkerung. Das Problem sind nicht die 160.000, das Problem ist: Wenn wir den Konflikt in Syrien nicht beenden, wenn wir die finanziellen Mittel für die Flüchtlingslager unter dem Schirm der UN nicht auftreiben, dann werden Millionen in die EU strömen. Und das ist normal! Schauen Sie: Warum sind die Leute gekommen? Sie waren gegen Assad, viele, so denke ich, haben in der Freien Syrischen Armee gekämpft. Wir haben nichts getan, um ihnen zu helfen. Sie sind in die Flüchtlingslager im Libanon, in Jordanien und in der Türkei gegangen. Dort sind sie seit zwei, drei Jahren, ohne Zukunftsperspektive.
"Das Problem ist vielleicht nicht Angela Merkel"
Deutschlandradio: Wie bewerten Sie die Rolle Deutschlands jetzt? War die Bundesregierung, war die Bundeskanzlerin nicht auch naiv? Hat sie nicht auch einen politischen Fehler gemacht, als man gesagt hat, die syrischen Flüchtlinge sind jetzt willkommen?
Verhofstadt: Nein, das war die richtige Haltung. Das Problem ist vielleicht nicht Angela Merkel, das Problem ist der Mangel an Solidarität bei anderen Mitgliedsstaaten der EU. Der einzige Fehler von Angela Merkel war wohl, dass sie mit einer positiveren Einstellung bei den anderen Mitgliedsstaaten gerechnet hat. Aber das ist in meinen Augen kein Fehler. Sie hat's richtig gemacht, und ich würde der Analyse nur hinzufügen: wir müssen das Problem auf europäischer Ebene lösen. Denn kein Land in der EU, nicht einmal Deutschland, könnte das Problem allein lösen. Die Zahlen sind so groß. Und in die Lager im Libanon, in Jordanien, in der Türkei, in Libyen und Ägypten muss viel investiert werden, dort müssen wir uns engagieren, unsere Pflicht tun, tun es aber nicht. Und noch etwas müssen wir tun: Wir müssen den Menschen die Möglichkeit eröffnen, in diesen Flüchtlingslagern Asyl zu beantragen. Jetzt zwingen wir sie, zuerst nach Europa zu kommen, um Asyl zu beantragen. De facto treiben wir sie so in die Arme von Kriminellen, denn das ist der einzige Weg nach Europa für sie.
Deutschlandradio: Schauen wir doch auf die nächsten Schritte. Nächste Woche soll es also einen neuerlichen Sondergipfel der Innenminister geben zu den Quoten. Was ist, wenn dieser Gipfel scheitert? Es gibt im Augenblick enormen Druck, die Flüchtlinge in Österreich, in Serbien... Was muss da getan werden?
Verhofstadt: Dieses Mal werden wir es schaffen, denn wir werden mit qualifizierter Mehrheit entscheiden. Aus und fertig. Tut mir leid. Wir sind auch ein bisschen verrückt in Europa. Wenn es keine Einstimmigkeit notwendig ist und die qualifizierte Mehrheit genügt, dann entscheiden wir einstimmig und umgekehrt. Nein, dies ist ein Fall für die qualifizierte Mehrheit, und wir müssen entscheiden, und nächste Woche, mit der Unterstützung des Parlaments, mit dem Druck von Deutschland, Frankreich und einigen anderen Ländern wird das möglich sein. Aber damit ist es ja nicht getan. E sind nicht die Innenminister, die diese Krise lösen sollen, es ist ja keine Sicherheitskrise. Es ist eine Krise höherer Dimension, in der wir im Schengen Raum Politik und Institutionen schaffen müssen.
Es ist doch typisch: wir haben den Schengen Raum geschaffen, aber kein gemeinsames Asylsystem, keine gemeinsame Einwanderungspolitik, und keine wahre gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik, mit der wir Konflikte in der Nachbarschaft beenden könnten. Und deshalb denke ich oft: Das ist doch genau wie in der Eurokrise! Wir schaffen eine Währung, alle freuen sich, wie beim Schengen Raum, und hinterher kommt die Krise und man denkt: hoppla, wir haben ja gar keine Wirtschaftsregierung, um dem Euro zu helfen, oh, und ein Schatzamt haben wir auch nicht, und auch gar keine einheitliche Vertretung für den Euro auf internationaler Ebene. Das ist unser Fehler hier in Europa.
Deutschlandradio: Auf der anderen Seite: In Krisen hat sich die EU ja schon oft bewährt, hat Europa mit mehr Integration geantwortet. Man denke ja nur an die Bankenunion als Antwort auf die Finanzkrise. Könnte das jetzt vielleicht mit der Flüchtlingskrise nicht ähnlich sein?
Verhofstadt: Das hoffe ich! Ja, ich denke, dass das eine Chance für Europa ist, eine Gelegenheit, den Sprung nach vorne zu machen, der absolut nötig ist. Dieses Mal nicht, wie bei der Eurokrise in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern in der gemeinsamen Politik bei Justiz, Innerem , Asyl, Migration, aber auch in der Außenpolitik, denn natürlich ist das Problem auch darauf zurückzuführen, dass wir wussten, dass so etwas passieren kann, aber wir weggeschaut haben. Wir haben gesagt: Nein, das geht uns nichts an. Assad kann seine Landsleute umbringen, nur bitte nicht mit chemischen Waffen, das darf man nicht. Gleichzeitig ist das aber auch eine Konsequenz der irren amerikanischen Entscheidung vor vielen Jahren, in den Irak einzufallen.
"Ich glaube nicht, dass es ein Patt nach den Wahlen geben wird"
Deutschlandradio: Stichwort Krise. Wir haben ja kurz darüber schon gesprochen. Im Juli war es Griechenland, das Europa in Atem gehalten hat, und viele haben gesagt, das könnte jetzt das Ende der Eurozone sein. Nun wird am Sonntag dort gewählt. Ministerpräsident Alexis Tsipras will damit seine parteiinternen Widersacher loswerden. Syriza will ja nicht mit den Konservativen zusammenarbeiten.
Verhofstadt: Uns Liberale gibt es in Griechenland ja nicht als Partei. Ich hoffe, dass die Repräsentanten des alten Systems nicht gewinnen. Nea Demokratia, ...vielleicht ist die neue Führung der Nea Demokratia besser als die alte..., oder die neue Spitze von PASOK ist besser als die alte.., aber diese beiden Parteien waren doch der Auslöser der griechischen Krise. Nea Demokratia und PASOK haben das Klientelsystem geschaffen und benutzt, das immer noch existiert. Wir unterstützen eine andere Partei, To Potami des Journalisten Theodorakis, der diese proeuropäische Reformpartei der Mitte gegründet hat.
Wir unterstützen sie, aber das ist aufgrund des griechischen Wahlsystems gar nicht so einfach. Denn alle rennen zu Syriza oder Nea Demokratia, weil der Gewinner der Wahl einen Bonus erhält. Als Konsequenz ziehen die Leute die wahren Alternativen gar nicht in Betracht, sondern gehen zu Nea Demokratia und Syriza. Es ist ein bisschen wie beim Fußball, wo auch nur zwei Mannschaften auf dem Spielfeld sind. Meine Hoffnung ist, dass die Reformkräfte ins Parlament gewählt werden, und davon gibt es einige Leute in Griechenland. Zusammen mit dem Druck aus Europa, besonders aus dem Europäischen Parlament, könnte sich doch etwas bewegen in Griechenland. Denn das Klientelsystem besteht schon seit dem 19. Jahrhundert, das ist nicht neu.
Deutschlandradio: Syriza und Nea Demokratia liefern sich ja derzeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Besteht also nicht die Gefahr einer politischen Blockade in Griechenland?
Verhofstadt: Nein, ich denke sie werden auf jeden Fall eine Mehrheit finden, entweder links oder rechts, das ist klar, ich glaube nicht, dass es ein Patt nach den Wahlen geben wird. Aber dadurch werden die Probleme noch nicht gelöst. Ich denke, dass das dritte Hilfspaket besser ist als die vorigen, denn zum ersten Mal sind grundlegende Reformen enthalten, - in den Paketen davor überhaupt nicht. Samaras und Papandreou und Venizelos sagten: Lass' mal die Normalbürger für die Krise zahlen, geändert haben sie nichts am Klientelsystem und dem überdimensionierten öffentlichen Dienst.
Deutschlandradio: Ist nicht auch damit zu rechnen, dass die neue Regierung nachverhandelt? Das spielte ja auch jetzt im Wahlkampf schon eine wichtige Rolle.
Verhofstadt: Ich bin immer dafür, dass die Reformen den Kern des Problems angehen, und der Kern ist klar: das Klientelsystem, aufgeblasener Staatssektor, keine privaten Banken – alle staatlich!- und die finanzieren die politischen Parteien. Das ist das Problem. Das Problem sind nicht die normalen Griechen oder dass ihre Löhne zu hoch sind, das Problem ist das System. Vorrechte für die kleinen Inseln, Privilegien für die Schiffsindustrie, reichlich Vorrechte für die politischen Parteien, die bekommen nicht zu knapp Geld von den staatlichen Banken. Es gibt keine privaten Banken. Wenn man in Griechenland die Initiative ergreift, dann muss man aber sehr mutig sein, denn man findet keine privaten Investitionen. Das muss sich ändern, und nach meinem Eindruck hat Tsipras das verstanden und weiß, dass man ohne tiefgreifende Reformen zu keiner nachhaltigen Lösung kommen wird. Griechenland ist nur ein Symptom, nur ein Element der Eurokrise. Die Eurokrise ist weit mehr als Grexit, als die Frage ob Griechenland die Eurozone verlässt oder nicht. Es geht um den Mangel an wirtschaftlicher Governance in Europa. Ich sage immer: ein Staat kann vielleicht ohne eigene Währung existieren, Montenegro nutzt den Euro, andere Staaten den Dollar, aber das Gegenteil trifft nicht zu. Eine Währung kann ohne Staat nicht existieren. Es ist immer eine staatliche Autorität hinter einer Währung nötig, sonst ist man am Markt nicht glaubhaft. Und dann stürzt man in die Krise.
Deutschlandradio: Bleiben wir doch bei Griechenland. Der Reformprozess, muss man sagen, geht ja erst los, die ganze Arbeit. Glauben Sie dass dieses dritte Hilfspaket nun wirklich das letzte sein wird?
Verhofstadt: Es könnte sein, das noch mehr Hilfsprogramme nötig sind. Ich weiß es nicht. Es ist ziemlich schwer vorherzusagen. Das Wichtigste ist, dass sie mit Reformen beginnen. Reformen, die in der Vergangenheit unmöglich waren, unmöglich sogar unter Samaras oder Venizelos. Damals haben wir nicht so genau hingesehen, haben gedacht, ja, das haben wir jetzt hinter uns. Aber nein, das haben wir nicht, das System ist unverändert. Unsere Hauptaufgabe im Europäischen Parlament ist es, eingehend zu prüfen. Ich denke nämlich, dass eine eingehende Überwachung des Prozesses in aller Öffentlichkeit ist die beste Methode ist, um die griechische politische Führung zu verpflichten, das Notwendige zu tun.
"Man muss nur ein bisschen nach Amerika schauen"
Deutschlandradio: Was denken Sie über die Austrittsdebatte, dass Griechenland eben für ein paar Jahre die Eurozone verlassen sollte?
Verhofstadt: Ich halte das für eine sehr schlechte Idee. Zuerst schmeißen wir Griechenland raus, dann Portugal, und der nächste ist vielleicht...Italien? Und das ist dann das Ende des Euro. Eine ganze Reihe von Leuten findet das eine prima Idee.... ["like Schäuble.." J.M] ...manche Leute würden vielleicht sogar noch weiter gehen, wie Henkel..., und dann macht man einen NEURO und einen SEURO, jeweils für das nördliche und südliche Europa. Aber in Wirklichkeit ist das eine sehr schlechte Idee, schlecht auch für Deutschland. Man schafft so nämlich eine neue Währungsgrenze mit Wechselkursen zwischen Deutschland und seinen besten Exportmärkten, etwa Frankreich und Norditalien. Das wäre also wirklich keine gute Idee. Den Euro aufzusplitten ist nicht die Lösung unserer Probleme. Die Lösung unserer Probleme besteht darin, so schnell wie möglich die Institutionen zu schaffen, die den Euro zukunftsfähig machen: EINE Vertretung gegenüber der Welt da draußen, eine richtige Euro-Regierung mit Entscheidungsbefugnis, eine kohärente Wirtschaftspolitik in der gesamten Eurozone – nicht nur in Deutschland – in der gesamten Eurozone. Es geht nicht nur um die Haushalte, es sind auch ökonomische Strukturreformen nötig. Und dann: ein Schatzamt. Es ist nicht so schwierig, herauszufinden, was man tun muss.
Man muss nur ein bisschen nach Amerika schauen, wie die es dort im 18. Jahrhundert gemacht haben, als Hamilton den Kampf gegen Washington gewonnen hat und sie den Dollar gegründet haben. Sie führten den Dollar ein, nachdem sie ihren Föderalstaat gegründet hatten, nachdem sie ein Schatzamt hatten, nachdem sie Schatzwechsel benutzten... Erst dann kam das Münzgesetz und damit der Dollar. Wir in Europa sind natürlich viel schlauer. Wir fangen mit dem Euro an und sagen dann: oh! Wir haben keine Regierung, kein Schatzamt usw. Wir müssen das jetzt so schnell wie möglich reparieren, und ich glaube, dass Deutschland hier die Führung übernehmen muss, denn es ist ein föderaler Staat und versteht sehr gut, was zu tun ist, damit der Euro in Zukunft eine stabile Währung wird.
Deutschlandradio: Deutschland steht ja dieser Debatte eher skeptisch gegenüber. Was ist da Ihr Eindruck? Gibt es hier wirklich erste Fortschritte? Es gibt ja den Bericht der fünf Präsidenten, die Vorschläge aus Frankreich, also wie geht es da weiter?
Verhofstadt: Und in der Vergangenheit sogar Schäuble! Man muss nur mal ein bisschen zurückgehen, zu dem was er in der Vergangenheit verteidigte. Ich, war damals Premierminister und entsinne mich an eine Debatte mit ihm in Berlin, bei der er diese wirtschaftlichen Konzepte verteidigte. Wir haben ja noch nicht mal eine Wahl. Es ist notwendig, diese Institutionen zu gründen, bevor die nächste Krise kommt, und die wird kommen. Wo sie ihren Anfang nehmen wird, das weiß ich nicht, vielleicht wieder in den USA, oder vielleicht in China, oder in einem anderen Teil der Welt? Jedenfalls müssen wir darauf vorbereitet sein. Machen wir schon Fortschritte? Ja, ein bisschen, die Bankenunion ist ein Beispiel. Jetzt haben wir den französischen Finanzminister Macron, das ist ja überhaupt ganz interessant, Frankreich war immer gegen die Vertiefung der Eurozone, und jetzt akzeptieren sie das zum ersten Mal. Für Deutschland ist es ganz leicht: Sie müssen sich nur an das erinnern, was sie in der Vergangenheit gesagt haben und sich daran halten. Dann ist es möglich, die Krise zu überstehen und aus dem Euro die stärkste Währung der Welt zu machen, denn das Potential dazu haben wir.
Deutschlandradio: Die letzte Frage. Euro ist über den Umgang mit den Flüchtlingen tief zerstritten. Wir haben über die notwendige Vertiefung der Eurozone gesprochen. Wie besorgt sind Sie über die Zukunft von Europa? Oder wird Europa am Ende doch die Probleme lösen können?
Verhofstadt: Ich bin beunruhigt, weil wir schon zu lange versuchen, die Probleme Schritt für Schritt zu lösen. Das ist typisch europäisch, das ist unsere Philosophie: Schritt für Schritt. Aber die Welt dreht sich so schnell, dass man Schritt für Schritt immer zu spät kommt. Wir brauchen in den kommenden Jahren, sicherlich nicht vor den französischen Wahlen und nicht vor den deutschen Wahlen, aber sicherlich direkt danach, eine große Reform der EU, einschließlich Vertragsänderung. Man könnte heute z.B. keine Energieunion gründen, weil das in den Verträgen verboten ist. Da steht, Energie falle in die Verantwortung der Nationalstaaten, was komplett verrückt erscheint angesichts der heutigen Probleme. Für eine Energieunion benötigt man eine Vertragsänderung.
Was wir brauchen ist ein Sprung vorwärts im föderalen Sinn. In Deutschland versteht man das. Ich beziehe mich immer gerne auf die deutsche Geschichte. Erinnern Sie sich an den Zollverein? 18 Hundert so und so viel.... , das war, finde ich, mehr als Bismarck, der Beginn eines starken, vereinten Deutschlands. Was war der Zollverein? Eine Zusammenarbeit verschiedener Regionen und Länder in Deutschland, und er beinhaltete am Ende des 19. Jahrhunderts einen großen Sprung vorwärts für Deutschland. Denselben Sprung in die Zukunft, den Deutschland damals tat, müssen wir jetzt auf europäischer Ebene tun.