Ethnologin: Die ethnische Karte gespielt

Moderation: Liane von Billerbeck · 21.06.2010
Nicht Ethnizität ist für die Ethnologin Judith Beyer vom Max-Planck-Institut der Auslöser für den Konflikt in Kirgistan. Der Zwist zwischen Kirgisen und Usbeken werde eher von den Anhängern des Ex-Präsidenten Bakijew als Mittel zur Eskalation geschürt, um die Lage im Land zu destabilisieren und das für den 27. Juni angekündigte Referendum zu verhindern.
Liane von Billerbeck: Von über 2000 Toten in Kirgistan ist die Rede, Hunderttausende Usbeken sind auf der Flucht vor der Gewalt, viele konnten sich über die Grenze nach Usbekistan retten, bevor sie geschlossen wurde. Zwei ethnische Gruppen, so scheint es jedenfalls, stehen sich im Konflikt in Kirgistan gegenüber: Auf der einen Seite die usbekische Minderheit, auf der anderen Seite die Kirgisen. Ob dieser Eindruck stimmt und welche Ursachen dieser Konflikt hat, das habe ich vor unserer Sendung Judith Beyer gefragt, die Ethnologin vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle an der Saale ist vergangene Woche aus Bischkek zurückgekehrt. Frau Dr. Beyer, ich grüße Sie!

Judith Beyer: Hallo!

von Billerbeck: Die Kirgisen gegen die Usbeken – so vereinfacht wird dieser Konflikt im Ferghanatal dargestellt, also als ein ethnisch konnotierter Streit, der in schwerste Gewalt mündete. Sie sind gerade aus Kirgistan zurück. Wie haben Sie diesen Konflikt erlebt und wahrgenommen?

Beyer: Zuerst muss ich sagen, dass ich zwar im Land war, aber im Nordwesten des Landes, in der Region Talas, die von diesen Unruhen zu dem Zeitpunkt, wo sie ausgebrochen sind, erstmal gar nichts mitbekommen hat. Also wir haben erst zwei Tage später überhaupt über Gerüchte diese Nachrichten erfahren und mir ist das Ausmaß dieser Gewalt erst im Nachhinein klar geworden, wo ich wieder in Deutschland war und Zugang hatte zu Internet und westlicher Presse. Zum ethnischen Konflikt muss man sagen, dass das sicherlich eine verkürzte Sichtweise ist und dass man sehr genau unterscheiden muss zwischen möglichen Auslösern dieses Konflikts und der Art und Weise, wie er sich jetzt entwickelt hat.

von Billerbeck: Worum geht es denn eigentlich bei diesem Streit, was ist der Hintergrund für diese Gewaltausbrüche?

Beyer: Es gibt verschiedene Theorien dazu, bis jetzt ist keine bestätigt worden. Es ist sicherlich verkürzt zu sagen, dass das ein ethnischer Konflikt ist zwischen Usbeken und Kirgisen, der auf langen historischen Problembeziehungen aufbaut. Es scheint viel mehr so, dass der Konflikt von außen geplant worden ist und kaltblütig durchgeführt wurde. Es gibt auch eine Menge von Gerüchten, die sagen, dass Kirgisen Usbeken umgebracht haben, dass Usbeken Kirgisinnen vergewaltigt hätten, und diese Gerüchteküche brodelte in den ersten Tagen und hat dann dazu geführt, dass auch in der Bevölkerung eben diese Sichtweise, die Sie vorhin geschildert haben, nämlich dass es die Kirgisen und die Usbeken sind, die da kämpfen, diese Sichtweise eben verstärkt worden ist. Ich würde nicht von einem ethnischen Konflikt reden, sondern von einer Ethnisierung der Gewalt, das heißt diejenigen, die ein Interesse an dieser Eskalation hatten, wussten ganz genau, dass wenn sie diese ethnische Karte spielen, dass das der Weg ist, mit dem die Situation am schnellsten eskalieren kann. Und die wichtige Frage wäre eigentlich: Wie ist das denn möglich gewesen?

von Billerbeck: Für mich ist zuerst die Frage, wenn Sie sagen, diejenigen, die den Konflikt geschürt haben – wer war das denn, wer hat denn diesen Konflikt ausgelöst? Denn wenn man sagt, das ist kein ethnischer Konflikt, dann muss es ja trotzdem irgendwelche Gründe geben, dass es möglich ist, dass da so eine Gewalt ausbricht, dass man sich fast erinnert fühlt an ich sag mal Jugoslawien oder Ruanda, das sind so die Bilder, die dann plötzlich so aufscheinen.

Beyer: Ja also für die Bevölkerung und für die Präsidentin der Übergangsregierung Rosa Otunbajewa ist klar, dass Anhänger des Ex-Präsidenten die Verursacher dieses Konflikts sind, die sogenannten Bakijew-Leute, wie sie in der Bevölkerung genannt werden, würden auf diese Art und Weise eben in Zusammenarbeit mit der organisierten Kriminalität versuchen, den Staat weiter zu destabilisieren, um auch das für den 27. Juni angekündigte Referendum zu verhindern, in dem das Land eine neue Verfassung wählen soll und Rosa Otunbajewa als Präsidentin im Amt bestätigen soll. Die offizielle Version lautet also, je instabiler die Lage ist und je weniger souverän die Sicherheitskräfte agieren können, desto einfacher wird es für diese kriminellen Gruppen und auch die Familie des Ex-Präsidenten sein, weiterhin ihre Geschäfte zu verfolgen. Und das sind vor allen Dingen Drogengeschäfte.

von Billerbeck: Das heißt, es geht gar nicht um einen ethnischen Konflikt, dieser Konflikt hat kein ethnisches Moment?

Beyer: Der Konflikt hat insofern mittlerweile eine ethnische Dimension erreicht, als dass ethnische Kirgisen gegen ethnische Usbeken vorgehen. Die wichtige Frage für mich ist aber, wie es dazu kommen konnte. Das heißt, Ethnizität ist nicht der Auslöser des Konflikts gewesen, sondern eher das Mittel zur Eskalation.

von Billerbeck: Wenn wir uns die Geschichte ansehen, Frau Beyer, Sie sind ja Ethnologin: Wie ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Gruppen, zwischen Kirgisen und Usbeken über die Jahrhunderte gewachsen? Wo liegen da Gemeinsamkeiten, wo liegt Trennendes?

Beyer: Also man kann natürlich unglaublich weit in die Geschichte zurückgehen, aber ich würde eher in der gegenwärtigen Geschichte anfangen, nämlich mit der Tatsache, dass sowohl Usbeken als auch Kirgisen seit langer Zeit friedlich im Ferghanatal miteinander leben, dass sie einander heiraten, Nachbarn sind, Kollegen sind, gemeinsam zur Schule gehen, dass es Freundschaften gibt zwischen ihnen und dass eben keine gewalttätige Beziehung zwischen ihnen im Alltag oder einfach aufgrund ihrer Ethnizität vorgeherrscht hat. Es gab einen Konflikt im Jahr 1990, der wird als der sogenannte Osch-Konflikt oft bezeichnet, in dem bereits einmal eine ähnliche Welle der Gewalt Südkirgistan überrollt hat. Damals ging es ganz konkret um Forderungen der ethnischen Usbeken an die damals noch kommunistische Regierung, dass Usbekisch als offizielle Sprache anerkannt werden sollte. Und es ging um die Besetzung von Land durch ethnische Kirgisen. Das heißt dieser damalige Konflikt hatte einen ganz konkreten Auslöser und ist aber, nachdem er beigelegt worden ist, in keinster Art und Weise wieder aufgetreten.

von Billerbeck: Nun fragt man sich aber, wie kommt es dann jetzt zu so blutigen Konflikten, die also so viel Menschen die Heimat kostet, dass also Hunderttausende das Land verlassen, über die Grenze nach Usbekistan fliehen? Wir wissen ja, dass diese Grenzen aus der Stalin-Zeit willkürlich gezogen wurden. Trotzdem – wie kommt es, dass der so blutig eskaliert? Das ist ja auch eine Frage, die sich viele damals – ich sage noch mal das Beispiel Ex-Jugoslawien – auch gestellt haben: Wie kommt es, dass da Nachbarn plötzlich umgebracht werden und dass man sich anfängt zu hassen, wenn Sie sagen, es gab diesen Konflikt zwischen Usbeken und Kirgisen gar nicht?

Beyer: Seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1990 hat sich eine ethnonationalistische Ideologie im Land immer stärker und auch sichtbarer ausgebreitet. Es ist so, dass die meisten öffentlichen Ämter mit ethnischen Kirgisen besetzt sind, dass das Militär von ethnischen Kirgisen geleitet wird und dass das Bildungssystem zu einem Propaganda-Apparat umfunktioniert wurde, durch den auch die Geschichte des kirgisischen Staats neu geschrieben wurde und hauptsächlich auf die Geschichte der ethnischen Kirgisen reduziert wurde. Das richtet sich vor allem an einem Epos aus, das Manas-Epos nach dem gleichnamigen mythischen Volkshelden und Kriegsführer, auf den sich alle ethnischen Kirgisen als einigenden Vorfahren berufen. Das bedeutet also, dass diese neue postsowjetische Identität des kirgisischen Staats eng an genealogische Konstruktionen gekoppelt wurde, die Nichtkirgisen ausgeschlossen hat. Der erste kirgisische Präsident Askar Akajew hat Kirgistan zwar noch als das gemeinsame Haus aller dort lebenden ethnischen Gruppen bezeichnet, aber de facto hat es keinerlei Teilhabe an dieser neu zu formenden Nation gegeben, die sich eben hauptsächlich entlang der Vorstellung von gemeinsamer Abstammung vollzogen hat. Und diese ethnonationalistische Tendenz hat sich auch unter der Amtsherrschaft des zweiten kirgisischen Präsidenten Kurmanbek Bakijew, der durch die sogenannte Tulpenrevolution 2005 an die Macht gekommen ist, weiter fortgesetzt. Das heißt, es hat eben seit der Unabhängigkeit des Landes sehr wenig Bemühungen gegeben, eine plurale und auf Integration aller Bevölkerungsgruppen basierende Gemeinschaft zu fördern.

von Billerbeck: Frau Beyer, Sie waren vorige Woche in Kirgisien, sind gerade zurückgekommen. Wie wird denn der Konflikt im Land diskutiert? Sie haben ja geschildert, dass Sie weit entfernt waren und erstmal gar nicht mitbekommen, was da passiert ist. Wie wird der im Land diskutiert?

Beyer: Also ich habe gerade gestern wieder mit Talas telefoniert und genau diese Frage gestellt und die meisten Dorfbewohner in dem Dorf, wo ich lange Zeit gelebt habe, sind ethnische Kirgisen, also es gibt dort keine anderen ethnischen Gruppen, und für die ist im Moment völlig irrelevant, wer da unten leidet. Das Wichtige ist, sagen sie, dass diese Gewalt beendet werden muss und dass man humanitäre Hilfe in den Süden bringen muss, und sie haben eine relativ große Summe an Geld in kurzer Zeit zusammenbekommen und schicken gerade also humanitäre Hilfe in den Süden. Das heißt, für den Großteil der Bevölkerung ist es eben nicht ein Konflikt, der zwischen uns Kirgisen und den Usbeken stattfindet, obwohl es leider auch viele Stimmen gibt, die genau das behaupten. Aber gerade Leute, mit denen ich viel zu tun habe, sagen eben, wir sind alle Bürger dieses Landes und wir müssen einander helfen, wir müssen gucken, dass diese Gewaltwelle abebbt und den Leuten geholfen wird.

von Billerbeck: Was sagen Sie nun, wie kann dieser Konflikt gelöst werden? Wer muss da helfen, muss da Hilfe von außen kommen aus Moskau, von der UN, was ist Ihr Rezept?

Beyer: Ein Rezept gibt es leider nicht. Also wenn man wieder die Bevölkerung fragt, dann hätten die natürlich am liebsten, dass die Hilfe aus Russland kommt, die Präsidentin der Übergangsregierung Rosa Otunbajewa hat auch als Erstes den russischen Präsidenten Medwedew um Hilfe gebeten. Aber sowohl Russland als auch das benachbarte Usbekistan sind gerade sehr vorsichtig und halten sich aus diesem Konflikt raus, schicken also keine Militärtruppen und auch keine Schutztruppen. Das heißt, das Land ist im Moment auf sich alleine angewiesen und wir können nur hoffen, dass der kirgisische Staat, der im Moment wirklich sehr instabil ist, diese große Aufgabe bewältigen kann. Er kann auf keinen Fall diese humanitäre Katastrophe alleine bewältigen und ich denke, das ist da, wo man jetzt sofort ansetzen muss. Also die Bevölkerung im Süden und auch an der usbekischen Grenze ist auf humanitäre Hilfe angewiesen und selbst wenn diese Hilfe mittlerweile auch das Land erreicht, muss man sicherstellen, dass sie die Familien im Süden erreicht, die im Moment sich immer noch versteckt halten.

von Billerbeck: Die Ethnologin Dr. Judith Beyer vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung aus Halle an der Saale über den Konflikt in Kirgistan. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Beyer: Bitte schön!
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