"Es spricht nichts gegen eine frühe Einschulung"
Moderation: Matthias Hanselmann · 21.08.2006
Die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern hat sich für ein früheres Einschulungsalter ausgesprochen. Im Deutschlandradio Kultur sagte sie, Kinder brächten schon mit vier Jahren die Voraussetzungen für schulische Lernsituationen mit. Allerdings müsse der Unterricht entsprechend altersgerecht gestaltet sein. So könnten Kinder behutsam an die Schule herangeführt werden.
Hanselmann: Und wir fragen in unserem "Thema": Frühreif oder Spätzünder, wann sollen Kinder eingeschult werden? In einigen Bundesländern ist ja heute, wie wir früher gesagt haben, Schluss mit lustig, denn die Schule hat wieder angefangen. Besonders spannend der Schulbeginn wie immer für die Kinder, die zum ersten Mal zur Schule müssen. Und das sind immer jüngere Kinder. Beispiel Berlin: Hier werden in diesem Sommer standardmäßig schon Fünfjährige eingeschult, und zwar alle, die bis zum 31. Dezember fünf Jahre alt sind. Ob das aber sinnvoll ist, darüber spreche ich jetzt mit Professor Dr. Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Guten Tag, Frau Stern.
Stern: Guten Tag.
Hanselmann: Sie sind Kognitionspsychologin und haben unter anderem Kinder verschiedener Altersstufen auf ihre mathematischen Kenntnisse untersucht. Lassen Sie uns erst einmal über das reden, was Schulreife überhaupt ist oder sein könnte. Also es gibt ja auf der einen Seite Fünfjährige, die unbedingt in die Schule müssen, die darauf brennen und für die es auch richtig ist. Und es gibt dann Sechsjährige, bei denen man sagt: Mensch, lassen wir die doch noch ein Jahr länger ihre Kindheit genießen und langsam sozusagen in die Schule hinüber gleiten oder -wachsen. Ich habe beide Fälle übrigens zu Hause, also ich weiß, wovon ich spreche. Ab wann kann man sagen, Frau Stern, dass ein Kind schulreif ist?
Stern: Ja da müssten wir, glaube ich, mal festlegen, was Schule ist. Aber im Prinzip heißt ja Schule diese typische Lehr-Lern-Situation: Der Lehrer weiß mehr als ich selbst und wenn ich dem Lehrer gut zuhöre, wenn ich mache, was der Lehrer mir vorschlägt, dann kann ich viel dazulernen. Das muss ein Kind verstehen, damit es eben von der Schule profitieren kann oder von einer schulischen Lernsituation. Und diese Voraussetzungen bringen Kinder mit vier Jahren eigentlich mit. Dann verstehen sie, dass in den Köpfen anderer anderes vor sich geht als in den eigenen Köpfen. Und dass sie dann eben auch etwas lernen können von den anderen. Also im Prinzip spricht nichts dagegen, Kinder mit vier Jahren einzuschulen, weil sie dann verstehen, was Schule ist.
Aber natürlich ist völlig klar: Schule muss für diese Vierjährigen anders aussehen, als sie typischerweise für Zehn- oder für Fünfzehnjährige aussieht. Und in vielen erfolgreichen Ländern werden die Kinder, entweder weil es Pflicht ist oder weil es von allen akzeptiert wird, mit vier Jahren sozusagen eingeschult. Aber natürlich gleicht die Schule hier mehr einem Kindergarten, wo die Kinder meistens eher spielen und wo diese typischen Instruktionssituationen nur die Ausnahme sind, aber wo sich Kinder eben nach und nach an diese schulische Lernsituation gewöhnen können. Und hier denke ich, das ist für alle Kinder gut. Wir sollten hier keinen Unterschied machen, wann die Kinder in diese Institutionen gehen müssen, sondern sollten wirklich ein Alter festlegen.
Aber was dann eben in dieser Schule passiert, das hängt natürlich sehr stark von den individuellen Voraussetzungen der Kinder ab. Manche Kinder können schon mit fünf Jahren lesen, haben sich's selbst beigebracht. Andere können schon schriftlich addieren, während es wiederum Kinder gibt, die mit Buchstaben gar nichts am Hut haben oder noch nicht mal zählen können. Aber auch diese Kinder haben Anspruch auf Förderung.
Deshalb sollten wir von Anfang an sagen: Alle Kinder müssen in einer Wissensgesellschaft sehr früh an diese typischen Lernsituationen gewöhnt werden. Aber sie sollen dann natürlich nicht Frustrationserlebnisse haben, sie sollen auch nicht gelangweilt sein, dann sollten wir eine eher inoffizielle Differenzierung stattfinden lassen.
Hanselmann: Sie haben es eben ja selber gesagt, in diesen Ländern wird spielerisch umgegangen mit den verschiedenen Themen. Zum Beispiel in Frankreich heißt das "Ecole maternelle". Dieses Wort "Schule", wenn es so früh schon "Schule" heißt, vielleicht nimmt es ja auch den Schrecken generell von "Schule" etwas weg, wenn es hin…
Stern: Das ist genau, das soll genau passieren.
Hanselmann: … hingeht und sagt: Au, da darf ich ja sein, wie ich bin, da darf ich spielen, da darf ich mich noch ausprobieren. Da gibt es ja diesen berühmten Test mit dem Arm über den Kopf greifen und dann das Ohrläppchen von gegenüber greifen zu können. Die gängigste Testmethode, aber wahrscheinlich auch die blödsinnigste, oder?
Stern: Da könnte man auch die Länge des obersten Fingergliedes nehmen oder was auch immer. Also wäre wahrscheinlich genauso ein guter oder schlechter Prädiktor.
Hanselmann: Wie wird denn heutzutage nach Methoden der modernen Wissenschaft eine - ich sage mal ganz vorsichtig -, ein Entwicklungsstand - ich sage mal bewusst nicht "Schulreife" -, sondern ein bestimmter Entwicklungsstand getestet?
Stern: Ja, man könnte einfach Wissenstests machen, man könnte Kinder zählen lassen, man könnte Kinder sprechen lassen, weil man natürlich davon ausgeht, dass sie in ihren inoffiziellen Lerngelegenheiten mit den Eltern, mit der Familie oder mit Freunden auch etwas lernen, und könnte einfach schauen: Was haben sie mitgebracht? Man kann einen Intelligenztest durchführen. Aber die Frage ist: Was mache ich aus dem Ergebnis? Was mache ich daraus, wenn das Kind schlecht abgeschnitten hat? Da hatten wir die wirklich verrückte Idee, dass wir sagen, wer schlecht abschneidet, darf noch nicht in die Schule. Die Logik müsste ja eigentlich umgekehrt sein: Wer schlecht abschneidet, der muss eine Chance bekommen, seinen Entwicklung…, ja, den Nachteil zu kompensieren. Während Kinder, die sich sowieso schon selbst das Lesen beigebracht haben, da könnte man ja mit der gleichen Logik sagen, denen gibt man ein paar Bücher und die können sich auch selbst beschäftigen.
Also von daher ist es durchaus sinnvoll, sich immer wieder mal die Entwicklung von Kindern auch mit Tests anzuschauen. Aber man darf jetzt nicht das als die letzte Wahrheit sehen und man muss vor allen Dingen überlegen, welche Schlussfolgerungen man daraus zieht.
Es kann zum Beispiel sinnvoll sein, jetzt bei den Sechsjährigen mal einen kleinen Zahlenverständnistest durchzuführen und dann zu sagen, wer diese Voraussetzungen schon mitbringt, der kann jetzt vielleicht schon mal ein bisschen systematische Mathematik lernen. Wer sie noch nicht mitbringt, mit dem machen wir noch spielerische Zahlenübungen. Aber das kann alles sehr inoffiziell in der Schule laufen. Das heißt der Test ist durchaus sinnvoll, aber das müssen weder die Eltern noch die Kinder groß selbst erfahren, sondern das dient der Information der Pädagogen und der Planung.
Also unter diesen Voraussetzungen ist es durchaus sinnvoll, Kinder zu testen, aber ihnen dann einen Stempel aufzudrücken - du bist um drei Monate verzögert -, das halte ich für nicht sinnvoll. Es bringt nichts an neuen Erkenntnissen und es führt dazu, dass Eltern und Kinder schon sehr schnell ein sehr gespanntes Verhältnis zur Schule bekommen.
Hanselmann: Denn wer auf dem einen Gebiet vielleicht drei Monate hinterher ist, ist auf einen anderen Gebiet schon meilenweit voraus.
Stern: Und es kann auch sehr schnell, also es gibt bei den Kindern noch so Unregelmäßigkeiten in der Entwicklung, dass sie… in drei Monaten kann sich die Welt verändert haben.
Hanselmann: Können Sie das vielleicht kurz beschreiben? Sie haben ja daran geforscht und ich habe es in der Anmoderation gesagt, Sie haben also über mathematische Kenntnisse versucht herauszubekommen: Wie groß sind die Entwicklungsunterschiede? Geben Sie vielleicht ein Beispiel?
Stern: Ja also es gibt Kinder, die wirklich noch nicht bis fünf zählen können, und es gibt Kinder, die wirklich sehr komplexe Textaufgaben schon lösen können und die also schon, ja, im Zahlenbereich bis 100 rechnen, obwohl das eigentlich ja erst Gegenstand der Grundschule ist. Aber dann, wenn man vielleicht manche Kinder, die spontan nicht mit dem Rechnen anfangen, wenn man denen ein bisschen Anstoß gibt, kann sich auch in wenigen Wochen etwas ändern. Also wir müssen einfach uns lösen von der Tatsache - also wir werden nie, da würde ich wirklich nach all meinen Ergebnissen, die ich habe, bin ich sehr sicher, wir werden nie den sicheren Test haben, der im Kindesalter schon vorhersagt, wie die spätere Entwicklung ist. Diesen Test kann es nicht geben, weil es noch so viele verschiedene Einflussgrößen gibt, die die Entwicklung der Kinder beeinflussen, dass wir hier nur die Kinder unnötig stigmatisieren würden.
Wir sollten Tests nur einsetzen für kurzfristige Entscheidungen, nicht für langfristige. Zum Beispiel, ob man sagt: Dieses Kind kann jetzt schon mal mit den Kindern, die zwei Jahre älter sind, lesen lernen. Oder: Dieses Kind sollte lieber noch ein bisschen Sing- und Sprechübungen machen, weil es noch kein Metaverständnis der Sprache hat, auch wenn es schon sechseinhalb ist. Aber das ist halt die Voraussetzung dafür, Lesen und Schreiben zu lernen.
Hanselmann: Woher kommt eigentlich diese Ungleichzeitigkeit? Also liegt das auf Elternseite? Ist das irgendwie genetisch bestimmt? Oder woran liegt das?
Stern: Also hier sind, glaube ich, die Antwort ist klar, dass es sehr viele unterschiedliche Einflussfaktoren gibt. Und wir sind nicht gut beraten, uns zu sehr auf eine einzige zu stürzen. Wir sollten auch nicht den Einfluss der Frühförderung und der Eltern überschätzen, weil das eben auch wieder zu unrealistischen Erwartungen kommt - und auch zu vielen Enttäuschungen. Zwillingsstudien zeigen ganz klar, wie stark doch die genetischen Einflüsse auf die geistige Entwicklung sind, insbesondere bei Kindern, die alle Chancen hatten. Also wer von früh an gefördert wurde, der ist natürlich sozusagen, der hat die Chance gehabt, mehr aus seinen Genen zu machen, und wenn es dann nicht so gut weitergeht, dann können wir das eher auf die Gene zurückführen als bei einem Kind, dem wenig Chancen gegeben wurden. Da können in den Genen doch ganz andere Potenziale schlummern, die wir vielleicht noch wecken könnten.
Hanselmann: Also Sie plädieren einerseits eindeutig für eine frühere Einschulung, für das, was man jetzt vielleicht "Kindergarten" nennt, "Schule" zu nennen, und dort die Kinder spielerisch an das eigentliche Schulleben …
Stern: Ja, ja, spielerisch wirklich …
Hanselmann: … heranzuführen.
Stern: … gerade beim Lesen und Rechtschreiben, da ist es sehr gut erforscht, noch besser als in der Mathematik, dass die Voraussetzung dafür, dass man eben Wörter und Buchstaben schreiben kann, ist, dass man so ein akustisches Metaverständnis von Sprache hat, dass man weiß - nicht jetzt im definitorischen Sinne, sondern eher bei der Handlung -, was eine Silbe ist, wie ein Wort aufgebaut ist, welche Wörter mit dem gleichen Buchstaben, mit den gleichen Lauten anfangen, dann - das nennt man auch "phonologische Bewusstheit" und die trainiert man, indem man mit den Kindern singt, Abzählreime macht und diese Dinge.
Hanselmann: Frau Stern, aber Sie hören natürlich auch die Schulsenatoren und Kultusminister aller Länder jetzt schreien: Wer soll das bezahlen, das kriegen wir doch niemals hin?
Stern: Ja, soll ich dazu noch was sagen?
Hanselmann: Gern.
Stern: Ja.
Hanselmann: Kurz bitte.
Stern: Ja, das Problem ist, dass wir zu bürokratisch bleiben. Wir müssen endlich das Konzept der Hilfslehrer einführen. Wir müssen nicht viele neue, nach A13 bezahlte Lehrer einstellen, sondern einfach hier flexibler werden. Wir können mit dem Geld, was wir zur Verfügung haben, sehr viel mehr machen, als wir tun.
Stern: Ihr Wort in die Ohren zahlreicher verantwortlicher Politiker! Bedanke mich ganz herzlich bei Professor Dr. Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Kognitionspsychologin. Danke schön!
Stern: Guten Tag.
Hanselmann: Sie sind Kognitionspsychologin und haben unter anderem Kinder verschiedener Altersstufen auf ihre mathematischen Kenntnisse untersucht. Lassen Sie uns erst einmal über das reden, was Schulreife überhaupt ist oder sein könnte. Also es gibt ja auf der einen Seite Fünfjährige, die unbedingt in die Schule müssen, die darauf brennen und für die es auch richtig ist. Und es gibt dann Sechsjährige, bei denen man sagt: Mensch, lassen wir die doch noch ein Jahr länger ihre Kindheit genießen und langsam sozusagen in die Schule hinüber gleiten oder -wachsen. Ich habe beide Fälle übrigens zu Hause, also ich weiß, wovon ich spreche. Ab wann kann man sagen, Frau Stern, dass ein Kind schulreif ist?
Stern: Ja da müssten wir, glaube ich, mal festlegen, was Schule ist. Aber im Prinzip heißt ja Schule diese typische Lehr-Lern-Situation: Der Lehrer weiß mehr als ich selbst und wenn ich dem Lehrer gut zuhöre, wenn ich mache, was der Lehrer mir vorschlägt, dann kann ich viel dazulernen. Das muss ein Kind verstehen, damit es eben von der Schule profitieren kann oder von einer schulischen Lernsituation. Und diese Voraussetzungen bringen Kinder mit vier Jahren eigentlich mit. Dann verstehen sie, dass in den Köpfen anderer anderes vor sich geht als in den eigenen Köpfen. Und dass sie dann eben auch etwas lernen können von den anderen. Also im Prinzip spricht nichts dagegen, Kinder mit vier Jahren einzuschulen, weil sie dann verstehen, was Schule ist.
Aber natürlich ist völlig klar: Schule muss für diese Vierjährigen anders aussehen, als sie typischerweise für Zehn- oder für Fünfzehnjährige aussieht. Und in vielen erfolgreichen Ländern werden die Kinder, entweder weil es Pflicht ist oder weil es von allen akzeptiert wird, mit vier Jahren sozusagen eingeschult. Aber natürlich gleicht die Schule hier mehr einem Kindergarten, wo die Kinder meistens eher spielen und wo diese typischen Instruktionssituationen nur die Ausnahme sind, aber wo sich Kinder eben nach und nach an diese schulische Lernsituation gewöhnen können. Und hier denke ich, das ist für alle Kinder gut. Wir sollten hier keinen Unterschied machen, wann die Kinder in diese Institutionen gehen müssen, sondern sollten wirklich ein Alter festlegen.
Aber was dann eben in dieser Schule passiert, das hängt natürlich sehr stark von den individuellen Voraussetzungen der Kinder ab. Manche Kinder können schon mit fünf Jahren lesen, haben sich's selbst beigebracht. Andere können schon schriftlich addieren, während es wiederum Kinder gibt, die mit Buchstaben gar nichts am Hut haben oder noch nicht mal zählen können. Aber auch diese Kinder haben Anspruch auf Förderung.
Deshalb sollten wir von Anfang an sagen: Alle Kinder müssen in einer Wissensgesellschaft sehr früh an diese typischen Lernsituationen gewöhnt werden. Aber sie sollen dann natürlich nicht Frustrationserlebnisse haben, sie sollen auch nicht gelangweilt sein, dann sollten wir eine eher inoffizielle Differenzierung stattfinden lassen.
Hanselmann: Sie haben es eben ja selber gesagt, in diesen Ländern wird spielerisch umgegangen mit den verschiedenen Themen. Zum Beispiel in Frankreich heißt das "Ecole maternelle". Dieses Wort "Schule", wenn es so früh schon "Schule" heißt, vielleicht nimmt es ja auch den Schrecken generell von "Schule" etwas weg, wenn es hin…
Stern: Das ist genau, das soll genau passieren.
Hanselmann: … hingeht und sagt: Au, da darf ich ja sein, wie ich bin, da darf ich spielen, da darf ich mich noch ausprobieren. Da gibt es ja diesen berühmten Test mit dem Arm über den Kopf greifen und dann das Ohrläppchen von gegenüber greifen zu können. Die gängigste Testmethode, aber wahrscheinlich auch die blödsinnigste, oder?
Stern: Da könnte man auch die Länge des obersten Fingergliedes nehmen oder was auch immer. Also wäre wahrscheinlich genauso ein guter oder schlechter Prädiktor.
Hanselmann: Wie wird denn heutzutage nach Methoden der modernen Wissenschaft eine - ich sage mal ganz vorsichtig -, ein Entwicklungsstand - ich sage mal bewusst nicht "Schulreife" -, sondern ein bestimmter Entwicklungsstand getestet?
Stern: Ja, man könnte einfach Wissenstests machen, man könnte Kinder zählen lassen, man könnte Kinder sprechen lassen, weil man natürlich davon ausgeht, dass sie in ihren inoffiziellen Lerngelegenheiten mit den Eltern, mit der Familie oder mit Freunden auch etwas lernen, und könnte einfach schauen: Was haben sie mitgebracht? Man kann einen Intelligenztest durchführen. Aber die Frage ist: Was mache ich aus dem Ergebnis? Was mache ich daraus, wenn das Kind schlecht abgeschnitten hat? Da hatten wir die wirklich verrückte Idee, dass wir sagen, wer schlecht abschneidet, darf noch nicht in die Schule. Die Logik müsste ja eigentlich umgekehrt sein: Wer schlecht abschneidet, der muss eine Chance bekommen, seinen Entwicklung…, ja, den Nachteil zu kompensieren. Während Kinder, die sich sowieso schon selbst das Lesen beigebracht haben, da könnte man ja mit der gleichen Logik sagen, denen gibt man ein paar Bücher und die können sich auch selbst beschäftigen.
Also von daher ist es durchaus sinnvoll, sich immer wieder mal die Entwicklung von Kindern auch mit Tests anzuschauen. Aber man darf jetzt nicht das als die letzte Wahrheit sehen und man muss vor allen Dingen überlegen, welche Schlussfolgerungen man daraus zieht.
Es kann zum Beispiel sinnvoll sein, jetzt bei den Sechsjährigen mal einen kleinen Zahlenverständnistest durchzuführen und dann zu sagen, wer diese Voraussetzungen schon mitbringt, der kann jetzt vielleicht schon mal ein bisschen systematische Mathematik lernen. Wer sie noch nicht mitbringt, mit dem machen wir noch spielerische Zahlenübungen. Aber das kann alles sehr inoffiziell in der Schule laufen. Das heißt der Test ist durchaus sinnvoll, aber das müssen weder die Eltern noch die Kinder groß selbst erfahren, sondern das dient der Information der Pädagogen und der Planung.
Also unter diesen Voraussetzungen ist es durchaus sinnvoll, Kinder zu testen, aber ihnen dann einen Stempel aufzudrücken - du bist um drei Monate verzögert -, das halte ich für nicht sinnvoll. Es bringt nichts an neuen Erkenntnissen und es führt dazu, dass Eltern und Kinder schon sehr schnell ein sehr gespanntes Verhältnis zur Schule bekommen.
Hanselmann: Denn wer auf dem einen Gebiet vielleicht drei Monate hinterher ist, ist auf einen anderen Gebiet schon meilenweit voraus.
Stern: Und es kann auch sehr schnell, also es gibt bei den Kindern noch so Unregelmäßigkeiten in der Entwicklung, dass sie… in drei Monaten kann sich die Welt verändert haben.
Hanselmann: Können Sie das vielleicht kurz beschreiben? Sie haben ja daran geforscht und ich habe es in der Anmoderation gesagt, Sie haben also über mathematische Kenntnisse versucht herauszubekommen: Wie groß sind die Entwicklungsunterschiede? Geben Sie vielleicht ein Beispiel?
Stern: Ja also es gibt Kinder, die wirklich noch nicht bis fünf zählen können, und es gibt Kinder, die wirklich sehr komplexe Textaufgaben schon lösen können und die also schon, ja, im Zahlenbereich bis 100 rechnen, obwohl das eigentlich ja erst Gegenstand der Grundschule ist. Aber dann, wenn man vielleicht manche Kinder, die spontan nicht mit dem Rechnen anfangen, wenn man denen ein bisschen Anstoß gibt, kann sich auch in wenigen Wochen etwas ändern. Also wir müssen einfach uns lösen von der Tatsache - also wir werden nie, da würde ich wirklich nach all meinen Ergebnissen, die ich habe, bin ich sehr sicher, wir werden nie den sicheren Test haben, der im Kindesalter schon vorhersagt, wie die spätere Entwicklung ist. Diesen Test kann es nicht geben, weil es noch so viele verschiedene Einflussgrößen gibt, die die Entwicklung der Kinder beeinflussen, dass wir hier nur die Kinder unnötig stigmatisieren würden.
Wir sollten Tests nur einsetzen für kurzfristige Entscheidungen, nicht für langfristige. Zum Beispiel, ob man sagt: Dieses Kind kann jetzt schon mal mit den Kindern, die zwei Jahre älter sind, lesen lernen. Oder: Dieses Kind sollte lieber noch ein bisschen Sing- und Sprechübungen machen, weil es noch kein Metaverständnis der Sprache hat, auch wenn es schon sechseinhalb ist. Aber das ist halt die Voraussetzung dafür, Lesen und Schreiben zu lernen.
Hanselmann: Woher kommt eigentlich diese Ungleichzeitigkeit? Also liegt das auf Elternseite? Ist das irgendwie genetisch bestimmt? Oder woran liegt das?
Stern: Also hier sind, glaube ich, die Antwort ist klar, dass es sehr viele unterschiedliche Einflussfaktoren gibt. Und wir sind nicht gut beraten, uns zu sehr auf eine einzige zu stürzen. Wir sollten auch nicht den Einfluss der Frühförderung und der Eltern überschätzen, weil das eben auch wieder zu unrealistischen Erwartungen kommt - und auch zu vielen Enttäuschungen. Zwillingsstudien zeigen ganz klar, wie stark doch die genetischen Einflüsse auf die geistige Entwicklung sind, insbesondere bei Kindern, die alle Chancen hatten. Also wer von früh an gefördert wurde, der ist natürlich sozusagen, der hat die Chance gehabt, mehr aus seinen Genen zu machen, und wenn es dann nicht so gut weitergeht, dann können wir das eher auf die Gene zurückführen als bei einem Kind, dem wenig Chancen gegeben wurden. Da können in den Genen doch ganz andere Potenziale schlummern, die wir vielleicht noch wecken könnten.
Hanselmann: Also Sie plädieren einerseits eindeutig für eine frühere Einschulung, für das, was man jetzt vielleicht "Kindergarten" nennt, "Schule" zu nennen, und dort die Kinder spielerisch an das eigentliche Schulleben …
Stern: Ja, ja, spielerisch wirklich …
Hanselmann: … heranzuführen.
Stern: … gerade beim Lesen und Rechtschreiben, da ist es sehr gut erforscht, noch besser als in der Mathematik, dass die Voraussetzung dafür, dass man eben Wörter und Buchstaben schreiben kann, ist, dass man so ein akustisches Metaverständnis von Sprache hat, dass man weiß - nicht jetzt im definitorischen Sinne, sondern eher bei der Handlung -, was eine Silbe ist, wie ein Wort aufgebaut ist, welche Wörter mit dem gleichen Buchstaben, mit den gleichen Lauten anfangen, dann - das nennt man auch "phonologische Bewusstheit" und die trainiert man, indem man mit den Kindern singt, Abzählreime macht und diese Dinge.
Hanselmann: Frau Stern, aber Sie hören natürlich auch die Schulsenatoren und Kultusminister aller Länder jetzt schreien: Wer soll das bezahlen, das kriegen wir doch niemals hin?
Stern: Ja, soll ich dazu noch was sagen?
Hanselmann: Gern.
Stern: Ja.
Hanselmann: Kurz bitte.
Stern: Ja, das Problem ist, dass wir zu bürokratisch bleiben. Wir müssen endlich das Konzept der Hilfslehrer einführen. Wir müssen nicht viele neue, nach A13 bezahlte Lehrer einstellen, sondern einfach hier flexibler werden. Wir können mit dem Geld, was wir zur Verfügung haben, sehr viel mehr machen, als wir tun.
Stern: Ihr Wort in die Ohren zahlreicher verantwortlicher Politiker! Bedanke mich ganz herzlich bei Professor Dr. Elsbeth Stern vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Kognitionspsychologin. Danke schön!