"Es war ein Stück Heimat"

Von Ruthard Stäblein |
Ab 4. Januar 2010 wird der Suhrkamp-Verlag nach 60 Jahren in Frankfurt in Berlin residieren. Suhrkamp-Verlagschefin Ulla Unseld-Berkéwicz erhofft sich von dem Umzug wichtige Impulse für die Verlagsarbeit. Viele Mitarbeiter sind ratlos.
Die Eingangshalle ist zugestellt mit Paletten, auf denen sich Leseexemplare der letzten Krimireihe stapeln. Der hereindringende Schneeregen wölbt die kartonierten Deckel. Wo einst die Fotos der Suhrkamp-Stars hinter Glas leuchteten, hängen jetzt Kabel und Steckdosen aus der Wand. Die Stimmung ist grauenhaft, ja "gruselig", wie eine Lektorin auf dem Weg ins verwaiste Büro sagt. Sie will nicht ins Mikro sprechen. Denn sie hat Angst. Von 119 Mitarbeitern bleiben 60 in Frankfurt zurück.

Ich bin mit Wolfgang Schneider verabredet. Er ist Betriebsrat. Und mit Adrienne Schneider. Sie kümmert sich um den Kontakt mit den Autoren, um Lesekampagnen. Beide sind nicht verwandt aber sich einig, wenn es um Suhrkamp geht.

Auf der einen Seite die Solidarität und Ratlosigkeit der Mitarbeiter. Auf der anderen Seite die Entschlossenheit und Einsamkeit der Verlagsführung. Bei ihrem letzten öffentlichen Auftritt in Frankfurt kam Ulla Unseld-Berkewicz mit einem Käppi an, wie es sonst Soldaten tragen, nur aus Wolle. Genauer wie eine Bolschewikin. Denn auf dem Käppi prangte ein roter Sowjetstern. Sie gehört anscheinend der Fraktion der Trotzkisten an. Genauer der Entristen. Ihre Strategie bestand in der Revolution von oben. Man schleicht sich in die Führung ein und übernimmt dann die Leitung. Berkewicz hat Suhrkamp von oben revolutioniert und die Stadt Frankfurt brüskiert. Zum Schluss ließ sie der Frankfurter Goethe-Universität nicht einmal mehr das Archiv des Verlags, obwohl das ihr Gatte Unseld noch feierlich versprochen hatte.

Klaus Reichert war von 1964 bis 68 Lektor bei Suhrkamp. Er rebellierte 68 mit den wichtigsten Lektoren gegen den Patriarchen Unseld. Vergeblich. Heute leitet der emeritierte Frankfurter Anglist die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Er bedauert den Abzug des Archivs.

Ab 4. Januar 2010 wird der Suhrkamp-Verlag nach 60 Jahren in Frankfurt in Berlin residieren.