"Es sind in der Regel die ärmsten Kinder"

Anlässlich der Vorstellung des UNICEF-Berichts zur "Lage der Kinder in Krisengebieten 2011" hat der Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, Christian Schneider, darauf hingewiesen, dass immer mehr Kinder durch Naturkatastrophen bedroht sind.
Jan-Christoph Kitzler: Wenn Kinder leiden, dann berührt uns das ganz besonders, weil sie sich nicht richtig wehren können. Aber Kinder werden immer häufiger zu Opfern in den Krisengebieten dieser Welt – das zumindest wird UNICEF heute verkünden. Und mit Krisengebieten sind längst nicht mehr nur die Bürgerkriegsregionen der Welt gemeint, 70 Prozent aller Katastrophen sind heutzutage klimabedingt. Heute stellt UNICEF seinen Bericht zur Lage der Kinder in Krisengebieten 2011 vor, und darüber spreche ich jetzt mit Christian Schneider, dem Geschäftsführer von UNICEF Deutschland. Schönen guten Morgen!

Christian Schneider: Guten Morgen!

Kitzler: Was steht denn in Ihrem Bericht, ist die Lage von Kindern noch schlimmer geworden?

Schneider: Ja, wir müssen davon ausgehen. UNICEF ist sehr besorgt vor allen Dingen darüber, dass die Zahl der Naturkatastrophen und damit eben auch der betroffenen Kinder in den vergangenen Jahren stark zugenommen haben. Wir stellen in unserem Bericht fest, dass Ende der 1990er-Jahre jährlich noch etwa 250 kleinere und größere Fälle von Naturkatastrophen festgestellt werden, heute erreichen wir fast die Grenze von 400. Was bedeutet das? Betroffen sind davon weltweit jedes Jahr etwa 100 Millionen Kinder, und es sind in der Regel die ärmsten Kinder, die betroffen sind.

Kitzler: Das heißt aber auch, dass es mit der steigenden Erderwärmung noch schlimmer wird, dass sich das Problem vergrößern wird in den kommenden Jahren, oder?

Schneider: Das ist der Trend, den wir befürchten. Wir wissen, dass es schon jetzt jedes Jahr 200 Millionen Menschen sind, 100 Millionen davon Kinder, also jedes zweite Opfer ein Kind. UNICEF befürchtet aufgrund der Analysen aus vielen Ländern, in denen wir tätig sind, dass wir in den nächsten Jahren vermutlich jährlich 175 Millionen Kinder haben, die in irgendeiner Form unter den Folgen extremer Wetterphänomene, also von den Überschwemmungen bis hin zu den Wirbelstürmen, leiden werden.

Kitzler: Mal abgesehen vom Mitleid, was wir mit Kindern natürlich haben, aber ich frag mal ganz ketzerisch: Warum ist es eigentlich, abgesehen mal von der hohen Zahl, so schlimm, wenn es gerade Kinder trifft?

Schneider: Na, es trifft vor allem Kinder und es trifft darüber hinaus noch die ärmsten Kinder der Welt. UNICEF stellt in dem Bericht auch fest, dass etwa 95 Prozent der Naturkatastrophen, von denen wir erfahren, zu denen wir tätig sind, in Entwicklungs- und Schwellenländern stattfinden. Das heißt, die Wirbelstürme, die Überschwemmungen oder auch die Dürrekatastrophen treffen vor allen Dingen Kinder, die ohnehin schon unter Krankheiten wie Malaria, Durchfall und anderen leiden, die schwer von Mangelernährung betroffen sind. Und das sind diese Kinder, die dann einer besonderen Katastrophensituation wenig entgegenzusetzen haben.

Kitzler: Das heißt, diese Kinder haben auch weniger Entwicklungschancen als ohnehin schon?

Schneider: Das ist so. Viele dieser Kinder, das wissen wir, aus Krisengebieten, die sich im Grunde nie wieder von einer Naturkatastrophe erholen, wachsen ja als Generation einer Katastrophe im Grunde auf.

Kitzler: Wie gesagt, wir haben die humanitären Katastrophen angesprochen, vor allem Natur- und Klimakatastrophen – was bedeutet das denn eigentlich für die Hilfsmaßnahmen? Der Schutz gegen den Klimawandel ist ja ziemlich schwierig?

Schneider: Ja, UNICEF nutzt ja auch die Konferenz, die morgen in Genf beginnt, wo es um die Katastrophenvorsorge geht, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir nicht immer nur uns von einem neuen Schock, einer neuen Katastrophe treffen lassen wollen, sondern vor allen Dingen in die Vorbeugung und in die Vorbereitung der Kinder und ihrer Familien investieren müssen. Das heißt, gerade in den Ländern, von denen wir ja wissen, dass sie Naturkatastrophen besonders ausgeliefert sind, dort hingehen, mit den Familien lokal arbeiten, sich darauf vorbereiten, was man tun kann, wenn die nächste Überschwemmung kommt.

Kitzler: Können Sie mal ein paar konkrete Beispiele nennen, wie das aussehen soll?

Schneider: Die Beispiele sind sehr konkret. Wir haben in den vergangenen Jahren in einigen Ländern sehr gezielt Programme mit besonders gefährdeten Familien aufgelegt. Ein Beispiel vielleicht aus Bangladesch und Vietnam, wo es in den vergangenen Jahren darum ging, Frühwarnsysteme in Überschwemmungsgebieten aufzusetzen, mit den Familien daran zu arbeiten. Und da gibt es ein ganz praktisches Beispiel: Kinder müssen schwimmen lernen. Wir wissen, dass in vielen der besonders bedrohten Regionen Kinder nie schwimmen gelernt haben. UNICEF macht das gemeinsam mit den Schulen – ein wichtiger Schutz vor dem Ertrinken in dem dann eintreffenden Katastrophenfall. Ein zweites Beispiel vielleicht auch noch aus der Region Myanmar, wo wir zusammen mit lokalen Behörden in den vergangenen Jahren daran gearbeitet haben, einfache Gesundheitszentren sturmsicher zu machen, aber auch mit Lehrern und Mitarbeitern von Behörden dafür zu arbeiten, dass sie Familien rechtzeitig informieren.

Kitzler: Ist eins der großen Probleme in diesem Zusammenhang nicht auch die rasant steigende Weltbevölkerung? Die Vereinten Nationen schätzen, dass wir im Jahr 2050 über neun Milliarden Menschen sein werden.

Schneider: Das heißt natürlich, dass, wenn sich die Zahl der Katastrophengebiete weiter ausweitet, auch mehr Menschen betroffen sein werden. Wir sollten aber auf der anderen Seite auch sehen, dass man sich vorbereiten kann, dass Vorbeugung möglich ist. Die genannten Beispiele sind nur einige. Wenn wir gezielt auch einen Anteil der Nothilfegelder in diesen Bereich investieren, kann man durchaus Fortschritte erzielen. In Bangladesch zum Beispiel ist es gelungen, und wir konnten das nachvollziehen bei den letzten Überschwemmungen, dass durch die Aufklärung der Bevölkerung, dass durch Vorbereitung von Schulen, Einrichten von Zufluchtsorten trotz weiter steigender Bevölkerung die Zahl der Todesopfer im Überschwemmungsfall deutlich gesunken ist.

Kitzler: Die Lage von Kindern in Krisengebieten und wie man sie besser schützen kann. Das war Christian Schneider, der Geschäftsführer von UNICEF Deutschland. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!