Ethik und unser Grundgesetz

Würde, was ist das?

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Eine junge Frau steht am Wasser und zeigt mit ihren Armen das Gleichheitszeichen.
"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren", heißt es in der Menschenrechtserklärung. © Gettyimages / EyeEm / Sarah Köster
Gedanken von Rolf Schneider · 05.08.2020
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Man darf sie nicht verletzen, sie ist unantastbar und sie wird in Diskussionen oft ins Feld geführt. Fragt man konkreter nach, verschwimmen die Vorstellungen von Würde. Der Autor Rolf Schneider versucht, etwas Klarheit in die Sache zu bringen.
Artikel eins, Abschnitt eins unseres Grundgesetzes lautet: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Dieser Text wird immer wieder zitiert, von Publizisten und, mehr noch, von Politikern. Er ist ein beliebtes Element einschlägiger Sonntagsreden. Es gibt die Behauptung, nur ein einziger Wert in unserer Verfassung sei absolut und der betreffe die Würde des Menschen, während alle anderen Werte sich gegenseitig einschränkten. Hiervon mit betroffen sei auch der Schutz des Lebens. Bleiben wir bei der Würde. Was aber ist denn das?

Ein Wert, der allen zuzuschreiben ist

Außerhalb seines grundgesetzlichen Zusammenhangs kommt das Wort kaum noch vor. Gebräuchlich sind allenfalls seine Negativa: würdelos und unwürdig. Gelegentlich ist von würdevoll die Rede. Das Lexikon definiert den Begriff als einen Wert, der allen Menschen gleichermaßen und unabhängig von Unterscheidungsmerkmalen wie Herkunft, Geschlecht, Alter oder Status zuzuschreiben sei. Das klingt einigermaßen ungefähr. Inhalte werden nicht benannt. Als Inhalte wird man körperliche Integrität, Respekt und Selbstwertbewusstsein erwähnen dürfen, auch der Schutz des eigenen Lebens gehört dazu.
Dass der Begriff Würde gleich am Eingang unseres Grundgesetzes steht, ist, wie die unmittelbar darauf folgende Erklärung von Individual- und Kollektivrechten, ein eher ungewöhnlicher Vorgang. Die Verfassung der ersten deutschen Republik, jener von Weimar, beginnt mit einer ausführlichen Beschreibung der staatlichen Ordnung und ihrer Organe. Die Individualrechte werden erst relativ spät, nämlich ab Artikel 110, beschrieben. Der Begriff Würde findet sich dort nicht.

Ein Attribut des Kaisers

In der Paulskirchen-Verfassung von 1849 hingegen gibt es ihn, und zwar als ausschließliches Attribut des Staatsoberhauptes, das hier der deutsche Kaiser ist. Dies macht darauf aufmerksam, dass die Würde früher, als noch häufiger von ihr die Rede war, bevorzugt an hierarchische Ämter gekoppelt wurde. An dem Wort haftet ein vager Geruch von mittelalterlicher Feudalordnung, welches Schicksal es mit einem anderen, heute gleichfalls kaum noch gebräuchlichen Begriff teilt: der Ehre.
Der Eingang unseres Grundgesetzes orientierte sich erkennbar an der ein Jahr zuvor verabschiedeten Menschenrechtserklärung. Deren Artikel eins lautet: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen." Bemerkenswert, wie hier, anders als in unserem Grundgesetz, die Würde als eine gleichrangige Größe neben anderen erscheint. Für Absolutheit spricht das nicht unbedingt. Von Absolutheit spricht auch nicht das Grundgesetz.

Menschenwürde wird fortwährend angetastet

Wenn der Bundespräsident in seinem Interview sagt, die Menschenwürde sei ein absoluter Verfassungswert, so begründet er das nicht. Offenbar meint er, es werde dies durch die erklärte Unantastbarkeit garantiert. Die entsprechende Forderung in Artikel eins klingt erhaben und schön, tatsächlich aber wird die Menschenwürde fortwährend angetastet, auch hierzulande: durch Beleidigung, durch üble Nachrede, durch Zurücksetzung, durch Willkür, durch Intrigen, durch Unrechtshandlungen der verschiedenen Art. Gegen vieles davon ist die staatliche Gewalt ohnmächtig.
Verfassungen von demokratischen Staaten enthalten gleichermaßen die Beschreibung von Realien wie die Aufzählung von Geboten. Dass letztere eingehalten werden, ist der kollektive Wunsch, durchweg befolgt werden sie nicht. Ob ein Begriff wie Absolutheit dabei hilfreich ist, stehe dahin.

Rolf Schneider, geboren 1932 in Chemnitz, war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller und Essayist. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte.

Rolf Schneider, Schriftsteller, steht im Mai 2019 in einem Haus im Land Brandenburg. 
© picture alliance/dpa/Soeren Stache
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