EU-Bürgerschaft

Ein Status, der eine halbe Milliarde Menschen verbindet

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Ein junger Mann mit Mund-Nasenschtz hält bei einer Demo in Krakau eine polnische und eine Flagge der EU.
"Ich bin ein europäischer Bürger": Pro-EU-Statement bei einer Demonstration im polnischen Krakau. © imago images / NurPhoto / Artur Widak
Überlegungen von Lars S. Otto · 05.11.2021
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"Das ist eine innere Angelegenheit", sagen die Regierungen anderer Staaten gerne, wenn sie mit Kritik etwa aus Deutschland konfrontiert sind. Warum das im Fall von EU-Mitgliedern wie Polen und Ungarn so nicht aufgeht, erklärt der Jurist Lars S. Otto.
Die Unionsbürgerschaft – ein Status, von dem vielen Europäern vielleicht gar nicht bewusst ist, dass sie ihn haben. Dabei gilt: Wer Staatsangehöriger eines EU-Mitgliedstaats ist, ist damit zugleich auch Unionsbürger, also Bürger der Europäischen Union.
Und wer Unionsbürger ist, kann mit den Worten von Francis Jacobs, dem damaligen Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof, sagen: "Civis europ[a]eus sum – ich bin ein europäischer Bürger."
An dieses große Wort – "Ich bin ein europäischer Bürger" – fühle ich mich erinnert, wenn ich auf unser Nachbarland Polen blicke.

Das nahe ferne Osteuropa

Ich war jüngst auf einer Demonstration in Berlin, die unter dem Motto "My zostajemy w UE!" stand. Also: "Wir bleiben in der EU!" In Berlin lebende polnischstämmige Menschen forderten dort in sehr persönlichen Worten, sich einer Entfremdung von Polen und der EU entgegenzustellen.
Die meisten sprachen polnisch. Ich hätte kaum etwas verstanden, wenn nicht meine Freundin, eine gebürtige Polin, für mich übersetzt hätte, und wenn ich nicht durch Gespräche mit ihr und ihrer Familie einiges über den Alltag in Polen erfahren hätte.
Dabei wurde mir wieder einmal bewusst, dass das Projekt einer Europäischen Union uns alle betrifft und doch von einem persönlich weit weg sein kann.

EU-Bürgerschaft als Verbindung der Bürger miteinander

Und dennoch: Die Unionsbürgerschaft verbindet jede und jeden von uns direkt mit knapp einer halben Milliarde anderer Bürger:innen der EU. Diese Union gründet sich nach Art. 2 des EU-Vertrages auf bestimmte geteilte Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte als Ausdruck einer Gesellschaft, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.
Diese rechtlich verpflichtenden Werte sind die Grundlagen für alle anderen Ebenen, die die EU mit sich bringt: die Wirtschaftsgemeinschaft, die Rechtsgemeinschaft und so weiter.
In der Gesamtheit führt dies dazu, dass sich kein EU-Mitgliedstaat mit dem Hinweis darauf abschotten kann, die Vorgänge im eigenen Land wären eine rein interne Angelegenheit.

Die Union als tägliches Plebiszit

Das Funktionieren der EU ist dabei nicht nur den Politiker:innen und den Institutionen anvertraut. In Anlehnung an ein Diktum des französischen Gelehrten Ernest Renan muss vielmehr gelten, dass die Union als tägliches Plebiszit verstanden werden muss. Die Union ist also eine öffentliche Angelegenheit, eine Res publica, deren Mitgestalter wir alle sind und die erlebt und gelebt werden muss.
Damit sind die Angelegenheiten der polnischen Unionsbürger:innen eine gesamteuropäische Angelegenheit, und deshalb auch eine Angelegenheit der deutschen Unionsbürger:innen – auch wenn man ganz persönlich oftmals noch keine gefühlsmäßige oder auch nur verstandesmäßige Bindung zu anderen EU-Ländern haben mag.
Was kann das für einen persönlich bedeuten? Jede und jeder von uns hat heute so viele Chancen, eine ganz eigene Bindung zu Unionsbürger:innen in anderen EU-Mitgliedstaaten zu gestalten, je nach den eigenen Wünschen und Möglichkeiten. Dazu kann gehören, die tägliche kostenlose europäische Presseschau "euro|topics" der Bundeszentrale für politische Bildung zu lesen.

Bringen wir uns ein!

Dazu kann auch gehören, sich transnational zu vernetzen, um beispielsweise wirksame Umweltpolitik für alle EU-Mitgliedstaaten mitzugestalten. Oder das kann bedeuten, als Bürgermeisterin Städtepartnerschaften mit Leben zu füllen, als Lehrer einen Schüleraustausch in eine eher unbekannte Gegend Europas zu organisieren oder als jedermann auch EU-ausländischen Organisationen zu spenden.
Bringen wir uns daher ein. Sehen wir die Unionsbürgerschaft als Verantwortung.

Lars S. Otto, LLM (LSE) hat in Berlin, Århus und London Rechtswissenschaft studiert. Er arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin. Zugleich ist er regelmäßig Lehrbeauftragter der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeit und seine Publikationen spielen schwerpunktmäßig im Verwaltungs- und Verfassungsrecht, sein Interesse gilt darüber hinaus unter anderem der Geschichte und der politischen Philosophie.

Porträtfoto von Lars S. Otto
© jet-foto
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