Estlands Erfolgsrezept ist "spezifisch"

01.10.2011
Der Tallinner Staatswissenschaftler Wolfgang Drechsler sieht in der wirtschaftlichen Entwicklung Estlands kein Modell für andere EU-Länder. Das Erfolgsgeheimnis Estlands sei eine klare neoliberale Politik.
André Hatting: Seit Anfang des Jahres zahlen auch die Esten mit dem Euro. Ein Beitritt zum Währungsverbund mitten in der schlimmsten Wirtschaftskrise der EU, das ist wie auf einen Dampfer springen, der gerade absäuft, klingt in jedem Fall nach schlechtem Timing. – Großer Irrtum! Die Wirtschaft in Estland brummt, das Haushaltssaldo liegt im Plus und die Staatsverschuldung beträgt 6,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist die mit Abstand geringste aller Euro-Länder. Zum Vergleich: In Griechenland sind es 142 Prozent. Wolfgang Drechsler ist Professor für Staatswissenschaften an der Technischen Universität Tallinn und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Drechsler!

Wolfgang Drechsler: Ja, guten Morgen!

Hatting: Was ist denn das Erfolgsgeheimnis Estlands?

Drechsler: Ich denke, das Erfolgsgeheimnis von Estland ist eine ganz klare und in der Tat neoliberale Politik, die vom Premierminister Andrus Ansip deutlich und ohne größere Kompromisse gegen gesellschaftliche Widerstände durchgesetzt wird und durchgesetzt werden kann. Also eine klare Linie, eine eindeutige Linie, die sehr stark auf Kennzahlen orientiert ist. Das heißt, die Herstellung dieser guten Kennzahlen ist Teil des Programms. Dazu gehört eben auch, dass das … oder ein Grund, warum das so wichtig ist, ist, dass für Estland das Image gerade im Ausland ganz außerordentlich wichtig ist.

Hatting: Kann man Estland als Euro-Musterknaben sehen und vielleicht sogar als Vorbild für Griechenland?

Drechsler: Nein, denke ich nicht. Estland an sich ist ganz ohne Zweifel eine Erfolgsgeschichte, wenn auch nicht ohne gesellschaftliche Kosten. Aber sehr viele der estnischen Erfolgspunkte sind ganz estnisch spezifisch. Sie funktionieren nur in einem Land von 1,3 Millionen, in dem es einen breiten Konsensus gibt, dass es wichtig ist, so gut dazustehen, innerhalb wie auch außerhalb, und wo die Bevölkerung wirklich bereit ist, Einschnitte zu machen, auch bei sich selber für diesen Preis.

Hatting: Herr Drechsler, Sie haben gerade von gesellschaftlichen Kosten gesprochen. Was genau meinen Sie damit?

Drechsler: Na ja, wenn Sie … Wenn es einen Stein der Weisen gäbe, wie die Krise zu meistern wäre durch Regierungspolitik, dann würden es die Griechen oder meinetwegen auch die Deutschen oder die Iren oder die Italiener ja auch machen. Es ist ja nicht so, dass die Regierungen in diesen Ländern dasitzen und sagen, wie kommen wir möglichst schlecht durch die Krise. Was ich damit meine, ist, dass es in Estland, dass Sie solche Reformen natürlich nur durchsetzen können mit bestimmten sozialen Kosten, mit bestimmten wirtschaftlichen Kosten, mit einem relativ zur Zeit hohen Niveau an Arbeitslosigkeit, insbesondere an Jugendarbeitslosigkeit, mit Problemen im Import, Export, wenn man sich es genau anschaut, und natürlich mittelfristig auch mit bestimmten Problemen. Kostenlos kriegen Sie so hervorragende Zahlen nicht.

Hatting: Sie leben jetzt seit 1993 in Estland. Können Sie uns verraten, warum die Menschen anders als in Griechenland diesen harten Sparkurs mit all den Folgen, die Sie gerade beschrieben haben, einfach so hinnehmen?

Drechsler: Also, ich würde schon denken, es gibt diesen gesellschaftlichen Konsensus. Man hat ja jetzt über die Ausweitung des Euro-Rettungsschirms in Deutschland gerne gesagt, dass 80 Prozent der Abgeordneten gegen die Meinung von 80 Prozent der Wahlbevölkerung gestimmt haben. Das ist in Estland nicht der Fall. Es ist in der Tat Konsens. Der Grund dafür, denke ich, hat zu tun mit dem Hintergrund von Estland, das ja zur Sowjetunion gehörte zur Zeit der Zweiten Welt damals, und dass man in Estland immer das Gefühl hatte, nicht wirklich präsent, nicht wirklich da zu sein. Das heißt, diese sehr kleine Nation von wie gesagt 1,3 Millionen zu charakterisieren, auch im Ausland überhaupt präsent zu sein und gut dazustehen, ist außerordentlich wichtig auch für den einzelnen Esten, die einzelne Estin. Das ist das Erste. Und das Zweite ist wie gesagt die relativ starke Verlässlichkeit. Das heißt, dass deutlich kommuniziert wird: Leute, das ist der Kurs, der ist teuer, diesen Preis müsst ihr zahlen, aber wir machen das und mit diesem Ergebnis. Und das ist auch wirklich der Fall.

Hatting: Trotzdem finde ich es verblüffend, dass der Wirtschaftsminister Juhan Parts gesagt hat, es wundere ihn selbst, dass die Bevölkerung alles so klaglos hinnehme.

Drechsler: Ja, das …

Hatting: … das klingt fast frivol …

Drechsler: … ja, der Wirtschaftsminister Parts ist in der Tat sehr, sehr offen und sozusagen kein Freund diplomatischer Formulierung, das ist in der Tat wahr. Er hat mit dieser Wirtschaftspolitik selber auch – verglichen mit dem Premierminister – relativ wenig zu tun. Heute aber … Also, ich würde das sozusagen als vielleicht mangelnde Analyse hinnehmen, warum es hingenommen wird, überrascht mich eigentlich nicht. Wenn ich mir die estnische Geschichte anschaue, halte ich dieses Hinnehmen schon für nachvollziehbar. Nur eben auch wieder, um das zu betonen: Das ist etwas, das funktioniert in Estland, und woanders funktioniert es eben kaum.

Hatting: Verblüffend ist ja auch, dass die Situation der russischen Minderheit im Nordosten des Landes kaum eine Rolle spielt auch in der Berichterstattung über das Land. Das fällt einfach unter den Tisch.

Drechsler: Ja, wobei es da sicherlich auch graduelle Verbesserung gibt, ganz ohne Zweifel. Aber in der Tat hat man in letzter Zeit das Gefühl, dass sich Estland zu so einer Art Poster Boy neoliberaler Reformen entwickelt hat und das wird in Estland zwar sehr freudig, aber dann doch auch teilweise etwas verblüfft rezipiert, wie positiv Estland dargestellt wird.

Hatting: Da sind wir auch bei der Berichterstattung: Sie haben die Folgen, Sie haben den Preis dieses neoliberalen Kurses angesprochen, da ist zum einen die hohe Arbeitslosigkeit, man könnte noch die Teuerungsrate zum Beispiel erwähnen. Und dennoch, wenn man sich die Zeitungen in Deutschland anschaut und über Berichte liest, zum Beispiel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", aber auch im "Spiegel" vor zwei Wochen, großes Dossier, da klingt das alles so, als gäbe es diese Probleme überhaupt nicht in Estland.

Drechsler: Ja, und das find ich auch recht verblüffend. Wenn ich einen Artikel lese über eine Patentmedizin, die sozusagen gegen die allgemeine Erkältung wirkt und Sie streifenfrei bräunt und das Auto können Sie damit auch noch polieren ohne alle Nebenwirkungen, dann würde ich natürlich sagen, das kann doch nicht wahr sein. Und das ist es auch, also von einer nuancierten, abgewogenen Berichterstattung ist in dieser fast schon propagandistisch zu nennenden Berichterstattung wirklich nicht die Rede.

Hatting: Und warum, haben Sie eine Erklärung dafür?

Drechsler: Das weiß ich nicht. Es mag sein, dass es einerseits für eindeutige Geschichten einen besseren Markt gibt, das andere kann sein, dass man hier sozusagen einen angeblich empirischen Beweis für bestimmte Reformmaßnahmen hat. Aber, also, in dieser ganzen Geschichte wundert mich das am meisten. Es ist auch aus meiner persönlichen Warte für Estland nicht sehr gut, derart positiv, übertrieben positiv dargestellt zu werden und unnuanciert, weil das wiederum sozusagen in Estland das Feedback bringt: Schaut, wie toll wir dastehen, es ist also richtig, zum Beispiel auf sozialem Gebiet Einschnitte zu machen für diese hervorragende Darstellung im Ausland.

Hatting: Wolfgang Drechsler, Professor für Staatswissenschaften und einer der Gründungsdirektoren der Technischen Universität Tallinn war das. Herr Drechsler, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Drechsler: Danke schön meinerseits!


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