"Es war doch ein permanenter Ausnahmezustand"

Senek Rosenblum im Gespräch mit Britta Bürger |
Den polnischen Jungen Senek Rosenblum trieb es während der Nazi-Zeit von Versteck zu Versteck - bis auf seinen Vater und einen Onkel hat der damals fünf- bis achtjährige Junge während der Flucht alle Menschen verloren, die er kannte. 70 Jahre später hat er es geschafft, die Erinnerungen an seine Kindheit im Krieg aufzuschreiben.
Britta Bürger: Aus dem Tagebuch der Anne Frank haben wir erfahren, wie eine Jugendliche den Holocaust im Versteck erlebt hat – nicht überlebt, denn Anne Frank starb im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Noch sehr viel jünger als Anne Frank war der polnische Junge Senek Rosenblum, als ihn die Flucht vor den Nationalsozialisten von Versteck zu Versteck trieb. Bis auf seinen Vater und einen Onkel hat der damals fünf- bis achtjährige Junge während der Flucht alle Menschen verloren, die er kannte, auch seine Mutter und Großmutter. 70 Jahre später hat er es geschafft, die Erinnerungen an seine Kindheit im Krieg aufzuschreiben, und ich freue mich sehr, dass Sie heute bei uns sind, Herr Rosenblum, herzlich willkommen!

Senek Rosenblum: Danke auch!

Bürger: Wie sind Sie selbst nach dem Krieg mit den Erinnerungen an die schrecklichen Erlebnisse, die hinter Ihnen lagen, umgegangen? Wann hat das begonnen, dass Sie sich mit dem Erlebten auseinandergesetzt haben?

Rosenblum: Also begonnen hat das bereits Ende der 50er-Jahre, als ich aus der Jugendzeit herauskam und nachdachte, was da passiert ist, ob das so war, und mich einfach das nicht losließ, mich beschäftigte. Und ich habe da wirklich da angesetzt, das eines Tages weiterzugeben in Form einer Niederschrift.

Bürger: Können Sie beschreiben, welche Erlebnisse Sie schnell erinnern konnten und welche verschüttet waren?

Rosenblum: Die schnellen Erlebnisse waren ja die pure Gewalt, die da ausgeübt wurde, die man einfach mitbekommen hat. Denn ich war ein kleines Kind und es waren Brachialszenen, die auf einen zukamen und die einfach ganz anders verinnerlicht wurden, denn ich war doch ein Kind. Man konnte mich in irgendeiner Weise ablenken, das konnte man Erwachsene nicht. Aber es war doch ein permanenter Ausnahmezustand, in dem man war, zumal die Verfassung der Erwachsenen auf einen wirkte. Und so blieb das irgendwie zementiert, zumal ich ein ausgeprägtes Langzeitgedächtnis habe. Und das hat mit beigetragen, dass ich von der Geschichte, die ich erlebt habe, nicht loskam und sie beschloss eines Tages aufzuschreiben. Beziehungsweise, ich habe es ein paar Mal probiert, aber es gab da Umstände, die man so nicht verwirklichen konnte, denn ich musste meinen Vater, der der entscheidende Faktor bei meinem Überleben war, beschreiben. Und dieser ungewöhnliche Mensch war nicht leicht zu beschreiben, denn er hatte seine guten und seine Schattenseiten: Er war wandelbar, er war verletzbar, er war ein Draufgänger, aber das half eben damals zum Überleben.

Bürger: Sie haben während Ihrer Flucht viele Menschen sterben sehen, selbst fast die gesamte Familie verloren. Einzig eben Ihr Vater und ein Onkel waren noch am Leben, auch wenn Ihr Vater monatelang verschwunden war und Sie immer wieder mit nicht eingelösten Versprechungen enttäuscht hat. Was hat Sie denn wirklich am Leben gehalten: War es tatsächlich die Vorstellung, dass Ihr Vater noch lebt und Sie ihn irgendwann wiedertreffen werden, oder gab es auch so was wie einen völlig autonomen Überlebenswillen, den Sie gespürt haben?

Rosenblum: Beides, es gab beides. Es war der unglaubliche Glaube, er wird es überleben ... sicher: eingebunden waren Zweifel, weil wenn der nicht wiedergekommen wäre, dann wäre Schluss, das wusste ich auch mit meinen damals bereits – ich schildere die Szene nach Praga, wo ich von ihm getrennt war, er war auf der deutschen Seite der Weichsel und ich war bereits auf der russischen und befreit –, aber irgendwie war dieser Glaube unerschütterlich, ich konnte mir als Kind nicht vorstellen, dass er nicht mehr existiert. Und damit wäre auch mein Ende eingeläutet. Und dann einhergehend mein eigener Überlebenswille. Ich habe mich mit acht Jahren in den Straßen von Warschau praktisch durchgekämpft, durchgelitten mit Mitteln, die man sich heute gar nicht vorstellen kann, im Winter durch Betteln und auch Klauen. Eine ganz eine andere Art und Weise habe ich entwickelt, um zu überleben, die ich mir so gar nicht mehr, jetzt sowieso nicht vorstellen kann, aber zu der man eben fähig ist, wenn man in die Ecke gedrängt ist und es um Leben und Tod geht.

Bürger: Zu Gast im Deutschlandradio Kultur ist Senek Rosenblum, ein Mann, der sich den Erinnerungen an seine grauenhafte Kindheit im Krieg in einem bewegenden Buch niedergeschrieben hat. Ihr Vater ahnte oder wusste, dass Sie alle umgebracht werden sollten, und er hat eben auch unvorstellbare Kräfte mobilisiert. Er hat Sie ins Warschauer Getto gebracht, aber auch wieder hinausgeschmuggelt, er hat Sie bei Menschen untergebracht, von denen Sie als Kind überhaupt nicht durchschauen konnten, woher Ihr Vater diese Leute kannte. Er selbst ist in unterschiedlichste Identitäten geschlüpft, kam mal als abgerissener Landstreicher zurück, mal als bestgekleideter Herr im Anzug und weißem Schal, so beschreiben Sie ihn ...

Rosenblum: ... ja, richtig.

Bürger: Haben Sie die Geheimnisse Ihres Vaters, die ja an viele seiner Rettungsmanöver geknüpft waren, im Nachhinein aufklären können, konnten Sie mit ihm darüber sprechen?

Rosenblum: Ja, das lag in seinem Wesen. Er war ein sehr wandelbarer Mensch. Er ist in der Provinz, der tiefsten Provinz in Polen groß geworden, er konnte mit Bauern und er konnte es mit der Obrigkeit, er war wandelbar, er konnte schnell in eine andere Rolle schlüpfen. Er sprach sehr gut Polnisch vor allem, und auch mit einem bäuerlichen Dialekt, sodass er in verschiedene Rollen schlüpfen konnte. Und er hatte auch in der polnischen Armee gedient, er hatte es ja sogar zum Unteroffizier gebracht. Er war im heutigen Sinne ein Showman. Er sah sehr gut aus und er wirkte auf Frauen. Und das, diese Masche, sich dem anderen Geschlecht zu nähern, war einfach der Hebel, um zu überleben.

Bürger: In Ihrem Buch "Der Junge im Schrank", da deuten Sie mehrfach an, dass Ihr Vater Ihnen nach dem Krieg viele Antworten schuldig geblieben ist. Auf welche Fragen haben Sie keine Antworten bekommen?

Rosenblum: Fast alle. Er schwieg, als wäre das irgendein Patent, um es wieder herauszuholen und es wieder anwenden zu können, wenn so etwas eintreten sollte, hatte er wieder das Rezept, um wieder so was zu wiederholen beziehungsweise zu überleben. Alle Anfragen, die ich hatte, hat er nur in irgendeiner Weise verschleppt oder Halbwahrheiten oder so, bis ich selber mich entschlossen habe, nach Polen zu reisen in den 70er-Jahren. Und vor allem habe ich nach Ableben meines Vaters mich wirklich durchgerungen, alles zu schreiben, was vorgefallen war. Und ...

Bürger: ... warum nach dem Ableben Ihres Vaters?

Rosenblum: Ja, die Sache ist so: Es war auch seine Art mit den Menschen umzugehen. Zum Beispiel, eine seiner Maschen war, er wandte sich an die Kirche und tischte diesen Leuten die Geschichte auf, er wär ein geflohener polnischer Offizier aus der deutschen Gefangenschaft. Er trat entsprechend auf, war nach Möglichkeit gut gekleidet. Zu seinen Gepflogenheiten gehörte mehr Schein als Sein, und ich habe auch meinen Vater als, indirekt als eine Art Lebensangeber beschrieben. Und ihn in dieser Form als Angeber, als Frauenheld zu beschreiben, die in Wirklichkeit seine Rolle war, um zu überleben – das hätte er mir nie verziehen!

Bürger: Wie auch andere Überlebende beschreiben Sie in Ihrem Buch das Gefühl der Schuld, selbst überlebt zu haben, während Hunderttausende andere Kinder und Jugendliche zum Beispiel nicht aus dem Warschauer Getto herausgekommen sind. Können Sie dieses Schuldgefühl näher beschreiben, warum ist es stärker als die Freude, überlebt zu haben?

Rosenblum: Ja, das ist ungewöhnlich schwierig. Das ist verankert in meinem Inneren, ich ... denn es waren ja so viele talentierte Kinder. Ich war nach der Befreiung kein guter Schüler und es war sehr schwierig im Nachhinein, ich hatte Probleme mir eine Bildung anzueignen, wo es den anderen leichtfiel, sie waren im Vergleich zu mir fast geniale Typen. Und sie waren einfach nicht mehr da.

Bürger: Hat Sie das Aufschreiben Ihrer Kindheitserinnerungen in irgendeiner Weise befreit oder hat es die Wunden noch weiter aufgerissen?

Rosenblum: Teilweise ja, aber im Großen und Ganzen überwiegt die Befreiung, auf jeden Fall, das musste so sein und es ist gut so, ja. Es ist ... einfach in sich das schlummern lassen, das war nicht gut.

Bürger: Sie beenden Ihr Buch mit der Andeutung, dass Sie 1955 in die USA gegangen sind, um zwei Jahre später als G.I. nach München zurückzukehren, wo Sie noch heute leben ...

Rosenblum: ... ja, ja ...

Bürger: ... aber das sei eine andere Geschichte, die Sie vielleicht auch uns, Herr Rosenblum, ein anderes Mal erzählen ...

Rosenblum: ... ja gerne, wenn Sie es hören wollen! Any time, wie der Ami sagt!

Bürger: Für heute danke ich sehr herzlich für Ihren Besuch!

Rosenblum: Danke herzlich, vielen Dank!

Bürger: Und das Buch von Senek Rosenblum heißt "Der Junge im Schrank. Eine Kindheit im Krieg", erschienen ist es bei Bertelsmann.



Senek Rosenblum: Der Junge im Schrank. Eine Kindheit im Krieg
btb Verlag, 2010
432 Seiten, 10,99 Euro