Ethnologin: Vodou ist alltäglich in Haiti

Rachel Beauvoir-Dominique im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 17.05.2010
Mit Nadeln durchstochene Puppen, dunkle Magie - dem Vodou-Kult auf Haiti haften derlei Klischees an. Diese seien geprägt worden durch Hollywood-Filme, sagt die Ehtnologin Rachel Beauvoir-Dominique. Doch Vodou sei Teil der haitianischen Kultur wie das Kreolische. Vodou sei ein Ausdruck der ehemaligen Sklaven gegen ihre Unterdrückung.
Liane von Billerbeck: Flüche, die Menschen in großer Entfernung verhexen können, nadeldurchbohrte Puppen, die anderswo für Tod und Verderben sorgen, monströse Götter und Tieropfer – all das sind die Klischees, die viele von uns im Kopf haben, wenn sie von Vodou hören. Ein richtiges Bild davon machen können sich von morgen an die Besucher des Ethnologischen Museums in Berlin, denn dort wird eine der weltweit größten Sammlungen von Vodou-Kultobjekten gezeigt. Die Schweizerin Marianne Lehmann hat sie seit den 50er-Jahren zusammengetragen, Ausstellungskuratorin ist Rachel Beauvoir-Dominique, die nicht nur Ethnologin ist, sondern auch zugleich Vodou-Priesterin und Tochter eines Vodou-Priesters. Mit ihr haben wir vor unserer Sendung in der Ausstellung "Vodou – Kunst und Kult aus Haiti" gesprochen. Einen schönen guten Tag!

Rachel Beauvoir-Dominique: Guten Tag!

Von Billerbeck: Wir sind vor unserem Gespräch durch die Ausstellung gegangen und in der ganzen Ausstellung gab es keine nadeldurchbohrte Puppe. Haben wir alle ein ganz falsches Bild von Vodou im Kopf?

Beauvoir-Dominique: Ja, erst mal möchte ich Ihnen danken, dass Sie mir hier die Möglichkeit geben, dieses weitläufige Missverständnis aufzuklären und auch ein bisschen über die Vodou-Kultur zu erfahren, was hier anscheinend weitgehend unbekannt ist. Die Stereotype, die Sie genannt haben, sind vor allem durch Hollywood verbreitet worden. Von Anfang des 20. Jahrhunderts wurde immer wieder der Vodoukult als so etwas Dunkles und Düsteres dargestellt.

Das war auch ein Mittel, um gegen Haiti anzugehen, um das Land Haiti kleinzukriegen, das ja das Land war, das als Erstes einen erfolgreichen Sklavenaufstand hinter sich gebracht hat, eine unabhängige Nation geworden ist durch die erste wirklich erfolgreiche Sklavenrevolte – und das in einer der produktivsten französischen Kolonien. Und daraus ist dann Haiti als Nation hervorgegangen, allerdings eine Nation, die durch diesen Sklavenaufstand von außen das Stigma bekommen hat, ein rebellisches Land zu sein, und als Land ausgesondert wurde und bis 1860 unter einem Embargo litt, das sehr extrem die Entwicklung des Landes beeinflusst hat und kaum von anderen Ländern anerkannt wurde und dann nach 1860 bis 1950 vor allem dabei war, enorme Schulden abzubezahlen.

Das ganze Geld, was das Land hatte, floss sozusagen nach außen, es blieb nichts im Land, um für Gesundheitssysteme zu sorgen, um die Bildung zu etablieren, um die Grundbedürfnisse eines Landes, die es braucht und die es auch verdient, zu versorgen. Daraus erwuchs eine immense Armut und letztendlich, als Folge davon, auch viele Unruhen. Und die Menschen haben sich gesagt, wir können nicht immer so weitermachen, wir können in diesem System nicht weiterleben, so verarmt, wie wir sind.

Und die politischen Unruhen wurden immer größer und gipfelten schließlich in der Besetzung durch die US-Armee im Jahr 1915. Das war dann eine Besetzung, die bis 1934 andauerte. Und zu dieser Zeit gab es einen dauernden Guerillakrieg gegen die Armee, bis zum Ende dieser Besetzung, und dann nach Ende dieser Besetzung, als Haiti sozusagen wieder frei war von 1934 an bis in die 40er-, 50er-Jahre, wurde vor allem dieses Hollywood-Image des Vodou propagiert, dieses dunklen Kultes mit nadelzerstückelten Puppen, wilden, unzivilisierten Bevölkerungen, die als Bedrohung dargestellt wurde, also so negativ wie möglich gezeigt wurde.

Und das ist ein Bild, gegen das wir seit längerem angehen müssen, das auf unseren Schultern lastet, aber wo ich denke, dass wir eine Möglichkeit haben, da wieder rauszukommen. Auch dieses Projekt, diese Ausstellung, die wir hier machen, geht halt massiv gegen diese kulturellen Stereotype vor, und diese Stereotype, die halt auch als Basis für eine kulturelle und ökonomische Unterwerfung verwandt worden sind.

Von Billerbeck: Vodou wurde ja 2003 vom Expräsidenten Haitis als Religion anerkannt; 90 Prozent der Haitianer glauben daran, 80 Prozent der Haitianer sind zugleich katholische Christen. Das schließt sich offenbar nicht aus, dass man einerseits dem Vodou zugetan ist und andererseits auch Christ ist. Wie geht das?

Beauvoir-Dominique: Eine wichtige Perspektive dazu besteht darin, dass wenn Vodou thematisiert wird, es immer um Kultur und Religion geht. Also Vodou ist als Kultur und Religion lange Zeit einfach extrem dominant gewesen und ist es auch heute noch. Es ist fast undenkbar, sich als Vodouist zu bezeichnen oder von sich das zu sagen, denn es ist so allgegenwärtig, jeder macht es, jeder tut es, es ist überall, es ist in unserem Tanz, unserer Musik, unserer Kultur, unserem Alltag wie das Kreol, das wir sprechen, unsere Sprache. Wir könnten vielleicht auch Englisch und Französisch sprechen, aber das ist nicht unsere Sprache, da fühlen wir uns nicht zu Hause.

Das Kreolische ist unser Ausdruck genau wie das Vodou in der Kultur und in unserem Leben, es ist eine Art zu leben. Man kann sagen, dass 75 Prozent der Bevölkerung Haitis katholisch sind, 20 Prozent protestantisch, aber 110 Prozent sind Vodou-Anhänger. Und dort sieht man, es geht über das Allgegenwärtige noch hinaus, es ist sozusagen übergreifend. Und seit 1987 Duvalier abgesetzt wurde, wurde Haiti offiziell als ein laizistisches Land bezeichnet. Aber das war in der Tat nie wirklich der Fall, denn der Katholizismus dominierte sozusagen von offizieller Seite immer noch, dass alle nationalen Feiertage an katholischen Festen ausgerichtet waren, und so kommt es auch, dass offiziell Vodou keinen Schutz seitens des Staates genießt.

Als ein Beispiel kann man ja nennen, dass nach dem Erdbeben sich Anhänger des Vodou versammelt haben, Vodoupriester in einem Tempel, heimlich, und dort eine Messe gefeiert haben und dann von Protestanten attackiert wurden. Und zwar nicht einfach nur so, sondern wirklich brutal attackiert, mit Steinen beworfen und so weiter, also ein illegaler Vorgang, der aber keineswegs verfolgt wurde, also es gab keinerlei Polizeiaktion dagegen, obwohl dann auch bekannt war, wer das war, trotz internationaler Reportagen dazu. Also es ist nichts passiert. Man kann sagen, dass die dominante Situation immer noch Haiti in diesem Sinne ökonomisch, politisch, kulturell und religiös unterdrückt.

Von Billerbeck: Es sind in dieser Ausstellung hier, die in Berlin jetzt gezeigt wird, um darauf zurückzukommen – wir haben jetzt ganz viel über Politik gesprochen, ganz viel über das Erdbeben –, ja Objekte der Vodoureligion, der Vodoukultur ausgestellt, die sind aber in der Ausstellung wie erstarrt. Man steht als Besucher davor und sieht sie ja nicht in Aktion. Wie kann man sich einen Eindruck verschaffen als jemand, der Vodou nicht kennt und diese Objekte sieht von diesen Geheimgesellschaften, die Spiegel, die Schlangengötter ... Wie kann man sich einen Eindruck verschaffen, wie das dann tatsächlich abläuft?

Beauvoir-Dominique: Ich denke, das ist eine wertvolle Frage. Wenn ich durch eine Ausstellung gehe oder wenn wir durch Ausstellungen gehen, sehen wir die Dinge, wie sie da stehen. Man fragt sich dann, wie werden diese Ausstellungsobjekte zu lebendigen Objekten, zu Dingen, die in der Wirklichkeit ja ein Leben haben und da einfach nur so still herumstehen?

Vodou ist keine Religion, bei der ausschließlich ein Anbeten von irgendetwas stattfindet, wo man einen ruhigen Kult zelebriert und Gegenstände oder Ähnliches angebetet werden. Das ist eine Religion, die die Menschen gegen ihre Unterdrückung geschaffen haben. Die Rolle, die sie für Haitis Bevölkerung spielt, ist immer noch in diesem Sinne zu verstehen, also sie hilft uns, Krankheiten zu heilen, sie hilft uns, unsere Kriege zu kämpfen, sie hilft uns, das zu sagen, was wir wirklich sagen wollen, um mit ihr klarzukommen, mit unserem Leben. Das ist unsere Magie.

Und jetzt sitzen diese bewegungslosen Objekte still da und das Ding dabei ist ja auch, dass sie eigentlich nicht gesehen werden sollten. Das sind ja oft geheime Objekte, die im Verborgenen stehen oder auch deren rituelle Handlungen im Verborgenen stattfinden. Und damit müssen wir jetzt umgehen, dass sie jetzt im Tageslicht stehen und so einer großen Öffentlichkeit zugänglich sind.

Aber wir verfolgen ein Ziel mit dieser Ausstellung: Wir wollen in der Lage sein, diesen Kampf voranzutreiben. Als Erstes wollten wir ein Vodoumuseum, ein Zentrum einrichten, das uns hilft, mittels dieser Ausstellungsgegenstände Stereotype zu zerstören, gegen diese Stereotype vorzugehen mit all denen zusammen, die diese universellen Prinzipien teilen.

Wenn wir auf diese Objekte zugehen, merken wir: Sie sprechen zu uns nicht als Deutsche, Franzosen oder Schweden oder Amerikaner, sondern auf eine universelle Art und Weise. Sie sprechen uns an auf Unterdrückung, auf den Schrei nach Freiheit, das ein universelles Phänomen ist. Und so hoffen wir, dem Besucher zu ermöglichen, diese Stereotype hinter sich zu lassen und zu sehen, was hinter diesen vielen Spiegeln, immer wieder die Spiegel, steckt und sich selbst im anderen zu sehen. Und das, denke ich, macht auch den Wert dieser Ausstellung aus.

Von Billerbeck: Rachel Beauvoir-Dominique, die Ethnologin und Vodoupriesterin, betreut als Kuratorin die weltweit größte Sammlung von Vodoukultobjekten, die derzeit in Berlin ausgestellt wird. Herzlichen Dank für das Gespräch, das von Marei Ahmia übersetzt wurde! Die Ausstellung Vodou - Kunst und Kult aus Haiti ist im Ethnologischen Museum Berlin-Dahlem bis zum 24. Oktober zu sehen, eine Ausstellungskritik können Sie heute Abend in unserer Sendung "Fazit" hören.