Essen wie zu Omas Zeiten

Von Udo Pollmer · 27.05.2012
Ein neuer Ernährungsratschlag erfreut sich immer größerer Beliebtheit: Man solle nur noch Dinge essen, die auch unsere Großmütter als Nahrung erkannt hätten. Das schütze vor überflüssigen und ungesunden High-Tec-Produkten. Aber woher stammt diese Regel - und was taugt sie wirklich?
"Essen Sie nichts", lautet ein inzwischen geflügeltes Wort aus der Ernährungsberatung, "was nicht auch für Ihre Urgroßmutter als Lebensmittel akzeptabel gewesen wäre." Klingt erst mal vernünftig, vor allem angesichts einer Flut von mehr oder weniger überflüssigen Produkten in den übervollen Supermarktregalen. Popularisiert hat den Ratschlag übrigens ein US-amerikanischer Journalist namens Michael Pollan. Mit seinem Buch "64 Grundregeln Essen" hat er einen beachtlichen Erfolg auf dem Buchmarkt gelandet.

Doch was aß Urgroßmutter wirklich? Obst und Gemüse gab es allenfalls saisonal, erst mit den modernen Anbau-, Lager- und Transporttechniken wurden sie zu Grundnahrungsmitteln, die das ganze Jahr über genossen werden können. Urgroßmutters Kost war vor allem eins: sie war nahrhaft. Für ihre Familie gab es nichts Besseres als einen fetten Schweinebraten. Wer sich den nicht leisten konnte, der servierte die Innereien. Auf den Tisch kamen regelmäßig Kutteln, saure Nierchen, Lungenhaschee und Hirnsuppe. Das Edelste war nicht das Filet, sondern der Speck! Um auch noch den letzten Tropfen Fett zu gewinnen, wurden die Knochen stets ausgekocht. Die ärmeren Schichten mussten sich mit fetttriefendem Kohl begnügen.

Hinter dem Ratschlag mit der imaginären Urgroßmutter steht die Vorstellung, dass es vor 100 Jahren noch keine moderne Lebensmittelindustrie gab. Früher waren die Speisen eben noch echt, die Handwerker ehrlich und die Urgroßmütter genossen ihre Rente und lasen ihren Enkelchen vor. Doch Urgroßmutter war damals meist schon auf dem Friedhof. Da die Menschen häufig an Infektionen, auch und gerade durch Lebensmittel starben, waren die heute so gefürchteten Zivilisationskrankheiten wie Altersdemenz entsprechend seltener. Und nicht wegen der natürlicheren Kost.

Schon vor 100 Jahren haben Erzeuger und Händler in einem geradezu unvorstellbaren Ausmaß manipuliert. Um ein Beispiel zu nennen: Die Milch wurde damals von den Bauern mit Wasser gestreckt und anschließend mit zermatschtem Kälberhirn die Vollmundigkeit und mit Kreide die weiße Farbe nachgebessert. Die Butter war oft ein gelb eingefärbtes Halbfettprodukt aus Wasser, Kartoffelbrei und schmierigen Fettabfällen. Das sauer eingelegte Gemüse hat die Hausfrau noch eigenhändig mit Schwermetallen wie Kupfervitriol farblich aufgefrischt. Sonst hätte sie es meist gar nicht gegessen.

Verbrauchertipps sind heute in aller Munde. "Es ist besser", lautet eine weitere Regel von Erfolgsautor Pollan, "etwas zu essen, das auf einem Bein steht (Pilze und Pflanzen), als etwas zu essen, das auf zwei Beinen steht (Geflügel), und das wiederum ist besser, als etwas zu essen, das auf vier Beinen steht." So einfach geht bewusste Ernährung: Man zählt die Stengel und Stiele als "Beine" und schließt daraus auf den Wert eines Lebensmittels. Was sollen bloß die Völker machen, die regelmäßig sechsbeinige Insekten essen? Ich vermute mal, vor dem Verzehr fünf Beine ausreißen. Scherz beiseite: Pilze sind wenig nahrhaft, und wegen der Verwechslungsgefahr auch noch tückisch – sie sind deutlich riskanter als ein Brathuhn, dem Großmutters Sorge galt. Das heute so populäre Müsli – gewöhnlich von einbeinigen Pflanzen gewonnen - hätte sie umgehend ihren Hühnern verfüttert. Wegen der Eier. Die haben Null Beine. Was machen wir jetzt?

"Essen Sie bunt", empfiehlt Pollan im Einklang mit vielen Ernährungsberatern. Seine Begründung: "Die Vorstellung, dass ein Teller mit gesundem Essen sich durch unterschiedliche Farben auszeichnet, ist ein gutes Beispiel für eine Volksweisheit, die von der Wissenschaft bestätigt wurde." Doch es gibt dies weder als Volksweisheit – lassen wir einmal die Werbung für bunte Schokopillen beiseite – noch als "Wissenschaft". Farbe stammt stets von irgendwelchen Farbstoffen, sie sagt nichts, aber auch gar nichts über den Wert eines Produktes aus. Verbrauchertipps müssen so einfach sein, dass sie jeder versteht.

Nun zum Positiven. Bei 64 Grundregeln ist unvermeidbar auch ein Treffer dabei: "Meiden Sie Nahrungsprodukte, die behaupten, gesund zu sein". Richtig! Und ich möchte hinzufügen: Das gilt auch für die zahllosen diesbezüglichen Ratschläge – einschließlich der 64 Grundregeln. Mahlzeit!

Literatur
Pollan M: 64 Grundregeln Essen: Essen Sie nichts, was ihr Großmutter nicht als Essen erkannt hätte. Arkana, München 2011
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