Kommentar zur Ethik der Totenruhe

Nur Gutes über den verstorbenen Papst Benedikt?

04:46 Minuten
Der emeritierte Papst liegt aufgebahrt im Petersdom. Um ihn versammelt stehen und knien betende Menschen.
Abschied am offenen Sarg: Drei Tage lang war der emeritierte Papst Benedikt XVI. im Petersdom in Rom aufgebahrt. © Getty Images / Christopher Furlong
Von Arnd Pollmann · 08.01.2023
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Der verstorbene Papst Benedikt XVI. wird nicht nur breit gewürdigt, sondern auch kritisiert. Ob und wie sich das mit der Totenruhe verträgt, fragt Arnd Pollmann in seinem Kommentar.
Ein Mensch stirbt. Der Sarg ist kaum unter der Erde, schon geht es los: "Sie war nun wirklich keine gute Mutter!" - "Er war ein Trunkenbold" oder: "Sein ganzes Geld hat er diesem billigen Flittchen vermacht". Als Zaungast bei einem solchen Leichenschmaus fragt man sich unweigerlich: Hat das nicht noch Zeit? Man wirft jüngst Verstorbenen keinen Dreck hinterher. Schließlich gibt es doch so etwas wie Totenruhe.

Unfair und stillos

Was genau ist so anstößig an dieser postmortalen Lästerei? Man könnte meinen: eigentlich nichts. Denn die Toten selbst erleben diese Schmähungen ja gar nicht mehr. Und doch wirkt diese üble Nachrede seltsam unsportlich: Eine Leiche kann sich gegen derart verspätete Anschuldigungen nicht mehr zur Wehr setzen. Unfair ist das, weil die lästernde Person ihre Vorwürfe gar nicht mehr zu belegen braucht; so verfangen sie auch leichter.

Liegt man erst einmal unter der Erde, ist keine Gegendarstellung mehr zu erwirken.

Arnd Pollmann, Philosoph

Ein zweiter Grund: Es ist feige. Wahrscheinlich hat sich die Anklägerin nicht getraut, die gescholtene Person zu Lebzeiten und damit rechtzeitig mit ihren Beschwerden zu konfrontieren. Vielleicht wollte sie ja das Erbe nicht gefährden? Diese Feigheit zeugt von schlechtem Stil. Aus dem gleichen Grund sollte man übrigens auch nicht hinter dem Rücken lebender Dritter tratschen – selbst wenn das Spaß macht. Und wenn Sie partout einem bereits toten Menschen noch etwas mitgeben wollen, so versuchen Sie es doch mal mit einer Séance.
Porträt von Arnd Pollmann
Nachwirkender Anspruch auf Respekt: Arnd Pollmann denkt über die Würde von Lebenden und Toten nach.© privat
Auch das Strafgesetzbuch kennt neben der "Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener" den Tatbestand "Störung der Totenruhe". Primär geht es dabei um die Schändung von Leichen und Gräbern. Aber es ist an der besagten Stelle auch von dem Verbot "beschimpfenden Unfugs" die Rede. Diese kurios wirkende Formel verrät eine gewisse Verlegenheit des Gesetzgebers, genauer in Worte zu fassen, was man sich albtraumhaft ausmalen kann: Partys auf Friedhöfen, Urinieren auf Grabsteine, Hakenkreuze, Nekrophilie.

Gras wachsen lassen

Doch auch jenseits derart krasser Friedhofsschändungen lässt sich daraus ein postmortaler Achtungsanspruch herauslesen, den man manchmal auch "Totenwürde" nennt. Die zugegeben irrational anmutende, aber dennoch beunruhigende Intuition lautet: Was, wenn die tote Person am Ende doch noch etwas von diesen Verunglimpfungen mitbekommt und sich deshalb nun unruhig im Grabe herumdreht?

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Mit Blick auf Fälle wie den in dieser Woche beerdigten Ex-Papst ergibt sich nun allerdings ein Paradox: Einerseits sollen wir Pietät gegenüber den Toten walten lassen. Ja, manchmal erscheint es regelrecht angebracht, erst einmal Gras über die Sache oder genauer: über das Grab wachsen zu lassen.
Andererseits beginnt eine wahrhaft befreiende Vergangenheitsbewältigung oft erst mit dem Brechen eines Schweigens. Die Aufarbeitung von Familiengeschichten, politischen Skandalen oder institutionellem Machtmissbrauch muss bisweilen "über Leichen gehen". Warum sollte man die Wahrheit unter den Teppich kehren, nur weil jemand tot ist, der sich dieses Schweigen zu Lebzeiten gar nicht verdient hat? Käme dies nicht einer Verhöhnung möglicher Opfer gleich?

Würde vor und nach dem Tod

Vielleicht haben wir es hier mit einem letztlich unauflösbaren Widerspruch zu tun. In jedem Fall aber wäre ein beidseitiger Denkfehler zu vermeiden, der auf dem Irrglauben beruht, dass Tote anders als Lebende zu behandeln sind; sei es zurückhaltender, schonender oder aber scham- und schonungsloser.
Was gesagt werden muss, muss gesagt werden. Aber diese Kritik darf auch nach dem irdischen Exitus nicht die Grenze der Demütigung, Herabwürdigung oder gar Entmenschlichung überschreiten. Man muss sich einfach nur vorstellen, die Person bekäme es noch mit. Vermutlich ist es das, wozu uns jene "Würde der Toten" verpflichtet, die zugleich auch die Würde der Lebenden ist.

Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber der Zeitschrift für Menschenrechte.

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