Es war einmal ein Mann, eine Frau, ein Kind

Der neue Roman des argentinischen Autors Marcelo Figueras hat etwas Märchenhaftes. "Das Lied von Leben und Tod" handelt von einem gutmütigen Riesen, einem Todesengel und einer Frau mit furchtbarem Geheimnis. Das Buch sorgt für ein zwiespältiges Lektüre-Erlebnis. Figueras hat epischen Atem und wagt den ganz großen Wurf, doch verfehlt er die Zielmarke.
Er hat mit fast jedem Stoff Erfolg – Marcelo Figueras, geboren 1962 in Buenos Aires. Vier Romane schrieb er bislang, vor kurzem erschien ein erstes Werk auf Deutsch: "Kamtschatka". Eine skurrile und dramatische Geschichte über die Zeit der argentinischen Militärherrschaft (1976-83), die Geschichte einer Familie auf der Flucht, erzählt aus Sicht eines Kindes.

In seinem jüngsten Roman testet Figueras die "Kamtschatka"-Konstellation noch einmal – Unschuldige auf der Flucht, Häscher in Uniform, ein Versteck auf dem Land, dazu die Mischung aus Tragik und bizarrem Humor. Sogar etwas Märchenhaftes hat das Buch. Es waren einmal ein Mann, eine Frau, ein Kind. Der Mann (Teo, 2,27 Meter groß, "ein wandelnder Kilimandscharo") scheint tumb und gefährlich, doch das täuscht. Teo ist belesen, sensibel, Fan von "Queen" und "Jethro Tull", er hat Philosophie studiert, wurde dann jedoch Sprengmeister.

Anno 1984 (nach dem Ende der Diktatur) geht Teo, Einsamkeit suchend, aus der Hauptstadt in die Ödnis Patagoniens. Er trifft Patricia, Schönheit irischer Abstammung, eine Frau mit einem furchtbaren Geheimnis: Ende der Siebziger war Pat, damals Medizinstudentin, als "Subversive" verhaftet worden. Ein Offizier begehrte sie, ein sadistischer Folterer mit weichen Zügen, blond, begabt und kultiviert. Der "Todesengel" (eine Figur wie von Bolaño erfunden). Er wollte ein Kind von der Beutefrau (weil die Frau Gemahlin keins bekam). Er brachte Blumen und Poesie, dann aber kam er brutal zur Sache. Pat wurde schwanger. Auf nächtlicher Notfahrt zur Entbindung – hier wird es märchenhaft – konnte Patricia entkommen. Gejagtes Wild ist sie seither, mit Tochter Miranda ruhelos unterwegs. Sie weiß: Der Mann hat noch Macht. Wenn er sie findet, bringt er sie um und greift sich das Kind.

Teo, der gute Riese, erkennt in Patricia eine "Dame in Nöten", das "Fahrende-Ritter-Syndrom" packt ihn, rasch sind die verlorenen Seelen ein Paar. Nur: beschützen kann dieser Quijote seine Dulcinea nicht. Jede Nacht schreit sie, sie nimmt Tabletten, zerkaut ihre Nägel, und schließlich verliert sie den "Kampf gegen die Dämonen". – Miranda, das Kind, ist ein Miraculum. Ein altkluges Mädchen, erschreckend begabt in Mathematik und Musiktheorie, außerdem kann sie weissagen, hexen. Ein engelgleiches Kind vom "Todesengel". Wichtig scheint noch die Kulisse, der Zufluchtsort des Trios – Santa Brígida in Patagonien, Heimstatt schrulliger Gestalten.

"Das Lied von Leben und Tod" sorgt für ein zwiespältiges Lektüre-Erlebnis. Marcelo Figueras hat epischen Atem, er wagt den ganz weiten Wurf, doch verfehlt er die Zielmarke. Die Story wirkt eher mager. Der Autor peppt sie auf, mit Lesefrüchten, Gedankenblitzen; so streift er Spaniens Segnungen für Lateinamerika ("Kreuz, Kanonen, Krankheiten") und irische Todesfeen (die Banshees). Es gibt einen allmächtigen Wir-Erzähler, der mit Lesers Erwartungen spielt ("postmodern" nennt man das wohl). Es gibt ein ausufernd gefühliges Finale, mit Pats Tod und Happy End für andere Figuren. Es gibt viel Schönheit im Text, manchmal jedoch auch Kitsch und Klischee.

Hinter dem Text steckt offenbar eine Mission, der Autor versucht sich an subjektiver "Vergangenheitsbewältigung". Weil das implodierte Gewaltregime mit Vernunft allein nicht zu "bewältigen" ist, setzt der Dichter auf Fabelwerk und Zauberei. Weil viele Argentinier die Augen vor dem Gestern verschließen, beschreibt der Verfasser die Erinnerungslast eines Opfers betont detailreich und medizinisch treffend. Und weil so mancher im "Land der Angst" (Figueras) die Täter noch immer entschuldigt ("Irgendwas werden die Inhaftierten schon getan haben"), muss Protagonist Teo, der damals abseits stand, sich heute unschuldig schuldig fühlen. Seine Passivität, glaubt er, bedingte Pats Leiden. Ein faszinierender Ansatz, nur: der Moralist Marcelo Figueras steht dem Erzähler irgendwann im Wege.

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Marcelo Figueras: Das Lied von Leben und Tod. Roman.
Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg.
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2008. 527 Seiten, 21,50 Euro.