Geschichte und Kultur Estlands

"WIR haben noch die Erinnerung"

Panoramablick über Tallinn: Zu sehen sind vor gewitterartig bewölktem Himmel Kirchenspitzen und mittelalterlich anmutende Gebäude
Auf der Suche nach dem Selbst: die estnische Hauptstadt Tallinn. © Unsplash / Leo Roomets
Von Elke Pressler · 04.06.2022
Die Geschichte des baltischen Staates Estland ist bewegt, dramatisch und kaum bekannt. Es ist eine Geschichte des fortwährenden Versuchs der Auslöschung durch andere Länder - und der Gegenbewegung durch estnische Künste.
Das Gebiet des heutigen Estlands wurde seit Jahrhunderten von Dänen, Deutschen, Schweden und Russen beherrscht. Nur während einer kurzen Frist von 1920 bis 1940 war das Land unabhängig und hatte eine bürgerliche Regierung. Seit der "Singenden Revolution" von 1991 versucht Estland nun, seine Identität, seinen Kern, seine Substanz wiederzufinden.
Diese Ausgabe der "Langen Nacht" spiegelt die dramatischste Phase wider: das Trauma der sowjetischen Okkupationszeit zwischen 1939 und 1991. Außerdem geht es um die Bedeutung des Gesangs und der Lieder, die zum Überleben der estnischen Identität beigetragen haben.
Doch auch das "Kalevipoeg" ist ein Identitätsanker: Ohne das Nationalepos aus dem 19. Jahrhundert hätte sich die estnische Sprache nicht weiterentwickelt. Auch in elektronischen (Re-)Konstruktionen des Dichters und Lyrikers Jüri Reinvere oder in den Kompositionen Arvo Pärts entwickeln estnische Komponisten eigene Klangmuster.

Sie hören eine Wiederholung vom 20. September 2014

Das im Norden Europas gelegene Estland ist zugleich das nördlichste Land des Baltikums. Die Balten haben ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion singend erreicht. Verbotene Volkslieder zu singen, war eine politische Demonstration und Zeichen der Zusammengehörigkeit. Dieser langjährige Widerstand hatte Erfolg.
Die Periode der nationalen Bewegungen im Baltikum 1987 bis 1991 und des Kampfes um Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit wird daher auch als "Singende Revolution" bezeichnet.

Die Lage im Baltikum hat sich verschärft

Seit Ausstrahlung der Erstsendung 2014 hat sich die Lage verschärft, erklärte die Autorin Elke Pressler anlässlich der ersten Sendungswiederholung im Jahr 2018.

Die NATO hat in den letzten Jahren ihre Präsenz im Baltikum, in Polen und im Schwarzmeerraum erhöht und ihre Streitkräfte auf 40.000 Mann aufgestockt. Das Bündnis zitiert Russlands "Gewaltanwendung gegen seine Nachbarn" nach dem Referendum auf der Krim 2014, das zur Abspaltung der Region von der Ukraine und zur Wiedervereinigung mit Russland führte. Außerdem wirft sie Moskau vor, die rebellischen Regionen Lugansk und Donezk im Osten der Ukraine zu unterstützen.

Im Mai 2018 fanden deshalb in Estland die sogenannten "Siil" (Igel) -Übungen statt, an denen neben Truppen der estnischen Berufs- und Freiwilligenarmee, Wehrpflichtigen und Reservisten auch Einheiten aus 19 NATO- und anderen Partnerstaaten teilnehmen, insgesamt mehr als 15.000, einschließlich verstärkter "Forward Presence"-Truppen. Es war eines der bisher größten Manöver in der Geschichte des baltischen EU-und NATO-Landes. Die "Forward Presence" Aufrüstungsinitiative der NATO wurde mit der "Abschreckung Russlands" begründet.

Im Baltikum nehmen die Ängste vor Russland stetig und massiv zu, denn wie auf der Krim gibt es auch in Estland, Lettland und Litauen starke russische Minderheiten. "Sind wir als Nächstes dran", fragen sich die Esten beklommen nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Deutschland garantiert Unterstützung gegen Russland.

Vor diesem aktuell-bedrohlichen Hintergrund, in dieser Gefährdungslage stand das Jubiläum "100 Jahre Erste Unabhängigkeit Estlands von Russland" am 24. Februar 2018 in ganz besonderem Licht.

Elke Pressler, 2018

Was ist estnisch?

Die Geschichte Estlands ist die eines fortwährenden Versuchs der Auslöschung. Seit das Land sich 1991 unabhängig erklärt hat, ist es auf der Suche nach seiner Idendität, seinem Kern und seiner Substanz.
Soll der russischen Minderheit im Land ein Sprachzeugnis oder gar ein Bekenntnis zur Mehrheitskultur abverlangt werden? Und wie definiert die sich überhaupt - in einem Land, das wie kaum ein anderes auf Internet und digitale Vernetzung setzt?
Mit ihrem Roman "Fegefeuer" (2012) hat die estnisch-finnische Autorin Sofi Oksanen eine Debatte angestoßen, die noch nicht beendet scheint: Wie weit haben die Esten die Jahrzehnte sowjetischer Okkupation und erzwungenen Schweigens aufgearbeitet, und welche Lehren sind zu ziehen? Fragen, die vor dem Hintergrund der Geschehnisse in der Ukraine neue Brisanz bekommen.
Die finnisch-estnische Autorin als Ehrengast während eines Interviews im Gresham Palast auf dem 21. Budapest International Book Festival in Budapest, Ungarn, am 24. April 2014. 
Die finnisch-estnische Schriftstellerin und Dramaturgin Sofi Oksanen© picture alliance / dpa / Balazs Mohai
Um die Bedeutung von Oksanens Roman "Fegefeuer" und der gleichnamigen Oper von Jüri Reinvere geht es in der ersten Stunde dieser Sendung.

Der Kalevipoeg - das estnische Nationalepos

Die zweite Stunde unserer Sendungen befasst sich mit dem estnischen Nationalepos "Kalevipoeg" und der Bedeutung der Sprache für das Land.
Der "Kalevipoeg" stellt ungeachtet der literarischen Bewertung einen Stützpfeiler der estnischen Literatur dar. Das Epos erschien 1857 – 1861 in estnischer und deutscher Sprache, gesammelt und metrisch verbunden von Friedrich Reinhold Kreutzwald, einem Kreisarzt aus der südestnischen Stadt Võru – kurz nach der Edition des finnischen Epos "Kalevala" durch den finnischen Arzt Elias Lönnrot.
Wie dieses - und die deutschen Märchensammlungen - basiert es auf Aufzeichnungen aus dem 19. Jahrhundert, erreichte aber beim deutschen Publikum bei weitem nicht dieselbe Popularität. Trotz der Titelähnlichkeit zu dem "Kalevala" beruht es aber auf einer geistigen und historischen Grundlage, die sich wesentlich unterscheidet. Überraschenderweise hält der "Kalevipoeg" eine Botschaft bereit, die auf die Zukunft gerichtet ist.

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Wie bei den meisten Nationalepen geht es auch im "Kalevipoeg"-Epos um den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen. Die positive Seite wird von dem jungen Helden Kalevipoeg angeführt (poeg heißt Sohn, hier des Vaters Kalev). An der Spitze der bösen Seite der Welt steht der Herrscher der Hölle, der Gehörnte, der Teufel.
Zusätzlich ordnen sich die als positiv und negativ betrachteten mythologischen Wesen, Tiere und Naturkräfte in die gegensätzlichen Seiten ein. Und schließlich gibt es auch auf historische Erfahrungen der Esten zurückzuführenden Kräfte: die Eisenmänner und die bösen Zauberer auf der anderen Seite des Peipussees. Denn der Peipussee bildet die äußerste östliche Grenze zu Russland.

Die Bedeutung der estnischen Musik

Die dritte Stunde dieser Sendung widmet sich ganz der estnischen Musik. Es geht um Jüri Reinvere und Rudolf Tobias, Arvo Pärt, Lepo Sumera, Heino Eller und Erkki-Sven Tüür. Nicht alle davon sind in der westlichen Musikwelt bekannt, doch für das estnische Kulturverständnis sind sie allesamt prägende Künstler.
Jüri Reinvere ist nicht nur Komponist, sondern ebenso Dichter und Lyriker – ein Seelen-Befrager und Sprach-Akrobat, der sich viele Gedanken macht, viel gereist ist - nach Osten, wie nach Westen. Er spricht viele Sprachen und fabuliert gern auf Englisch. Gelebt hat er in Polen und in Finnland, in Schweden und in der Schweiz, aber auch in Deutschland - wie bereits viele Komponisten-Kollegen vor ihm im 19. Jahrhundert.
Seine Förderin ist die estnisch-schwedische Pianistin Käbi Laretei, ehemals Ehefrau des Regisseurs Ingmar Bergman. Sie rühmt seine künstlerische Vielseitigkeit und die Leidenschaft, mit der er auch die philosophischen Aspekte von Musik angeht und die verlorenen Völker in der Seele und im Ohr hat.
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