"Es überrascht die Einfallslosigkeit"

Tilmann Spengler im Gespräch mit Ulrike Timm |
Dass sich die Chinesen kurz vor Olympia sehr angespannt zeigen und jede Kritik als Kränkung ihres Nationalstolzes empfinden, ist aus der Geschichte heraus zu verstehen, sagt Tilmann Spengler. Jahrhunderte lang fühlten die Chinesen sich vom Ausland bevormundet, meint der Sinologe. Allerdings überrascht ihn der derzeitige autoritäre Ton in Peking. Die chinesische Gesichte zeige zahlreiche Beispiele, wie man mit List und Höflichkeit einer Sache begegnen könne.
Ulrike Timm: Verstehen Chinesen unter einem freien Internetzugang etwas anderes als Europäer? Sehen für einen Chinesen eigentlich auch alle Europäer ähnlich aus, so wie für uns irgendwie alle Chinesen einander zu ähneln scheinen? Wie sehen die Chinesen eigentlich uns? Das wollen wir fragen, nachdem in diesen Tagen so viel darüber gesprochen wird, wie wir die Chinesen sehen. Ein paar Antworten kann uns Tilmann Spengler geben. Er ist Sinologe und Schriftsteller, reist auch immer wieder nach China. Schönen guten Tag, Herr Spengler!

Tilmann Spengler: Hallo, Frau Timm!

Timm: Herr Spengler, welche Klischees haben Chinesen eigentlich über Europäer im Kopf?

Spengler: So ziemlich dieselben wie umgekehrt. Das ist eine ganz merkwürdige Entsprechung. Also heutzutage hat sich das wieder ein bisschen geändert, aber wenn Sie in die Zeit schon vor 1890 etwa bis 1920 hineinschauen, dann stellen Sie merkwürdigerweise unendlich viele Passagen fest, in denen sich Chinesen darüber äußern, dass diese Europäer alle gleich aussehen oder aber fürchterlich gerne Handel treiben oder aber hintertrieben sind, dass man ihnen nicht trauen kann, dass sie kein Verhältnis zur Wahrheit entwickelt haben. Das heißt, Sie finden so alles Mögliche, was wir den Chinesen hineinprojizieren, finden Sie auch umgekehrt.

Timm: Gehen wir wieder ins Heute, Tilmann Spengler. Denken die Chinesen, die jungen Chinesen, wenn sie heute an Deutschland denken, an Goethe, Schiller und Beethoven oder eher an Mercedes, Porsche und Transrapid?

Spengler: Wohl eher Letzteres und sicherlich eher an Beckenbauer. Es denken jetzt einige an Bismarck, das hängt damit zusammen, dass die deutsche Sozialversicherung, so wie Bismarck sie geschaffen hat, in den letzten Monaten und fast in den letzten zwei Jahren zu einem diskussionswürdigen Modell geworden ist.

Timm: Bismarck? Das müssen Sie uns erklären, wieso die deutsche Sozialversicherung nach China kommen soll.

Spengler: Die Chinesen haben ja kaum so etwas wie Sozialversicherungen, und man macht sich Gedanken, wie man nun das Volk absichern kann, nachdem es den Sozialismus nicht mehr gibt. Und da schaut man bei verschiedenen westlichen Staaten nach, wie sie das geregelt haben. Und es schien irgendwo, dass das, was Bismarck 1880 eingeführt hat in Deutschland, schien irgendwie vorbildlich oder einen gewissen Vorbildcharakter zu tragen.

Timm: Sie kennen China ganz gut, soweit man ein Land, in dem fast dreimal so viel Menschen leben wie in ganz Europa überhaupt, kennen kann. Erleben Sie, Tilmann Spengler, eigentlich noch jedes Mal etwas, worüber Sie sich wundern?

Spengler: Na ja, ich erlebe immer wieder ein neues China, das ist ja das Wundersame an diesem Land, was manchmal vergnüglich und manchmal ein wenig schwierig ist. Das heißt, das China, das ich gekannt habe, als ich dort studiert habe oder als ich dort Professor war, oder das China, was ich bereist habe mal vor 20 oder vor zehn Jahren, da gibt es in der Form gar nicht mehr. Es gibt die Leute nur noch in einer anderen Form. Und das ist etwas Kaleidoskophaftes, wo immer wieder neue Bilder auftauchen und andere Bilder verschwinden.

Timm: Das klingt, als reisten Sie alle paar Jahre in ein anderes Land. Machen Sie es doch mal konkret an einem Beispiel fest.

Spengler: Als ich an der Akademie der Wissenschaften in Peking unterrichtet habe, wohnte ich in einem Hotel, und von dem Hotel aus bin ich mit dem Fahrrad zur Akademie gefahren oder zum Platz des Himmlischen Friedens gefahren. Das waren alles überschaubare Verhältnisse. Oder ich bin in einem wunderbaren Park gefahren, in den kein Chinese gegangen ist, weil dort alles zerstört worden ist, und zwar 1860. Das waren alles Möglichkeiten, und das war ein überschaubares Leben.

Ich würde heute erstens mich nicht mehr trauen, mit dem Fahrrad in Peking unterwegs zu sein, was nicht mit meinem fortgeschrittenen Alter zu tun hat, sondern eben damit, dass die Modernisierung eben auch den Verkehr erfasst hat. Zum Zweiten gibt es diese ganzen Straßenwege nicht mehr, es ist alles verstellt, es sind andere Gebäude da. Die Stadt hat ein ganz anderes Gesicht genommen, die Stadt hat sozusagen mehrere Doppelkinns bekommen.

Timm: Herr Spengler, gerade in diesen Tagen vor Olympia scheint in China jede Art von Kritik als Kränkung anzukommen, wird als Herabsetzung der ganzen Nation empfunden, nicht nur bei den staatlichen Stellen, sondern auch bei den Chinesen auf der Straße. Wie erklären Sie sich das, warum fühlt man sich in China immer gleich grundsätzlich angegriffen?

Spengler: Nun gut, es fühlen sich nicht alle grundsätzlich angegriffen, aber Sie haben schon sehr recht, es ist ein großer Teil der Bevölkerung. Diejenigen, die das Projekt Olympia unterstützen, sind sehr, sehr heikel, sehr, sehr sensibel, weil sie denken, wir sind so lange Jahre, so viele Jahrzehnte, anderthalb Jahrhunderte vom Ausland bevormundet worden. Man hat uns gesagt, wie wir zu sein haben, wie wir uns zu verhalten haben. Jetzt geht das schon wieder weiter, nur eben unter einem anderen Vorzeichen. Jetzt geht es eben weiter unter dem Programm der Einhaltung der Menschenrechte.

Timm: Trotzdem habe ich gerade in den letzten Tagen immer wieder gedacht, Gelassenheit ist eine konfuzianische Tugend, irgendwie ist es mit den konfuzianischen Tugenden in China nicht mehr weit her?

Spengler: Na ja, der Konfuzianer ist natürlich auch immer einer, der die Pritsche in der Hand hat und draufschlägt, wenn der Schüler sich danebenbenimmt. Das gehört schon zum konfuzianischen Traditionsgebaren dazu. Aber Sie haben ganz, ganz recht, es gibt in der chinesischen Tradition, in der chinesischen Kultur so viele, viele verschiedene Möglichkeiten, mit List einer Sache zu begegnen, einer Sache auszuweichen, eine Sache zu überspielen, eine Sache mit Höflichkeit zuzutorfen, dass dieser etwas strenge, schrecklich autoritäre Ton, den die meisten aus der Pekinger Führung im Augenblick glauben zeigen zu müssen, dass der schon ein bisschen überrascht. Es überrascht die Einfallslosigkeit.

Timm: Fällt das für Sie unter die Kategorie List, wenn ein freier Internetzugang dann doch nur ein halbfreier Internetzugang ist? Eigentlich ist das ja ein Kapitel, wo man sich nicht missverstehen kann. Zumindest weiß ich nicht, was man da wirklich missverstehen könnte.

Spengler: Na ja, das hängt davon ab, was vorher ausgemacht worden ist. China ist kein Rechtsstaat in unserem Sinne, ganz gewiss nicht, aber sie haben schon Umgang mit Verträgen. Und wenn das IOC vorher das nicht in einen Vertrag hineingesteckt hat, dann soll das IOC hinterher kein dummes Gesicht machen, wenn das hinterher nicht eingelöst wird. Damit verteidige ich um Gottes Willen nicht, dass man Zugänge zum Internet sperrt oder irgend so was Ähnliches. Ich denke nur, da waren beide Seiten ein bisschen naiv.

Timm: Ist die Führung in China überhaupt empfänglich für Druck?

Spengler: Sie ist sicherlich nicht empfänglich in dieser Weise, dass wenn Sie laut aufschreien und sagen, hört bloß auf damit, dass sie dann das in der Tat sofort machen. Es gibt verschiedene Formen, so etwas vorzutragen, und wir sind nicht immer ganz glücklich in der Form, die wir wählen. Nun ist es andererseits auch so, China ist ein riesig großes Land, es ist jetzt eine kleine Binse, und die Regierung ist auch relativ mit verschiedenen starken Fraktionen ausgerüstet. Da gibt es die Hardliner, die Mittelliner und die Softliner und die Mikrosoftliner.

Und bei solchen Anlässen wir Olympischen Spielen melden sich natürlich immer wieder verschiedene Fraktionen, da kommen auch mal immer wieder Leute zu Wort, nicht nur zu Wort, sondern setzen sich auch Leute durch mit ihren Maßnahmen, die halt sagen, den wollen wir es jetzt mal zeigen, oder im Namen der Sicherheit wird jetzt alles andere ausgeschaltet. Das kann man sich so etwa vorstellen wie in anderen Ländern auch.

Timm: Würden Sie als jemand, der China ja auch liebt, immer unterscheiden wollen zwischen der staatlichen und der chinesischen Zivilgesellschaft?

Spengler: Sonst könnte ich nicht mal in Deutschland glücklich sein.

Timm: Wie äußert sich denn das in China konkret in dem, was Sie dort erleben?

Spengler: Es ist natürlich selbstverständlich so, dass man verschiedene Erfahrungen macht mit den verschiedenen Gesellschaftskreisen, mit denen man in Kontakt kommt. Und es ist sicherlich sehr viel angenehmer, sich mit Chinesen zu treffen, wenn der Dienst vorbei ist, als wenn sie gerade im Dienst sind, weil sie in anderen Verpflichtungen, in anderen Verantwortungen, in anderen Sinnzusammenhängen und Seins-Zusammenhängen stecken, als wenn man mit ihnen um den Tisch herum sitzt und fröhlich tafelt. Das meinte ich damit, dass man halt sagt, gut, die staatliche Seite ist meistens eher die Nachtseite.

Timm: Ist das eigentlich auch in China geschichtlich begründet, konfuzianisch und nicht nur, ich sage mal parteimäßig sozialistisch bedingt, dass immer alles geordnet sein muss, bestimmt bis ins Letzte geregelt, also von der Gartenkunst bis hin zum Fahrkartenverkauf und nicht nur die Spiele?

Spengler: Ja, das ist schon ein Grundzug, denn Sie müssen sich das vorstellen, das sind sehr, sehr viele Menschen und es ist ein relativ großes Territorium und es gibt sehr viel Natur da. Und Natur ist der Natur nach wild. Das heißt, es muss sehr viel reguliert werden.

Große Arbeiten früher, große, autoritär angeordnete Arbeiten waren immer wieder die Wasserregulierungen zum Beispiel. Der Kampf gegen Naturkatastrophen, das Bewältigen von all diesen Kalamitäten, die die Natur oder irgendein anderes Schicksal dem Volk auferlegte, das hatte immer schon eben diesen Hang zum Autoritären.

Und der Begriff der Freiheit zum Beispiel, das ist eben anders als bei uns, der Begriff der Freiheit hat im Chinesischen immer etwas von Wildheit, also von Natur. Auch die Natur ist etwas Wildes. Und das will gezähmt werden. Und deswegen ist Freiheit sozusagen nicht das positiv besetzte Wort, wie es bei uns ist, sondern es ist immer eins, was ein bisschen auch mit Chaos zusammenhängt oder mit Nachlässigkeit oder Schlamperei. Das heißt, da sind sozusagen andere Wertplattformen besetzt.

Und dann dürfen Sie jetzt nicht vergessen, in der chinesischen Geschichte, die noch nicht ganz lange zurück liegt, sagen wir vor 20, 30 Jahren, als in China Kulturrevolution war, da hatten sie natürlich sozusagen die Herrschaft der Unordnung, und da ging es den Leuten nun in der Tat eher dreckig. Und auch von daher gab es wiederum eine Sehnsucht, wieder den Ordnungsfaktor nach vorne zu bringen und wieder für ruhige, stabile Verhältnisse zu sorgen. Und das ist, glaube ich, die zentrale Aussage, man möchte ruhige, stabile Verhältnisse haben.

Timm: China kümmert sich im Moment aber nicht so sehr um seine lange Geschichte, China prescht nach vorn. Wie verändert sich denn aus Ihrer Sicht das Verhältnis zu Europa durch die Entwicklung Chinas zum Global Player? Haben wir überhaupt schon kapiert, was da auf uns zukommt?

Spengler: Gut, wir befördern das ja selber. Ich meine, es gibt ja keine Region, die so intensiven Wirtschaftskontakt mit den Chinesen hat wie eben Europa, insbesondere wie Deutschland. Das heißt, man hat schon eine relativ genaue Ahnung von dem, was da passiert, was man davon zu erwarten hat und wie das günstig und wie es ungünstig ausgehen wird. Ich halte persönlich nicht sehr viel von diesen ganzen Schreckensszenarien, die im Augenblick ja auch Konjunktur haben.

Ich glaube, die Probleme, die die chinesische Wirtschaft und die chinesische Gesellschaft einschließlich halt auch die chinesische Umwelt, diese Probleme, die da entstanden sind, die geben dem Land so viel auf und geben ihm so viel zu knacken, dass da für Besorgnis außerhalb relativ wenig Platz bleibt.

Timm: Und was sagen Sie Ihren chinesischen Freunden, wenn sie uns Europäer mal wieder gar nicht verstehen?

Spengler: Ich versuche es mit Güte, Vernunft und Humor.

Timm: Über konfuzianische Tugenden gestern und heute, der Schriftsteller und Sinologe Tilmann Spengler. Vielen Dank fürs Gespräch.

Spengler: Danke Ihnen.