EU-Chefdebatte

"Herr Juncker war nicht mein Kandidat"

Jean-Claude Juncker mit Unterlagen in der Hand.
Juncker wäre nicht die optimale Besetzung für den Job als Kommissionspräsident. © Olivier Hoslet, dpa picture-alliance
19.06.2014
Die Europäische Union braucht inhaltliche und strukturelle Reformen, meint die liberale Europaabgeordnete Sylvie Goulard. Dass Jean-Claude Juncker womgöglich bald die Geschicke der EU lenkt, findet sie nicht optimal.
Nana Brink: Wer wird EU-Kommissionspräsident? Diese Frage ist die Frage aller Fragen seit der Europawahl und sie ist bislang ja unbeantwortet. Auch die jüngste idyllische Bootsfahrt von Bundeskanzlerin Merkel mit ihren konservativen Amtskollegen aus Schweden, Holland und Großbritannien hat die Wahlsieger nicht hinter ihren Kandidaten Jean-Claude Juncker versammelt.
Vielleicht regelt es ja das Damentreffen heute in Berlin zwischen Kanzlerin Merkel und Dänemarks Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt! Sie wollen den EU-Gipfel nächste Woche vorbereiten und vielleicht ist es ja kein Zufall, dass die dänische Regierungschefin auch für einen wichtigen EU-Posten im Gespräch ist, nämlich den der Ratspräsidentin, also der Vorsitzenden des Rates aller Staats- und Regierungschefs.
Wird also gerade ein Paket geschnürt, um die wichtigsten Posten in der EU zu verteilen? Fragen an Sylvie Goulard, Beraterin des EU-Kommissionspräsidenten, des damaligen, Romano Prodi und als französische Liberale seit Juni 2009 im Europaparlament wiedergewählt. Schönen guten Morgen, Frau Goulard!
Sylvie Goulard: Guten Morgen!
Brink: Sie haben ja als Liberale Wahlkampf für den liberalen Kandidaten Verhofstad gemacht. Sehen Sie Juncker auch als Mann von gestern, wie seine Gegner?
Goulard: Ich habe in der Tat für Guy Verhofstad Wahlkampf gemacht und würde viel lieber weiter für ihn Wahlkampf machen. Aber jetzt sind wir in der Phase nach der Wahl und die Konservativen waren vorn. Sie haben keine absolute Mehrheit, das heißt, sie können nicht alleine entscheiden, deswegen muss man auch ein Paket schnüren mit wahrscheinlich Leuten aus den verschiedenen Familien, genauso wie in Deutschland jetzt eine große Koalition regiert.
28 Kommissare sind zu viel
Brink: Also ein Paket schnüren, mit wem an der Spitze, mit Jean-Claude Juncker?
Goulard: Es wäre normal, es ist sowieso die Position des Parlaments, eine sehr demokratische Entscheidung. Juncker ist der Erste, er muss wenigstens versuchen. Wir als Liberale sind der Meinung, dass diese Mehrheit, auch wenn sie schon stimmt, viel zu knapp ist und dass es besser wäre, eine breitere Mehrheit mit uns zu bilden, damit wir nicht in den Händen von Minderheiten in diesen beiden Fraktionen uns befinden. Das würde für die Stabilität der Mehrheit in den nächsten fünf Jahren viel besser. Weil ich glaube, abgesehen von den Personen ist es besonders wichtig, dass wir für die Bürger die Entscheidungen treffen können, die Europa braucht.
Brink: Was wäre denn so eine Paketlösung, der Sie zustimmen könnten?
Goulard: Noch einmal, unser Kandidat war Guy Verhofstadt, das hängt auch davon ab, wie groß das Paket ist mit Präsidentschaft, also Vorsitz des Europaparlaments, mit dem Beauftragten für Außenpolitik, mit der Spitze der Euro-Gruppe ... Man muss auch selbstverständlich die Kompetenz bevorzugen. Was Frau Helle Thorning-Schmidt angeht, wäre es meiner Meinung nach für die Franzosen vor allem, aber wahrscheinlich auch für andere Mitgliedstaaten der EU besonders schwierig anzunehmen, dass jemand, der nicht aus der Euro-Zone kommt, eine Spitzenposition bekommt.
Brink: Sie waren Beraterin des EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi, alle sprechen ja davon, dass dieses Amt auch reformiert werden muss. Wo sehen Sie Reformbedarf?
Goulard: Als Romano Prodi der Präsident war, war das vor der Erweiterung. Wir haben jetzt 28 Kommissare, es ist zu viel, die Funktionen müssen ganz genau definiert werden, zum Beispiel Wirtschaft, Umwelt, Migration, Justiz, es gibt 15 bis 18 Funktionen. Man könnte die anderen Kommissare entweder als stellvertretende Kommissare haben oder wir könnten Gruppen von Kommissaren haben innerhalb der Kommission, man könnte auch Leute haben, die wie in vielen Regierungen Europas andere Funktionen haben für die Kommunikation, für die Beziehung zu der Zivilgesellschaft. Es gibt nicht nur eine Möglichkeit für die Organisation der Kommission.
Die französichen Mitglieder des Europäischen Parlaments. Sylvie Goulard bekommt Women in Diplomacy (WID) Award von Mario Monti 
Sylvie Goulard (links) bedankt sich bei Mario Monti für den "Women in Diplomacy Award" © picture alliance / dpa / Fabio Campana
Brink: Aber Reformbedarf, noch mal, weil Sie auch gerade davon gesprochen haben, dass wir vielleicht nicht nur über Personen reden, sondern über ein Bündnis, wirklich über das reden, was reformiert werden muss in der EU: Wo wäre denn da der dringendste Bedarf?
"Priorität Nummer eins ist selbstverständlich Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit"
Goulard: Erstens alles, was Wirtschaft, Wachstum angeht. Wir müssen in Europa ... Es geht den Deutschen sehr gut, aber es gibt Euro-Länder, die sich nicht schwierigen Situationen befinden, wo die Jugendlichen keine Arbeit haben und keine Perspektive. Das ist für die ganze Stabilität des Kontinents nicht gut. Das heißt, Priorität Nummer eins ist selbstverständlich Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Zweitens, wir haben im Mittelmeer eine Tragödie, die jeden Tag noch größere Dimensionen nimmt. Das heißt, wir brauchen eine Migrationspolitik, wir brauchen eine Stabilisierungspolitik für die Länder im Süden. Wir müssen auch - das wäre die dritte Priorität - eine stärkere Stimme in der Außenpolitik haben. Bis jetzt haben wir immer gesagt, wir haben eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, aber die haben wir nicht. Es ist höchste Zeit jetzt, mit allem was in der Ukraine passiert oder im Nahen Osten, dass wir uns anders organisieren in Europa.
Brink: Apropos Reformen: Ein ganz heißes Thema zum Beispiel von den sozialdemokratisch geführten Regierungen wie in Frankreich und Italien, wovon die auch ihre Zustimmung zu Personalien abhängig machen, das ist ja die Forderung, den Stabilitätspakt neu zu verhandeln. Also nicht allein auf Haushaltsanierung zu setzen, sondern mehr auf kreditfinanzierte staatliche Investitionen.
Goulard: Investitionen braucht auch Deutschland. Wir brauchen Politik, die zukunftsorientiert ist. Wir haben viel zu wenig investiert, sei es in der Energiewende, sei es in den Infrastrukturen, sei es in der Digital Economy. Die Idee ist, die Finanzen besser unter Kontrolle zu haben, damit man auch Geld hat für die Investition in die Zukunft.
"Wir brauchen mehr Forschung und Innovation"
Brink: Also doch den Stabilitätspakt neu zu verhandeln?
Goulard: Nein, als Liberale bin ich nicht dafür, das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur, es muss eine neue Politik geführt werden, wir müssen gemeinsam die Stärke Europas in manchen Bereichen, wo Asien und Amerika vor uns langsam sind, wir brauchen mehr Patente, wir brauchen mehr Forschung und Innovation. Und dafür kann man sich vorstellen, dass eine gemeinsame Handlung sogar Geld sparen kann.
Brink: Ist dann Juncker der richtige Mann?
Goulard: Demokratie ist Demokratie. Herr Juncker war nicht mein Kandidat, er hat eine gewisse Erfahrung, er muss noch beweisen, dass er sich der Zukunft zuwenden kann und will. Wir werden unsere Arbeit leisten, damit das Endergebnis das beste ist für die europäischen Bürger.
Brink: Sehr salomonisch, also doch ein Mann von gestern!
Goulard: Wissen Sie, es ist auch ein bisschen komisch. Ich finde, das ist nicht das Problem. Man kann auch nicht einen Neuling für die Kommission wählen. Ich habe vier Jahre mit Romano Prodi gearbeitet, sehr eng gearbeitet, es ist ein sehr schwieriger Job. Jemand, der überhaupt keine Erfahrung von Europa und von den exekutiven Funktionen hat, wäre auch nicht geeignet. Noch einmal, mein Kandidat war Guy Verhofstadt.
Brink: Sylvie Goulard, seit 2009 für die liberale Fraktion im Europaparlament und wiedergewählt. Schönen Dank, Frau Goulard!
Goulard: Danke sehr, auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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