Essen wird Kulturhauptstadt Europas

Von Margarete Limberg |
Die Juroren hatten zwischen zwei völlig unterschiedlichen, aber gleichermaßen faszinierenden Konzepten zu entscheiden. Jede der beiden deutschen Städte hätte den Titel "Kulturhauptstadt Europas" verdient. Eine schwierige Entscheidung war also zu treffen.
Wer hätte es Görlitz nicht gegönnt, Kulturhauptstadt Europas zu werden – eine der schönsten Städte Deutschlands, mit einem einzigartigen architektonischen Ensemble, eine ostdeutsche Stadt, die in schwierigen Umbruchzeiten mit ihrem Pfunde zu wuchern wusste und die sich mit einem bestechenden Konzept als Brücke nach Osteuropa präsentiert hat. Dass die Stadt an der Grenze zu Polen nur zweiter Sieger geworden ist, hat die Görlitzer verständlicherweise enttäuscht, wird sie aber hoffentlich nicht entmutigen, ihren Weg weiter zu gehen.

So sehr man die Enttäuschung der Görlitzer nachvollziehen kann – die Entscheidung für Essen, das sich stellvertretend für das Ruhrgebiet beworben hat, ist gut begründet, und sie beweist Mut. Essen hat beispielhaft demonstriert, wie eine einst von Kohle und Stahl geprägte Region zur dichtesten Kulturlandschaft Europas wurde. Ausgezeichnet und damit ermutigt wird eine Region mit über fünf Millionen Einwohnern, die nach dramatischem wirtschaftlichen Niedergang einen äußerst schmerzhaften Wandel begonnen hat und noch längst nicht am Ziel angelangt ist.

Sicher, man kann nicht mit Renaissance – oder Barockfassaden, großartigen Kathedralen oder Palästen und lauschigen Altstädten aufwarten. Aber der Begriff Industriedenkmal ist hier salonfähig geworden. Wo einst die Schwerindustrie blühte, ziehen heute Theateraufführungen, Konzerte und Ausstellungen das Publikum in den Bann. Im Ruhrgebiet, wo wirtschaftlicher Umbruch und Arbeitslosigkeit nicht weniger brutal zugeschlagen haben als in großen Teilen Ostdeutschlands, hat sich gezeigt, welche Kraft Kultur im Strukturwandel entfalten kann. Hier hat sich eine kulturelle Vielfalt etabliert, die für ähnlich strukturierte Regionen Europas beispielhaft sein kann.

Zugleich kann das Ruhrgebiet auf lange Erfahrungen mit der Migration zurückblicken, ist seit seinen Anfängen als industrielles Herz Deutschlands von Einwanderung geprägt. Dass Essen dies in seiner Bewerbung als Chance thematisiert hat, hat die Juroren beeindruckt und ist für Deutschland wie für Europa wegweisend.

Was bedeutet der Titel "Kulturhauptstadt Europas" für den Sieger?
Er kann, wie einige Beispiele zeigen, eine große Chance sein, die Wirkung kann aber auch schnell wieder verpuffen. Letztlich hängt es von Essen und dem Ruhrgebiet ab, was sie langfristig aus der wachsenden Aufmerksamkeit auf nationaler und europäischer Ebene, aus zusätzlichen finanziellen Mitteln und dem Bürgerengagement, das die Bewerbung begleitet hat, machen. Es ist noch viel zu tun, wenn das Ruhrgebiet als Modell für neue Entwürfe von Stadtkultur und für die Entwicklung von Ballungsräumen gelten will.