Es ist vollbracht

Von Alois Berger |
"Es ist vollbracht," sagte der deutsche Außenminister gestern Nacht in Lissabon und meinte damit, dass das Thema "Europäische Verfassung" endlich vom Tisch ist. Mehr als sechs Jahre lang ging die Europäische Union damit schwanger, diskutierte, versammelte 110 erfahrene Politiker aus allen EU-Ländern zu einem monatelangen Konvent und veranstaltete Hearings und öffentliche Debatten.
Der große Wurf sollte es werden, eine Verfassung, die Europa Ziel und Ordnung gibt. Herausgekommen ist ein Reformvertrag, der absichtlich unleserlich gehalten ist, damit ihn niemand mehr mit einer Verfassung verwechseln kann.

Und noch etwas ist herausgekommen: Nach dem elenden Hin und Her um die europäische Verfassung wissen wir zumindest, was in der Europäischen Union möglich ist und was nicht. Tiefgreifende Reformen sind möglich. Der große Wurf aber ist es nicht.

Schuld daran sind diesmal nicht die Politiker, nicht einmal den britischen Premierminister und selbst das Kaczynski-Duo aus Polen kann man als Bösewicht brandmarken. Schließlich war es die Mehrheit der französischen und der niederländischen Bürger, die Nein gesagt haben zur fertig ausgearbeiteten Verfassung. Und hätte man die Bevölkerung in allen EU-Ländern gefragt, dann hätten sicher noch mehr Nein gesagt.

Doch was soll man daraus lernen? Dass den Bürgern die Europäische Union zu weit geht, dass sie weniger Europa wollen?

So einfach ist es leider nicht. In den Niederlanden trifft das vielleicht zu. Glaubt man den Umfragen, dann wurde dort die Verfassung vor allem abgelehnt, weil viele Niederländer das Gefühl haben, die EU greife schon heute zu weit in ihr tägliches Leben ein.

In Frankreich dagegen war es eher anders herum. Den französischen Bürgern ging die Verfassung nicht weit genug. Viele Franzosen erwarten von der EU mehr Schutz für ihre Arbeitsplätze und ihre sozialen Errungenschaften. Die EU soll Frankreich vor den Unannehmlichkeiten des Weltmarktes schützen, und - wenn man es konkreter will - vor den polnischen Klempnern und der chinesischen Billigkonkurrenz. Und weil die Verfassung das nicht leisten konnte, stimmten viele Franzosen dagegen.

Genau das ist das Dilemma der Europäischen Union - und der Demokratie in dieser Europäischen Union. Dürfte die Bevölkerung entscheiden, gäbe es mindestens 27 verschiedene Europas, mit 24 verschiedenen Verfassungen und drei mal ohne. Denn in jedem Land dominieren andere Erwartungen an dieses Europa.

Wir Deutsche wollen mehr Ordnung und Übersichtlichkeit, die Franzosen mehr Protektionismus, die Briten mehr Marktwirtschaft, die Iren mehr Abstand von den Briten und die Polen wollen unbedingt als großes Land anerkannt werden. Das alles in einer Verfassung zusammen zu bringen ist schwer genug, für diese Verfassung auch noch die Zustimmung der Bevölkerung zu bekommen, ist - das wissen wir jetzt ganz sicher - schlicht unmöglich.

Aber was soll dieses Europa dann überhaupt? Muss man nicht irgendwann die Frage stellen, ob es noch Sinn macht, an dieser Europäischen Union weiterzubauen?

Die Wahrheit ist: Die EU baut längst an sich selber weiter. Das Drängen nach mehr Europa kommt schon lange nicht mehr von den Politikern und schon gar nicht von den Bürgern. Der Druck, Europa weiter zu stärken, kommt von den Aufgaben, vor denen die Europäische Union steht.

Keine Regierung ist scharf auf einen europäischen Außenminister, der ihr einen Teil der Macht wegnimmt. Keine Regierung räumt der EU gerne mehr Zuständigkeiten in der Innen- und Justizpolitik ein. Keine Regierung hat wirklich Lust, jetzt auch noch Truppen für Militäreinsätze der EU zur Verfügung zu stellen.

Aber alle wissen, dass sie vor der Verantwortung nicht davon laufen können. Der internationale Terrorismus, die drohende Atombombe in Teheran, die Flüchtlingswellen übers Mittelmeer und aus dem Osten, unsichere Verhältnisse auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien, die Probleme stehen vor der Haustür und jede Regierung in Europa weiß, dass sie alleine nichts mehr ausrichten kann. Ohne ein stärkeres Europa haben wir keine Chance, auch nur eines dieser Probleme zu lösen.
Es ist kein Zufall, dass es bei den wesentlichen Punkten des jetzt beschlossenen Reformvertrags um die innere Entscheidungsfähigkeit und die äußere Handlungsfähigkeit der EU geht.

Wirtschaftspolitisch ist die EU weitgehend ausgereift, das läuft, da befindet sich Europa längst auf Augenhöhe mit den USA. Außenpolitisch dagegen hinkt die Europäische Union noch weit hinter den Anforderungen her. Dort ist der Anpassungsdruck auch am unerbittlichsten.

Deshalb und nur deshalb haben die Regierungschefs nach dem Scheitern der Verfassung nicht einfach aufgegeben.

Im Reformvertrag steht nicht dasselbe wie in der gescheiterten Verfassung. Die Verfassung wäre umfassender gewesen, zukunftweisender, auch eleganter. Im Reformvertrag steht nur noch das für die nächsten Jahre unbedingt Notwendige.

Im Grunde passt dieser schmucklose Reformvertrag viel besser zur aktuellen Stimmungslage in der Europäischen Union: Soviel Europa wie nötig, so wenig wie möglich. Und bloß keine Verzierungen.