Essayband

Die Gedankenspaziergängerin

Die Cappella Emiliana auf der Insel San Michele in der Lagune von Venedig - auf der Insel befindet sich der Friedhof von Venedig.
Die Cappella Emiliana auf der Insel San Michele in der Lagune von Venedig: Auf der Insel befindet sich der Friedhof von Venedig, dem die Autorin Valeria Luiselli einen Besuch abstattet. © picture alliance / ZB
Von Katharina Döbler · 07.04.2014
Valeria Luiselli, geboren 1983 in Mexico City, arbeitet als Lektorin und Journalistin – und ist eine leidenschaftliche Leserin. In ihren Essays liegt diese "literarische Topografie" wie eine dünne, transparente Schicht über allen ihren Beobachtungen.
Dass die junge mexikanische Autorin Valeria Luiselli eine sehr leidenschaftliche und vielseitige Leserin ist, wird einem an ihren nachdenklichen kleinen Prosagebilden als erstes deutlich. Die Klassiker der Moderne und der Postmoderne sind für sie selbstverständliches Instrumentarium nicht nur des Schreibens, sondern bereits des Denkens. Nicht das Reden mit Menschen scheint für sie bei der allmählichen Verfertigung von Gedanken ausschlaggebend zu sein (wie Kleist es beschrieben hat), sondern die umfassende Lektüre. Eben dies das macht den Reiz und zugleich die Schwäche des schmalen Bandes aus.
Er beginnt mit der Suche nach dem Grab Josef Brodskys auf San Michele, der Friedhofsinsel von Venedig, das an unerwarteter Stelle liegt und nicht leicht zu finden ist. Die Szenerie des Friedhofs, die bekannten Fakten aus dem Leben des Dichters und das von ihm selbst als einzig gültig erachtetes Zeugnis seiner Existenz, nämlich sein Werk, legt Luiselli wie Folien über einander, ohne dabei einem Element Vorrang vor den anderen zu geben.
Das ist ihr Verfahren, und es funktioniert auch, ob wir Leser uns mit ihr in Barcelona, Paris, New York, Mexiko Stadt oder Venedig (oder überall zugleich) befinden, ob es um das Radfahren geht oder um Brachgrundstücke, um eine Blitzheirat oder Wohnheime. Immer liegt die literarische Topografie als dünne und transparente Schicht über (oder unter) den zugehörigem Theorien, gleichberechtigt mit Eindrücken, Fakten und Autobiografie.
Eine Flaneurin im Sinne Walter Benjamins
Luisellis Gedankenspaziergänge sollte man also keinesfalls mit bloßen Gedankengängen verwechseln: ihre angestrebte Fortbewegungsart ist die des Flaneurs Walter Benjamin. Das ist - auch in der elegant klingenden deutschen Übersetzung von Dagmar Ploetz und Nora Haller - deutlich zu merken. Und es ist eine ziemlich schwere Bürde, an der sich die junge Essayistin gelegentlich ein wenig verhebt.
Beständig zitiert sie die berühmten Vorbilder und Großdichter, als müsste sie ihr eigenes Denken legitimieren. Da stehen dann nicht nur Walter Benjamin und Joseph Brodsky Pate, auch Roland Barthes, Jorge Luis Borges und Roberto Bolaño - und das ist nur der, freilich besonders ergiebige, Buchstabe B in ihrem großen kanonischen Alphabet.
Dabei sind Luisellis eigene Sichtweisen und Materialschichtungen durchaus originell - und lassen ahnen, welche Höhen sie mit ein wenig mehr Mut zum Eigenen in diesem halb erzählerischen, halb essayistischen Genre erreichen könnte. Die besten Momente in diesem Buch ergeben sich dann, wenn die Autorin auf geisteswissenschaftliche Sicherheitszäune pfeift: Dann wird der Text zum Zeugnis einer großen intellektuellen Neugier und wächst, zur großen Freude seiner Leser, über sich hinaus.

Valeria Luiselli: Falsche Papiere
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz und Nora Haller
Antje Kunstmann Verlag, München 2014
128 Seiten, 16,95 Euro