"Es sind ganz komische Dinge, die in Jurys passieren"

Moderation: Jürgen König |
Der Filmjournalist Jörg Taszmann hat die Auswahl der Wettbewerbsfilme und die Preisvergabe der Jury auf der Berlinale scharf kritisiert. "Es ist zum zweiten oder dritten Mal hintereinander …, dass die Jury sich versucht zu profilieren, und das finde ich unsäglich", sagte Taszmann. Eine Jury sei nicht dazu da, "den kleinsten Film des Wettbewerbs, den größten Outsider, zum Favoriten zu küren."
Jürgen König: "Selten hat man bei einem Wettbewerb die Kollegen so verdrossen erlebt." Mit diesem Satz beginnt der Kritiker der FAZ heute seinen Abschlussbericht von der Berlinale. Einer unserer Kritiker auf diesem großen Berliner Filmfest war Jörg Taszmann. Herr Taszmann, gehörten Sie auch zu diesen dauerübelgelaunten Gesellen?

Jörg Taszmann: Ach, ich bin einfach wütend. Ich bin einfach wütend, weil die Jury es wirklich auch noch geschafft hat, nachdem der Wettbewerb eh’ nur sehr mittelmäßig war, aber vielleicht in den letzten zwei Tagen dann doch noch mal anzog, mit wirklich konkret den falschen Filmen dieses "Müde" des Wettbewerbs auch noch mal wirklich unterstützt zu haben. Also man hätte da ein bisschen heiler rauskommen können, wenn die Jury einfach die richtigen Filme gewählt hätte, nämlich die, die auch ein bisschen Spaß gemacht haben, die, wo das Publikum auch mal ein bisschen mitgehen konnte, die, die nicht so düster, langweilig und langatmig waren.

König: Also Sie kritisieren jetzt die Auswahl oder die Preisvergabe der Jury?

Taszmann: Beides, beides. Also was mich am meisten geärgert hat war der Doppelpreis für einen argentinischen Film "El Otro", der für mich schon mal gar nichts im Wettbewerb zu suchen hatte, der so eine Konzessionsentscheidung an das angeblich künstlerische Kino war. Da geht es um einen Mann, der ist 45, erfährt von seiner hübschen Freundin, dass sie von ihm ein Kind bekommt. Und dann hat er nichts Besseres zu tun als in irgendeine Kleinstadt zu fahren, sich in drei verschiedenen Hotels unter verschiedenen Namen anzumelden, irgendeine Frau zu beglücken und dann wieder nach Hause zu fahren.

Und genau so langweilig, wie ich das jetzt erzählt habe, war auch der Film. Und es war überhaupt nichts von seiner Motivation zu spüren. Der läuft mit einem Hundeelends-Gesicht durch diesen Film. Der Film dauerte, glaube ich, 83 Minuten, fühlte sich an wie drei Stunden, war entsetzlich langweilig. Und wenn so ein Film dann auch mit zwei Preisen, unter anderem für den besten Darsteller, der gar nichts machte in diesem Film, ausgezeichnet wird, dann ist irgendwie alles schief gelaufen.

König: Nun schreibt dazu Ihre Kollegin Anke Westphal heute in der "Berliner Zeitung": "Die Berlinalejury überrascht mit einer furchtlosen Würdigung des unkommerziellen Films." Das ist ja nun genau dasselbe, was Sie sagen, nur andersrum gewertet.

Taszmann: Na ja, so kann man es natürlich dann auch sehen, so kann man im Nachhinein sich auch alles schön schreiben. Nein, finde ich eine total falsche Einschätzung. Es ist zum zweiten oder dritten Mal hintereinander, eigentlich zum dritten Mal hintereinander, dass die Jury sich versucht zu profilieren, und das finde ich unsäglich. Eine Jury ist nicht dazu da, den kleinsten Film des Wettbewerbs, den größten Outsider, zum Favoriten zu küren und ihm einen goldenen Bären zu geben. Das ist nicht die Aufgabe einer Jury.

Eine Jury hat insofern unbestechlich zu sein und hat das beste Kino auszuwählen und nicht danach zu gehen: Ach nee, Robert de Niro ist zu bekannt, und ach nee, dem Star, der hat schon, das ist nicht alles Aufgabe einer Jury. Und wenn sich eine Jury auf der Berlinale immer nur profiliert und immer nur mit dem Aha-Effekt, ach, mit dem Film haben wir jetzt alle gar nicht gerechnet …

König: …Sie sprechen jetzt von "Tuyas Ehe" von Wang Quan’an?

Taszmann: Ich rede jetzt von "Tuyas Ehe". Ich rede jetzt in diesem Jahr von "Tuyas Ehe", ich rede im vorigen Jahr von "Grbavica", einem Film aus Bosnien, der ein Überraschungssieger war, vor drei Jahren war es "U-Carmen", ein südafrikanisches Musical. Also es ist das dritte Jahr hintereinander, das sich eine Berlinalejury irgendwie den unspektakulärsten Film ausgesucht hat, und das kann einfach nicht so weitergehen.

König: Nun such ja eine Jury nicht unbedingt aus, sondern stimmt ab. Doch im Geheimen, oder wie geht das vonstatten? Also ich stelle mir das so vor, dass da eine Gruppe zusammensitzt, und jeder sagt, wen er für den besten Film hält, und dann kommt da ein Ergebnis bei heraus. Das ist ja insofern nicht zielgerichtet, dass man jetzt die Jury dafür sozusagen verhaften kann, oder doch?

Taszmann: Na ja, ich habe schon in Jurys gesessen, ich habe auch schon Jury-Entscheidungen beobachten dürfen, manchmal als Dolmetscher, manchmal als Beobachter. Es sind ganz komische Dinge, die in Jurys passieren, und es gibt dann immer auch streckenweise diese Fast-Vorgabe zu sagen, also der und der, der darf nicht gewinnen, weil der hat ja schon. Also das ist gar nicht so, wie man sich das vorstellt.

Das sind gar nicht so demokratische Entscheidungen. Im Übrigen ist diese Jury absolut zu groß. Es hat überhaupt keinen Sinn, zwölf Juryleute über 23 oder 22 Filme entscheiden zu lassen, weil einfach die Meinungen so weit auseinander gehen, weil die Jury viel zu weit gefächert ist. Und dann kommt immer so ein Kompromisskandidat heraus, und so sieht es dann auch aus. Es ist der Kompromisskandidat, der gewonnen hat.

König: Reden wir mal über die anderen Bären, einschließlich des silbernen Bären für das neue deutsche Fräuleinwunder Nina Hoss, die, wenn ich es richtig weiß, die dritte Deutsche in Folge ist, die als beste Darstellerin gekürt wurde. Sind diese anderen Bären gerechtfertigt?

Taszmann: Da können wir doch auch wieder jubeln. Das erinnert mich wirklich fatal an das Moskauer Filmfestival, da haben dreimal hintereinander russische Filme gewonnen, bis das keiner mehr lustig fand. Und es findet anscheinend immer noch jeder lustig, dass die deutsche Schauspielerin per Abo jetzt immer den silbernen Bären bekommt. Auch das finde ich nur peinlich und ärgerlich, ehrlich gesagt. Ich persönlich mochte den Film "Yella" auch nicht, obwohl Nina Hoss in dem Film gut ist.

König: Ich glaube, den mochte niemand.

Taszmann: Den mochten interessanterweise deutsche Filmkritiker sehr, sehr gerne. Wenn man sich so die Filmkritiker-Spiegel anschaut, so von FAZ über Frau Westphal von der "Berliner Zeitung", die waren alle sehr begeistert von diesem drögen Antikino. Aber egal, letztendlich ist Kino auch etwas, worüber man sich streiten soll und streiten muss. Frau Hoss war gut in dem Film, aber sie hat überhaupt nicht den silbernen Bären verdient.

Den hätte zum Beispiel die Darstellerin aus dem Siegerfilm verdient, "Tuyas Ehe", eine fantastische Schauspielerin. Ich finde den Film auch nicht schlecht, um das mal ganz klar zu sagen. "Tuyas Ehe" war einer der besseren Filme, war ein schöner kleiner Film. Den hätte man mit einem silbernen Bären wirklich gebührend würdigen können. Aber es war einfach nicht ein Film, der so eine Ausstrahlung hat, dass dann vielleicht auch mal jemand ins Kino geht, der normalerweise nicht ins Kino gehen würde. Und das erwarte ich von einem Berlinale-Sieger.

König: Was haben Sie denn außerhalb des Wettbewerbs gesehen, was irgendwie vielleicht besser im Wettbewerb gelaufen wäre?

Taszmann: Da kann ich leider in diesem Jahr relativ wenig zu sagen. Ich habe im Panorama einen ganz netten Film von Julie Delpy gesehen. Julie Delpy ist ja eine französische Schauspielerin, die seit ein paar Jahren in Amerika wohnt. Die hat einen ganz hübschen Regie-Neuling hingelegt über die kulturellen Unterschiede zwischen Amerika und Frankreich: ein Liebesfilm, also sie, eine Französin, die in Amerika lebt, hat einen jüdisch-amerikanischen Freund, und die finden eigentlich alles nur noch schrecklich in Frankreich. Der war sehr amüsant, sehr witzig.

Aber ich wollte noch mal ganz kurz auf die Bärenvergabe zurückkommen: Es gab ja zwei Filme, die Spaß gemacht haben, also der eine war "Irina Palm", das war dieser berüchtigte Film über die wichsende Witwe, wo Marianne Faithfull eine sechzigjährige Rentnerin spielt, die versucht ihrem kleinen Enkel das Überleben zu sichern, indem sie in einem Sex-Shop arbeitet und Männer mit der Hand befriedigt. Das war ein Film, der war sehr witzig, der war sehr originell, der hat Spaß gemacht, der war sinnlich.

Aber alles, was in diesem Wettbewerb irgendwie sinnlich war und Spaß gemacht hat, genau das hat keine Preise bekommen, und das hat mich letztendlich so geärgert: Und insofern, meine ich, hat die Jury Fehlentscheidungen getroffen. Es gab ja ein paar schöne Filme im Wettbewerb.

König: Welche Rolle spielt oder spielte Dieter Kosslick bei alledem, der ja immer so als gut gelaunter Conferencier über die Berlinale lief. Den müssten doch eigentlich gerade solche sinnlichen Filmbeiträge gefallen haben.

Taszmann: Ja, seinen persönlichen Filmgeschmack, den kann man langsam wirklich nicht mehr einschätzen. Wer so peinliche Filme wie "Bordertown" in den Wettbewerb reinlässt, nur weil Jennifer Lopez mitspielt. Und auch das ist ein Skandal, der Film ist rein aus politischen Gründen nominiert worden und wegen des Showfaktors J-Lo.

Es gab zum Beispiel einen russischen Film, der nannte sich …, von Konstantin Lopuschanski, und an dem Film hatte Michail Gorbatschow ein bisschen was zu tun. Gorbatschow hat eine Umweltstiftung in Russland, und Gorbatschow hatte gesagt, wenn die Berlinale diesen Film in irgendeiner Form zeigen würde, wäre er bereit, nach Berlin zu kommen, den Film vorzustellen. Das ist dann irgendwann im Dezember dankend von Herrn Kosslick abgelehnt worden, also Herrn Gorbatschow wollte man nicht, J-Lo war da wichtiger. Und das sind dann so die krassen Fehlentscheidungen letztendlich, die die Berlinale getroffen hat.

König: Welche Auswahlkriterien müssten geändert werden?

Taszmann: Also ich finde generell, dieser Mischmasch im Wettbewerb passt einfach nicht. Ich finde, der Wettbewerb müsste ein bisschen kommerzieller ausgerichtet werden, der müsste einfach Geschichten erzählen, die einen wirklich berühren, die einfach auch emotionaler sind. Es kann nicht angehen, dass die wenigen Filme, die ein bisschen Humor verbreiten, die ein bisschen Sinnlichkeit und Lebensfreude verbreiten, dass die a) in der radikalen Minderheit sind und b) dann ehe nie einen Preis bekommen. Das kann einfach so nicht weitergehen, und das geht jetzt über die Jahre schon so.

Viele Filme, die in diesem Wettbewerb liefen, wie auch dieser unsägliche argentinische Film, haben im Wettbewerb nichts verloren. Dafür hat die Berlinale andere Sektionen wie das Forum oder das Panorama, wo die viel, viel besser aufgehoben sind. Ich finde einfach, ich will einfach mehr Erzählkino im Wettbewerb haben. Eben auch Filme, die mir Geschichten erzählen, die mir was über die Länder vermitteln, die mir nicht irgendwelche Männer in irgendwelchen Klöstern zeigen, die sich da 90 Minuten ihre Seele ausheulen - das war ein italienischer Film, den ich jetzt gerade erwähne. Also diese Männergeschichten, Männer, die an sich selbst leiden, ich kann es nicht mehr ertragen, und davon gab es relativ viel.

König: Und die Jury müsste auch kleiner werden?

Taszmann: Ich finde, die Jury müsste kleiner werden und auch in irgendeiner Weise homogener ausgerichtet werden. Das bringt überhaupt nicht, dass ich meinen Latino habe, dass ich meinen Osteuropäer habe, dass ich meinen Amerikaner habe, meinen Deutschen habe, und dann irgendwie müssen die alle zu irgendwas kommen. Also dabei können irgendwie nur faule Kompromisse entstehen.

König: Die Berlinale war ja auch das größte Kinderfilmfestival der Welt. Das endete am Samstag unrühmlich, weil der Abschlussfilm im Zoopalast in Berlin, einer der größten Kinosäle, sozusagen halb geräumt werden musste. Der Sektionsleiter trat vor die Leinwand und sagte: Bitte alle Kinder unter Zwölf, jetzt den Saal verlassen, denn der Gewinner ist ein thailändischer Horrorfilm, der für euch noch nicht freigegeben ist. Das ist doch eigentlich ein Skandal, oder?

Taszmann: Ach, so was ist superpeinlich. Aber ich weiß nicht, ob die Berlinale das größte Kinderfilmfestival ist. Im tschechischen Zlin, wo es das älteste Kinderfilmfestival gibt und wo ein Kino ist, wo 2000 Leute reinpassen, ich glaube, die haben ein größeres, aber egal. - Nee, so was darf nicht passieren, aber die Berlinale parkt seit Jahren in diesem Kinderprogramm, das ja gezweiteilt ist, einmal in Kinder unter zwölf oder unter vierzehn und einmal in Kinder über Vierzehn, da parkt die Berlinale seit langem hochanspruchsvolle, auch sehr, sehr gute Filme, in denen Kinder Protagonisten sind, eben streckenweise auch Geschichten von Kindersoldaten erzählt werden oder Kinderhandel.

Und das sind eigentlich gar keine Filme, die für Kinder wirklich bestimmt sind. Auch da muss die Berlinale aufpassen, weil diese Filme im Kinderprogramm leider untergehen und überhaupt nicht so gewürdigt werden, wie sie es verdient hätten. Es gab einen Film aus Ungarn, "Iskas Reise", da ging es zum Beispiel so um ein junges zwölfjähriges Mädchen, was dann letzten Endes an Menschenhändler verkauft wird. Das ist nicht wirklich ein Thema für Vierzehnjährige.

König: Die 57. Internationalen Filmfestspiele sind zu Ende und überwiegend ein Ärgernis gewesen. Eine Bilanz von Jörg Taszmann.