EU-Bürger zweiter Klasse

Von Erik Albrecht · 06.01.2014
Etwa 150.000 Bulgaren und Rumänen wohnen in Großbritannien, 25.000 allein in London. Premierminister David Cameron fordert offen, ihre Rechte einzuschränken. Vor allem das Recht auf britische Sozialhilfe. Dabei wollen die meisten Einwanderer vor allem eins: Geld verdienen.
Sieben Uhr an der Tottenham Lane. Mit einem Sprung flüchtet sich Radoslav aus der morgendlichen Kälte in den Bus. Die Kapuze seines grauen Jogging-Anzugs hat er tief in die Stirn gezogen. Noch im Halbschlaf fährt der 22-Jährige in der wohligen Wärme des Doppeldeckerbusses zu seiner Baustelle in die Innenstadt. Er ist der letzte, der heute Morgen die schäbige Wohnung im Norden Londons verlässt. Greta, wie Radoslav aus Bulgarien, ist schon um sechs aufgebrochen, um am anderen Ende der Stadt zu putzen.

Bauarbeiter und Putzfrauen - besser bezahlte Jobs finden nur wenige Bulgaren und Rumänen in Großbritannien. Radoslav kann zumindest am Wochenende noch als DJ in einem Club auflegen:

"You know, you are not here to live, man, you are here to save some money. And if you do two jobs it's more easy to save."

Geld verdienen in London, leben später daheim in Bulgarien. Radoslav arbeitet legal. Er zahlt Steuern und Sozialabgaben. Während vor dem Fenster die Stadt an ihm vorbeizieht, erzählt er von seinem Freund Ivailo. Fünf Mal haben die britischen Behörden Ivailos Antrag auf eine Arbeitserlaubnis schon abgelehnt. Warum, hat er nie verstanden:

"Ich habe noch Glück gehabt. In diesem Jahr geben sie überhaupt keine Dokumente mehr aus. Denn diese Regierung mag einfach keine Osteuropäer. Das ist doch kein Geheimnis."
Radoslav ärgern die Unterstellungen der Briten
Arbeit, Freunde, einen EU-Pass - eigentlich hat Radoslav alles, was man für ein Leben in London braucht. Doch als Bulgare fühlt er sich wie ein EU-Bürger zweiter Klasse. Ihn ärgert die Unterstellung der Regierung, er und seine Landsleute hätten es nur auf britische Sozialleistungen wie Wohngeld und Leistungen des Gesundheitssystems abgesehen:

"Das Gebäude vorne. Da haben wir den Keller ausgebaut. Dann ist da vorne noch eins, und nach der Kurve ein weiteres. So viele. Und das sind nur meine Baustellen. Wissen Sie, wie viele Bulgaren in London leben? Und viele schuften wie Tiere!"

Nach 50 Minuten hält die Linie 243 an seiner neuen Baustelle: Ein Rechenzentrum für die Londoner City. Durch die Bauplanen pfeift kalt der Wind. Die Glasfassade dahinter ist noch nicht geschlossen. Für rund 60 Euro am Tag wird Radoslav bei Temperaturen um Null Grad feuerfeste Wände für den Generatorenraum des Rechenzentrums bauen.

An der Turnpike Lane, unweit von Radoslavs Wohnung räumt Nedyalko Gyubelev morgens Bierflaschen in die brummenden Kühlregale. Bulgarisches Bier, Köfte und Baniza, mit Käse gefüllter Blätterteig - in dem engen Laden Bulgaria sind die Regale bis unter die Decke voll von Spezialitäten:

"Unsere Süßigkeiten kaufen viele. So Waffeln wie diese, die kann man in England nicht finden."
Mit einer Maurerkelle hebt ein Mann Mörtel.
Lieber in London Häuser bauen als in der Heimat studieren - viele Bulgaren und Rumänen schuften im Ausland.© picture-alliance / ZB / Jan Woitas
Freunde lassen die Neuen bei sich unterschlüpfen
Nedyalko Gyubelev verkauft Lebensmittel gegen das Heimweh. Großbritannien boomte, als er vor zehn Jahren nach London kam, Probleme mit der Arbeitserlaubnis gab es damals noch nicht. Heute geht sein Laden gut. Viele der Bulgaren in London leben hier an der Turnpike Lane. Wer neu nach London kommt, wohnt meist zunächst bei Freunden und bleibt dann in der Gegend:

Nedyalko: "19,79"

Kundin: "Ciao."

Türkische Lebensmittelläden, mauretanische Restaurants, indische Modeboutiquen - auf dem Weg in die Kaffeepause läuft Nedyalko an den Geschäften all der Einwanderer vorbei, die es in London genau wie er geschafft haben. Ein Stück die Straße runter versorgt ein bulgarischer Imbiss seine Landsleute mit Döner und Spießen. Um die Ecke wirbt das Café Plovdiv mit Flair aus der Heimat:

"Double Macchiato. Two mediums."

Doch Nedyalko schlürft seinen Kakao lieber in einer der britischen Caféketten. Am Nebentisch spricht man Arabisch, von hinten hört Nedyalko Polnisch. So entspannt, wie der 30-Jährige in dem Ledersessel sitzt, ist der schüchterne junge Bulgare aus der Provinz kaum noch zu erahnen, der vor zehn Jahren mit schlechtem Schulenglisch nach London kam. Damals hat er zu Hause sein Finanz-Studium abgebrochen - um hier die Fassaden der Banktürme der City zu verglasen:

"Das war ziemlich seltsam, aber man gewöhnt sich dran. Aber wenn man sieht, wie die Menschen bei uns wohnen, und was für Chancen selbst so ein Job bietet, unabhängig zu sein. Das war einfach wichtig."
Ivailo will arbeiten - darf aber nicht
Die Wände in dreckigem Orange, zwei Betten, ein Tisch, ein Fernseher und ein altersschwacher Heizlüfter. Hungrig schaufelt Radoslav die Bratkartoffeln mit Rührei in sich hinein. Von der anderen Seite des Tellers gräbt sein Freund Ivailo an dem Essensberg, den er sich selbst nie hätte leisten können. Wieder war er seit fünf Uhr morgens fieberhaft auf der Suche nach Arbeit. Doch keiner wollte ihn ohne Sozialversicherungsnummer nehmen:

"Go there. Wait to give me a work. He say no work for you. Go back."

Ohne Radoslav wäre er längst obdachlos. Doch man hilft sich gegenseitig, statt sich auf den britischen Sozialstaat zu verlassen. Im Hintergrund fährt der bulgarische Kanal 3 Sondersendungen zur aktuellen Regierungskrise. Der Präsident hat Neuwahlen angekündigt. Doch keiner von beiden glaubt, dass sich dadurch die wirtschaftliche Lage in Bulgarien verbessern wird. Radoslav und Ivailo werden wohl noch lange in London bleiben.