"Etwas einfangen, was unerwartet ist"

Tom Tykwer und Hawa Essuman im Gespräch mit Holger Hettinger · 02.12.2010
Die "Suche nach einem interessanten Momemt", etwas Unerwartetes einzufangen - das ist für Regisseur Tom Tykwer zentral. Doch während dies bei durchgeplanten Großproduktionen schwierig sei, gab es bei der Arbeit an seinem jüngsten Projekt "fast ununterbrochen" solche Situationen.
Ulrike Timm: Tom Tykwer ist eigentlich bekannt für ganz akribisch durchgearbeitete Filme, da bleibt wenig dem Zufall überlassen. Jetzt hat sich der Regisseur in eine ganz andere Art des Arbeitens gestürzt, denn in Afrika, da kann man viele Pläne aufstellen, die Wirklichkeit kegelt sie dann alle fröhlich wieder um. Gut vielleicht, dass Tykwer in Anführungszeichen "nur" zweiter Mann bei "Soul Boy" war, denn die kenianische Regisseurin Hawa Essuman kennt sich vor Ort viel besser aus und kann da viel souveräner agieren als er. Kurzum, der Film, der entstanden ist, spielt vor allem in einem Slum in Nairobi und erzählt vom Leben eines 14-jährigen Jungen, der in dieser Umgebung klarkommen muss. Auf der Berlinale im vergangenen Februar wurde der Film erstmals gezeigt, jetzt kommt "Soul Boy" in unsere Kinos, und mein Kollege Holger Hettinger hatte Gelegenheit, mit Hawa Essuman und mit Tom Tykwer zu sprechen und hat ihn zuerst gefragt, wie er denn eigentlich zu diesem Projekt gekommen ist.

Tom Tykwer: Meine Freundin, Marie Steinmann, macht gemeinsam mit einer Britin, Bee Gilbert, eine NGO in Kenia und speziell in Nairobi, die heißt One Fine Day, und die kümmern sich ganz speziell um Schulen in den Slums und bieten Kunstunterricht an, also Theater, Malerei, Ballett, Musik, alles Mögliche. Und das ist ein privat finanziertes Projekt, das extrem erfolgreich sich entwickelt hat über die letzten Jahre und wo ich immer gesagt habe, kann ich dazu nicht was beitragen, und hab gesagt, na ja, ich kann halt nur Film – aber Film wurde auch noch nicht angeboten. Und so ist dann eine Art Workshop-Projekt entstanden. Dieser Workshop mündete dann in die Initiative One Fine Day Films, das ist sozusagen die Firma, die diese Filme produziert, gemeinsam mit einer afrikanischen Firma, und jetzt mit der Deutschen-Welle-Akademie zusammen und dem Goethe-Institut und der Filmstiftung haben wir tatsächlich so ein Projekt auf die Beine gestellt, das nennt sich jetzt "FilmAfrica!", wo wir jedes Jahr im Stile von "Soul Boy" mit jungen Nachwuchs-Filmemachern oder Filmenthusiasten, die so minimale Erfahrungen haben in ihrem Alter zwischen 20 und 30, wie ein Team zusammensetzen und mit wenigen professionellen und ganz vielen Neugierigen tatsächlich erst einen Workshop machen und dann aus dem Workshop einen Film generieren.

Holger Hettinger: Wie sind Sie auf Hawa als Regisseurin gekommen?

Tykwer: Wir haben sozusagen uns in der Szene umgehört, und Hawa erschien einfach die optimale Kandidatin zu sein. Sie hatte schon einen Kurzfilm gemacht, sie hatte durchaus Erfahrungen in dem Bereich, aber sie ist natürlich noch jemand, der viel zu lernen hat. Und das hat sich dann sozusagen bei diesem Film alles realisiert.

Hettinger: Hawa, "Soul Boy" ist Ihr zweites filmisches Projekt, das erste, das hier in Zusammenarbeit mit Tom Tykwer entstanden ist. War es denn jetzt arg anders als die Arbeit an Ihrem ersten Film?

Hawa Essuman: Es war sehr aufregend. Wir haben mit wahnsinniger Geschwindigkeit gearbeitet, weil wir den Film in nur 13 Tagen drehen mussten. Wir hatten nur eine sehr kurze Vorbereitungszeit, und ich hab es wirklich genossen, aus dem jeweiligen Moment heraus zu entscheiden, was jetzt getan werden muss. Ich hatte keine Zeit für große Überlegungen, es ging darum, schnell zu entscheiden. Du hast einen Plan, du versuchst es, und wenn es nicht klappt, diskutierst du darüber und machst es anders. Das ging alles sehr schnell, und die Energie, die daraus entstand, ist einfach unglaublich.

Tykwer: Da muss man natürlich hinzufügen, Hawa hat wirklich wahnsinnig viel Zeit mit dem Film verbracht, weil auch wenn der Dreh wirklich tatsächlich nur 13 Tage lang war – was auch jetzt nicht unbedingt so wenig ist, aber natürlich für einen ganzen Spielfilm unheimlicher Druck – und natürlich auch in den chaotischen Umständen, in denen wir da gedreht haben, weil wir sind ja einfach reinmarschiert in den Slum und haben sozusagen auch vor Ort noch wahnsinnig viele Leute hinzugeholt, die uns geholfen haben. Natürlich gibt es keinen einzigen Komparsen, der richtig vornehm inszeniert ist, das ist halt einfach, die Leute, die da gerade waren, die wurden halt sofort mit eingebaut in das Ganze. Und der Film hat natürlich eine lange Nachbearbeitung gehabt, lange Schnittzeit, weil auch der Cutter ein ganz junger Cutter war aus Kenia, der das zum ersten Mal gemacht hat, der vorher nur kurze Videoclips geschnitten hatte. Und Hawa hat sozusagen den ganzen Schnitt und auch die Ton-Postproduktion, die Musikbetreuung, all das haben die mitgemacht. Das ist halt sehr lustig, wenn man sich mal vorstellt, okay, man dreht einen Film und den muss man halt noch irgendwie fertig machen. In Wahrheit hat das Drehen 13 Tage gedauert, den Film fertig machen hat ein Jahr gedauert. Das ganze Jahr hat Hawa eigentlich durchgezogen, sehr beeindruckend, weil der Film ja jetzt auch wirklich, also finde ich, technisch sehr ambitioniert daherkommt.

Hettinger: Er sieht gar nicht so improvisiert aus, finde ich, im Gegenteil, die Bilder haben eine sehr schöne Struktur, einen ganz klaren Rhythmus, das ist sehr sortiert – also so vom Seheindruck her, natürlich, das ist sehr wirbelig, sehr munter, sehr virtuos, aber es wirkt doch sehr geplant. Wie kommt das, habe ich da was falsch gesehen?

Essuman: Nein, es ist, wie Tom gesagt hat: Wir waren über ein Jahr im Schneideraum, haben alles wieder und wieder und wieder angesehen, und ich habe gemeinsam mit unserem Cutter ausgeknobelt, wie genau wir es haben wollten. Wir hatten viele Meinungsverschiedenheiten, aber es war ein guter Prozess, weil ich viel über das Filmemachen gelernt habe. Darüber, den richtigen Weg zu finden, um die Geschichte so gut zu erzählen wie möglich. An einem bestimmten Punkt merkst du einfach, dass das Gefühl stimmt. Es war eine Herausforderung, aber am Ende hat es sich wirklich gelohnt.

Tykwer: Es ist wirklich nicht unüblich eigentlich, viele Filme sind so, sind ein totales Chaos, wenn sie gedreht sind, und dann werden sie auf dem Schneidetisch eigentlich noch mal geschrieben und eigentlich noch mal, wenn man so will, noch mal gemacht. Es gibt ganz viele Filme, wo ich Zeuge war, wo man sagen könnte, das Material war ein einziges Desaster, chaotischer Haufen Durcheinander, und in mühevoller Kleinarbeit ist dann eine Struktur hineingewachsen.

Hettinger: Aber jetzt keiner der Filme von Ihnen, oder? Also ich hatte so bisschen, als ich mir den Film angeschaut hatte, als Arbeit von Ihnen "The International" im Hinterkopf, dieses ganz Akribische, Präzise, diese Szene, wo die sich da durch dieses runde Treppenhaus da rumballern.

Tykwer: Das Guggenheim-Museum.

Hettinger: Das Guggenheim-Museum – da dachte ich, und jetzt dreht er in Afrika mit Laien in einem improvisierten Projekt, das sich irgendwie quasi am Set entwickelt – na, viel Spaß!

Tykwer: Na ja, das ist aber das, was ich glaube, was wir nie verlernen dürfen, die Idee des Filmemachens als Suche nach einem interessanten Moment. Ein großer Teil von wirklich gelungenen Filmen besteht darin, dass sie etwas einfangen, was unerwartet ist und was eben nicht geplant und durchprogrammiert sozusagen abgewickelt wird. Und das ist natürlich in sehr durchorganisierten Produktionen wie "The International" ein ganz anderer Kraftakt, solche Momente trotzdem zu erzeugen, weil sie dem wirklich dann eine Seele geben, dem Film. Aber bei "Soul Boy" waren wir sozusagen fast ununterbrochen in solchen Situationen. Und das ist für mich natürlich als Filmemacher ein echter Luxus, das so zu erleben. Und ich musste ja auch nicht immer dann mittendrin stehen, sondern konnte auch Hawa vorschicken, sich mit dem Chaos dann irgendwie zurechtzufinden.

Hettinger: War die Arbeit dort auch die Konfrontation mit einem ganz neuen erzählerischen Register?

Tykwer: Ja, das ist ja das, was mich natürlich daran interessiert, dass man Begegnungen hat mit anderen Perspektiven und anderen Haltungen, auch ganz anderen gewachsenen Erzählprinzipien, die natürlich in einem etwas festgefahrenen Kopf wie dem meinen, weil ich halt einfach schon 20 Jahre hier so vor mich hin werkele, durchaus was auslösen. Mal gucken, wie sich das auswirkt auf die nächsten Filme.

Hettinger: Ich war sehr angetan von Ihrem Hauptdarsteller, von diesem 14-jährigen Jungen. Allein diese erste Szene, diese Traumszene, wo er auf diesen Eisenbahngleisen liegt und dann völlig verschreckt aus seinem Bett hochspringt, unglaublich intensiv gemacht, toll und eine schauspielerische Leistung, die enorm ist und die sich in vielen, vielen Rollen einfach auch fortsetzt. Wie sind Sie an Ihre Schauspieler gekommen?

Essuman: Wir hatten wirklich sehr großes Glück. Wir sollten an einem Montag anfangen zu drehen, und erst am Samstag davor bekamen wir die Zusage von Samson Odhiambo, der den Abila spielt, und Leila Dayan Opollo, unserer Shiku. Wir hatten gehofft, sie zu bekommen, aber wir wussten es vorher nicht. Außerdem waren verschiedene Castingteams für uns im Slum von Kibera unterwegs, und einige Kinder aus Theatergruppen aus Slumgebieten wollten unbedingt mitspielen, sie waren Feuer und Flamme für den Film. Wir hatten also wirklich großes Glück.

Hettinger: In Kibera wird wahrscheinlich nicht jeden Tag ein Film gedreht – wie haben die Leute reagiert?

Essuman: Zunächst einmal hat man in Kibera schon Erfahrung mit Film und Dokumentationen. Einige Szenen aus dem Spielfilm "Der ewige Gärtner" und zahlreiche Dokumentationen über den Slum selbst wurden schon dort gedreht. Die Menschen waren es also gewöhnt, eher negativ dargestellt zu werden – das mussten wir erst mal durchbrechen. Als wir ihnen dann erklärten, was wir vorhatten, haben sie uns voll unterstützt. Es gibt eine Szene in "Soul Boy", wo jemand einen Dieb verfolgt, der sein Handy gestohlen hat. Nun ist es in Kibera so: Wenn dort jemand Dieb schreit, können aus fünf Leuten, die ihn verfolgen, sehr schnell 50 werden, und sie sind wirklich auf Blut aus. Wir erklärten also den Leuten, was wir da drehen wollten, und es kamen sehr viele Menschen. Und als wir ihnen sagten, wenn ihr bei der Verfolgungsjagd mitmacht, kann es sein, dass wir euch um viele Wiederholungen bitten müssen, machten sie das alles einfach mit und gaben jedes einzelne Mal 110 Prozent. Das sagt eine Menge darüber aus, wie großzügig sie sind und wie sie unsere Arbeit dort begrüßt haben.

Hettinger: Man spürt ein bisschen diese Zugewandtheit. Ich dachte auch erst, Slum, Kibera, na super, das wird eine sehr depressive, sehr anklagende Sache, aber man spürt auch natürlich von der Härte des Alltags, aber auch sehr viel von der Lebensfreude und von der Energie, die diese Menschen in sich tragen – das fand ich sehr beeindruckend. Jetzt habe ich immer so das Gefühl, mmp, da ist so ein westlicher Blick, ich interpretier da wahnsinnig viel hinein. Tu ich das wirklich?

Essuman: Es ist kein Geheimnis, dass das Leben in einem Slum nicht gerade glamourös ist, aber es ist das Leben, das Leben, wie es geschieht. Es ist eine Gemeinschaft, eine wirklich tolle, aber auf eine Art auch eine ganz normale Gemeinschaft. Auch dort gehen Kinder zur Schule, die Leute gehen zur Arbeit, zur Kirche, sie haben Nachbarn, sie versuchen die Dinge am Laufen zu halten. Probleme also, wie sie jeder hat. Wenn man seine Vorurteile, weil sie in Blech- oder Lehmhütten leben, vergisst, dann sieht man, dass das Leben dort genauso ist wie der Alltag, wie wir ihn kennen.

Hettinger: Sie sind als Mentor in diesem Projekt aktiv gewesen, Tom Tykwer, aber oft ist es ja so, dass man als Lehrer selbst noch etwas mitnimmt. Was haben Sie gelernt bei der Arbeit an "Soul Boy"?

Tykwer: Ja, was ich am aufregendsten finde, ist tatsächlich, dass dadurch, dass man mit einer wirklich völlig anderen Mentalität konfrontiert ist, die sich sowohl auf das Kreative als auch auf das Organisatorische so stark auswirkt – also, das befreit einen eben von den Mustern, in denen man natürlich über die Jahre sich ein bisschen einrastet. Und ich würde sagen, die hervorstechendste Erfahrung ist tatsächlich, Kausalitäten zu ignorieren. Der Film hat natürlich in sich eine relative Logik und hat ja auch einen klaren Aufbau, aber er hat auch immer so lose Enden, die dann einfach da so hängen, oder so überraschende Momente: Der Junge kommt ja irgendwann mal in so eine reichere Region in der Stadt und sitzt da mit einem Familienvater auf dem Sofa und fragt den, aus dem Nichts kommend: Sind Sie eigentlich glücklich? Das klingt nach so einer Drehbuchidee, aber das sind wirklich so Direktheiten, die man sozusagen aus diesem Land auch mitnehmen kann. Die Leute fragen dann plötzlich ganz direkt etwas ganz Privates. Das fand ich total beeindruckend. Also solche Situationen zu erleben, in denen ich merkte, sozusagen eine bestimmte Art von Begegnungskultur, die immer erst mit großer Scham und Distanz beginnt, überspringt dann plötzlich halt zehn Hürden, die bei uns dann wiederum nie fallen würden. Und solche Situationen sind für mich natürlich sehr interessant.

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