"Es wird eine interessante Begleitgeschichte sein"

Moderation: Gabi Wuttke · 17.04.2007
Der neue Tolkien-Roman wird den "Herr der Ringe" nicht vom Sockel stoßen, glaubt der Leipziger Anglistik-Professor Elmar Schenkel. Der Experte für Fantasy-Literatur sagte im Deutschlandradio Kultur, das Buch "Die Kinder Húrins" sei melancholisch, archaisch und traurig, reiche aber nicht zum Bestseller. Christopher Tolkien hat den unvollendeten Roman seines Vaters, mehr als 30 Jahre nach dessen Tod, überarbeitet und herausgegeben. Der Band erscheint heute gleichzeitig in Deutschland, Großbritannien und den USA.
Wuttke: Elmar Schenkel ist Anglistik-Professor an der Universität Leipzig. Er ist ein Fachmann für phantastische Literatur und ein Tolkien-Kenner. Guten Morgen!

Elmar Schenkel: Guten Morgen.

Wuttke: "Der Herr der Ringe" ist ein Klassiker geworden und die Verfilmung einer der erfolgreichsten Blockbuster aller Zeiten. Warum ist Mittelerde für Millionen von Menschen so reizvoll?

Schenkel: Ja, eine alte Frage fängt natürlich an mit dem großen Erfolg von "Lord of the Rings". Vielleicht der Wunsch der Menschen, sich in eine Welt zurückzuziehen, die für sich existieren kann, die mit unserer nichts zu tun hat. Also "Lord of the Rings", ja entstanden so in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und danach erschienen. Da war vielleicht das Bedürfnis erst mal sehr groß. Dann später in Amerika wiederentdeckt in den 60er Jahren durch die Hippie- und Natur/Alternativ-Bewegung, Ökologie-Bewegung, also auch da wieder der Wunsch nach einer anderen Welt. Es ist immer wieder dieser Wunsch, glaube ich.

Wuttke: Eine andere Welt, was heißt das genau im Fall von Tolkien? Es gibt ja eine Masse von phantastischer Literatur.

Schenkel: Ja, Tolkien ist schon ein Sonderfall. Erstens hat er wirklich zum Durchbruch der phantastischen Literatur geführt. Die gibt es ja vielleicht seit 1850, wenn man es mit George MacDonald, wenn man von da an rechnet, der schottische Autor.

Wuttke: Der hat was geschrieben?

Schenkel: Der hat geschrieben "Phantastes" und "Lillith", das sind die ersten Werke der modernen phantastischen Literatur, und Tolkien war auch davon beeinflusst. Aber Tolkien hat wirklich eine Welt aufgebaut, die auch viele Anschlussstellen enthält. Das heißt, man kann an vielen Punkten der Geschichte in eine Kosmologie hineinkommen, wo also die gesamte Weltschöpfung zitiert wird oder aufgebaut wird. Und das ist schon etwas sehr Eigenständiges.

Wuttke: Aber ein Wörterbuch zu schreiben für die Sprache der Elfen, ist doch ein bisschen bizarr.

Schenkel: Ja, das ist es natürlich. Das kommt ja auch bestimmten Bedürfnissen entgegen. Wir wollen ja auch etwas Bizarres tun in dieser Welt, es muss ja auch Spaß machen.

Wuttke: Nicht jeder, aber offensichtlich viele.

Schenkel: Ja, da gibt es viele. Na ja, es ist Unterhaltung, es ist Erholung und Entspannung sicher für viele. Das ist auch wieder etwas, was mit unserer Zeit zusammenhängt. Die Welt von Tolkien ist auch eben sehr leicht anschließbar zur Computerwelt. Da haben wir ja genau diese Art von Fantasie, nicht die Art von Fantasie, aber diese Mentalität, die auch immer herumbastelt und immer weiter, weiter klickt und zu neuen Ebenen vordringt. So ist es bei Tolkien auch in gewisser Weise.

Wuttke: Das heißt, Tolkien mit dem "Herrn der Ringe", mit der Geschichte von Mittelerde ist ein bisschen was wie second life?

Schenkel: Ja, das fängt vielleicht da an, aber es ist ein second life, das wirklich von der eigenen Fantasie des Lesers dann auch aufgebaut wird, also ein kreativer, ein Mitschöpfungsprozess ist. Was für mich auch bei Tolkien oder was ich bei meinen Studenten feststelle, die schreiben gerne Arbeiten über Tolkien. Und die Themen, die da immer wieder vorkommen, sind eigentlich gar nicht so sehr jetzt second life oder Virtualität und so, sondern Loyalität, Freundschaft, Solidarität, so ganz alte Werte eigentlich, darüber möchten die schreiben - was bedeutet Freundschaft bei Tolkien. Das heißt, wir haben hier auch vermutlich etwas mit einer Ersatzfamilie zu tun, mit einer Ersatzgruppe, die es in Wirklichkeit nicht mehr gibt, die zusammen Abenteuer erlebt, die etwas Gutes tun will, die in Versuchung gerät usw.

Wuttke: Das heißt, vermuten Sie deshalb, dass der Erfolg der Geschichte aus Mittelerde im Verlauf der nächsten Jahre und Jahrzehnte noch zunehmen wird angesichts der Defizite, die es in dieser modernen Gesellschaft gibt?

Schenkel: Ja, das könnte ich mir vorstellen. Was bei Tolkien auch auffällig ist im Vergleich zur anderen Fantasy, ist einfach eine gewisse Wärme. Wenn man ihn mag, fühlt man sich wohl in diesem Kosmos, da ist eine menschliche Wärme, da ist auch das Archaische. Und ich denke, dass man das in der anderen Fantasy nicht so findet.

Wuttke: Aber wer kein Tolkien-Fan ist, dem missfällt dieser mystisch-esoterische Touch, und wenn man sich die Aufteilung zwischen gut und böse anschaut, dann kann man ja doch schon auch ideologische Bauchschmerzen kriegen.

Schenkel: Ja, das sollte man ruhig kriegen. Man sollte darüber reflektieren. Ich glaube, er hat da viel viktorianisches Erbgut mitgeschleppt, wie man Ausländer oder wie man das Fremde darstellt. Das kommt dann oft aus Osten, und die Sprache, das klingt ja fast wie türkisch, diese Orks und so. Das sind alles gewisse Stereotypen aus der Zeit, in der er aufgewachsen ist oder vielleicht noch älter, viktorianisch. Da sollte man sich schon dessen bewusst sein.

Andererseits muss man sagen, dass der Vorwurf, er hat nur schwarz-weiß gemalt, das stimmt natürlich nicht. Also er zeigt gerade an den Hauptfiguren - wie Frodo und auch an Sadoman oder an Gollum -, dass das Wesen sind, die mal irgendwann eine Entscheidung treffen mussten und verführbar waren, verführbar sind und dadurch - also Frodo nicht, aber Gollum zum Beispiel ist dann dem Bösen verfallen. Die Anfälligkeit aller Menschen für das Böse, das wird eigentlich da gezeigt und nicht so sehr Schwarz-Weiß-Malerei.

Wuttke: Nun werden sich die Türken bedanken, dass Sie Ähnlichkeiten zu dem Gemümmel der Orks in der türkischen Sprache finden, aber vielleicht können wir noch mal kurz über Tolkien als Menschen reden. Sie haben ja schon gesagt, das, was auch Ihre Studenten fasziniert, ist sozusagen dieses Väterliche, auch Autoritäre, was da mitschwingt in diesen Geschichten. Man sagt von Tolkien, der Erste Weltkrieg sei Initialzündung für die Geschichte von Mittelerde gewesen. Er war ein sehr gläubiger Mensch, ein Perfektionist.

Schenkel: Ja, er hat das natürlich immer abgestritten, wenn man versucht hat, so Wirklichkeitselemente zu sehen wie Erster oder Zweiter Weltkrieg oder die bösen Deutschen, bei Sauron und aus dem Osten kommend, die Hunnen, die Deutschen. Trotzdem kann er sich natürlich nicht aus der Geschichte herauskatapultieren, und vieles ist auch sehr zeitbezogen, also auch die Sprache, die geht zum Teil ins fin de siecle zurück, da ist etwas Jugendstilhaftes, wie die Elfen gezeichnet sind. Da ist auch diese Untergangsstimmung, die gerade in den Kriegszeiten aufgekommen ist, und das apokalyptische Element ist sehr stark. Also ich denke, das ist schon sehr ans 20. Jahrhundert gebunden auch.

Wuttke: Obwohl "Geschichte der Húrins" nun kein waschechter Tolkien ist - wir haben es ja gehört, sein Sohn Christopher hat das jetzt vollendet, was irgendwo immer schon mal auch in den Geschichten, die bekannt sind, rumgewabert ist. Ist das nun ein neuer Bestseller, so wie die Verlage zumindest ihre Werbemaschine rühren, oder ist das alles wirklich nur heißer Wind?

Schenkel: Ich wünsche ihnen viel Erfolg bei diesem Buch. Ich kann's mir nicht vorstellen, dass es den "Herrn der Ringe" vom Sockel stoßen wird. Es wird eine interessante Begleitgeschichte sein. Es ist melancholisch, archaisch, traurig - ich weiß nicht, ob das zum Bestseller reicht. Wir werden sehen. Aber ich glaub es eigentlich nicht.

Wuttke: Über J.R.R. Tolkien und die heute erscheinende Geschichte der Húrins der Anglist und Fantasy-Fachmann Professor Elmar Schenkel.
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