"Es muss jetzt etwas geschehen"

Moderation: Marie Sagenschneider |
Die Grünen-Europapolitikerin Gisela Kallenbach erhofft sich von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr Impulse für einen weiteren Anlauf beim Europäischen Verfassungsvertrag. Auf die Ratspräsidentschaft setzten sehr viele Menschen große Hoffnungen, sagte Kallenbach.
Marie Sagenschneider: Ab Januar wird die Bärenquote in der Europäischen Union rasant ansteigen, und überhaupt wird es dann etwas wilder zugehen, denn in Rumänien und Bulgarien leben noch mehrere Tausend Braunbären, Wölfe, Schakale und andere Wildtiere, das kennt man ja im Rest der EU nicht so. Ach ja, und 30 Millionen Menschen kommen auch hinzu mit dem Beitritt beider Länder, die EU zählt dann gut 490 Millionen Bürger, 27 Mitgliedstaaten und reicht vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer. Klingt beeindruckend, aber viele bleiben skeptisch gegenüber den Neuen, weil die ihre Hausaufgaben noch nicht ganz gemacht haben wie die Europäische Union selbst, die ja immer noch ohne Verfassung da steht und ohne Idee, wie eine EU der 27 oder mehr künftig gemanagt werden kann. Was also bringt der Beitritt Rumäniens und Bulgariens und wie heikel ist das für die EU? Darüber wollen wir nun hier im Deutschlandradio Kultur mit Gisela Kallenbach sprechen, sie gehört der Fraktion der Grünen im Europaparlament an. Guten Morgen, Frau Kallenbach.

Gisela Kallenbach: Guten Morgen.

Sagenschneider: Nun hat sich zwar rumgesprochen, dass kaum ein Land so sehr von der Erweiterung profitiert wie Deutschland, aber die meisten Deutschen haben doch ziemliches Bauchgrimmen, was diese nächste Erweiterungsrunde anbelangt, weil man eben Sorge hat, dass dies die EU überfordern wird. Wird es das?

Kallenbach: Also zumindest sind wir an einem Punkt angekommen, wo wir sagen müssen, jetzt ist dringend notwendig, das Projekt der so genannten europäischen Vertiefung, über die seit Jahren gesprochen wird, wirklich zu vollenden. Der Nizza-Vertrag gibt noch die Möglichkeit, bis 27 Länder zu managen, will ich mal sagen, und ich denke, diese 30 Millionen werden nicht die Europäische Union in den Ruin treiben, das schließe ich aus.

Sagenschneider: Aber sowohl Rumänien als auch Bulgarien erfüllen auf vielen Feldern die Ansprüche der EU noch längst nicht, also das betrifft das Justizwesen, Lebensmittelhygiene zum Beispiel, aber auch die Luftfahrsicherheit. War es ein Fehler, die beiden Länder jetzt schon zum Januar 2007 aufzunehmen, denn man hätte es auch noch um ein Jahr schieben können?

Kallenbach: Ja, ich denke, das war denn letztlich eine politische Entscheidung. Das Europäische Parlament war da nicht mehr direkt beteiligt. Unsere Fraktion hatte im vergangenen Jahr gesagt, lasst uns die Unterzeichnung des Vertrages doch noch ein halbes Jahr aufschieben, dafür hat es keine Mehrheit gegeben, und insofern, meine ich, dass wir damit jetzt umgehen müssen, und die Schutzklauseln, die gleichzeitig vereinbart wurden, geben zumindest ja noch so eine kleine Sicherheitsschleife, dass man hier und da einzelne Bereiche noch aussetzen kann, Sie erwähnten selbst eben die Flugsicherheit, Probleme dabei schließen jetzt den vollen Zugang zum EU-Binnenmarkt im Luftverkehr erstmal aus, das heißt, wir werden jetzt noch ein ganzes Stückchen mehr Arbeit haben als europäische Institution, um darauf zu achten, dass eben tatsächlich dieser so genante europäische (…) auch tatsächlich umgesetzt wird. Aber wir wissen, dass Bulgarien und Rumänien da noch sehr, sehr viel beitragen müssen.

Sagenschneider: Ich frage mich manchmal, ob man die Probleme vielleicht auch ein bisschen zu schwer nimmt, denn es ist ja zum Beispiel immer die Rede davon, dass Bulgarien ein durch und durch korruptes Land sei, andrerseits hat Transparency International festgestellt, dass die Korruption in Polen sehr viel ausgeprägter ist, wovon ja niemand mehr spricht, seitdem Polen der EU angehört. Also sollten wir uns da vielleicht ein bisschen mehr in der Kunst des Relativierens üben?

Kallenbach: Ja, oder Probleme, die Deutschland zurzeit zu bewältigen hat hinsichtlich von Affären und Korruption. Ich denke, dieser Beitritt hat natürlich dazu geführt, dass man bei Bulgarien, auch bei Rumänien insbesondere darauf achtet, was ist mit organisierter Kriminalität, was ist mit Durchsetzung eines wirklich freiheitlichen, unabhängigen Justizsystems. Aber wir wissen auch, dass wir sowohl in unseren alten EU-Mitgliedstaaten als auch in denen, die 2004 beigetreten sind, gleiche Probleme haben, und wir tun gut daran, auch das immer wieder einzufordern und auch unsere Mitgliedstaaten darauf zu drängen und Mechanismen zu finden, dass solche Missstände so gut als möglich ausgeschlossen werden.

Sagenschneider: Worin besteht denn für die EU der Vorteil, Rumänien und Bulgarien aufzunehmen?

Kallenbach: Also ich bin persönlich überzeugt, dass ohne den Druck, die demokratischen Standards der EU für einen Beitritt übernehmen zu müssen, die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa nicht so reibungslos abgelaufen wäre, der Demokratisierungseffekt nicht sich so schnell, im Verhältnis so schnell durchgesetzt hätte, und daher denke ich, wir, die alten EU-25, wir haben den Nutzen davon, dass wir demokratische Systeme in unsere Union integrieren, und wir wissen, dass da immer noch ein großes Loch zwischen den jetzigen Beitrittsländern und der alten EU ist, nämlich das ehemalige Jugoslawien. Auch dort wird es von Vorteil sein, wenn wir diese Länder in einem demokratischen Weg in die Europäische Union integrieren.

Sagenschneider: Und im Übrigen erwartet man einen Wachstumsschub für die EU, denn wir reden ja von Ländern, die derzeit zumindest sechs Prozent Wirtschaftswachstum aufweisen. Sie haben schon gesagt, Frau Kallenbach, die EU selbst wird sich tatsächlich erstmal selbst fit machen müssen, bevor eine nächste Erweiterungsrunde ins Auge gefasst werden kann. Deutschland kann hier möglicherweise einiges bewegen im nächsten halben Jahr, weil es ja dann die EU-Ratspräsidentschaft innehaben wird. Glauben Sie, dass tatsächlich gelingen kann, der Verfassung wieder neuen Schwung zu verleihen?

Kallenbach: Also ich gehe davon aus, und mit mir setzen sehr viele Menschen große Hoffnungen auf diese deutsche Ratspräsidentschaft, weil es ist inzwischen so ein Druck entstanden, dass man diese so genannte Denkpause nach den zwei negativen Referenden nicht weiter vor sich herschieben kann, sondern es muss jetzt etwas geschehen. Wir brauchen unbedingt Reformen, wir müssen vereinfachte Verfahren haben, um zu Entscheidungen zu kommen, und wir lähmen unsere Institutionen eigentlich selbst, wenn wir das nicht wirklich voranbringen, und ich denke, Deutschland als größtes Mitgliedsland hat da eine besondere Verantwortung, und dem werden auch besondere Erwartungen entgegengebracht.

Sagenschneider: Gisela Kallenbach war das, sie ist Europaabgeordnete der Grünen. Ich danke Ihnen.