"Es ist unvergleichlich, wie er jedes Publikum fesseln konnte"

Moderation: Katrin Heise · 08.06.2011
In Frankreich gilt er als literarische Koryphäe, in Spanien hat man über ihn die Nase gerümpft - Jorge Semprún. Die Journalistin Franziska Augstein blickt im Interview zurück auf das Leben des verstorbenen Schriftstellers.
Katrin Heise: Ein Leben, wie es das 20. Jahrhundert schrieb: Geboren wurde Jorge Semprún in einer großbürgerlichen linksliberalen Madrider Familie, die der Bürgerkrieg ins französische Exil trieb. Résistance, das KZ Buchenwald, Untergrundkampf gegen Franco und später dann Kulturminister – sein Leben, das Leben im 20. Jahrhundert hat er in seinen unzähligen Romanen und Erzählungen be- und verarbeitet. "Der Tote mit meinem Namen", "20 Jahre und ein Tag", "Was für ein schöner Sonntag" oder "Die große Reise" sind nur einige seiner Werke. Die Journalistin Franziska Augstein begleitete Semprún 2008 mit ihrem Buch "Von Treue und Verrat", sie begleitete ihn, sein Leben, sie hatte ihn vorher über Jahre mit Besuchen und Gesprächen kennengelernt. Ich grüße Sie, Frau Augstein!

Franziska Augstein: Guten Morgen!

Heise: Frau Augstein, Sie verlieren mit Jorgen Semprún einen sehr guten Bekannten. Wen verlieren wir alle mit seinem Tod?

Augstein: Ja, zunächst: Das letzte Musikstück, das eben bei Ihnen gespielt wurde, das hätte ihm gefallen. Er liebte altmodischen Jazz. Wir alle verlieren jemanden, der als Kind gelernt hat, dass Republikanismus besser ist als Monarchie und Diktatur, was sich bei ihm dann verwandelte im Laufe der Jahrzehnte dazu, dass er sagte: Das heißt auch, dass Europa unsere Zukunft ist, die Europäische Union. Er war einer der Wenigen, die das Wort Jacques Delors' wahr gemacht haben: Europa eine Seele geben. Wer Semprún über Europa hat reden hören, der hat sofort verstanden, was daran wichtig ist.

Das ist das eine, das andere ist, dass er seine Erfahrung in Buchenwald in verschiedene Erzählungen gebracht hat, die so sind, dass sie Bestand haben werden, weil er da genau darstellt, was er erlebt hat, ohne aber sich in die Opferposition zu begeben, das heißt, ohne immerzu von sich zu reden, sondern er spricht von dem gesamten Gefüge der Kameradschaft, das er auch dort erlebt hat.

Heise: Jorge Semprún hatte von seinem Kindermädchen Deutsch gelernt, er beschrieb sein Leben einmal so:

Jorge Semprún: Was sind Sie? Ich sage nicht Spanier, ich sage nicht Franzose, ich sage nicht Schriftsteller, ich sage nicht Politiker – vielleicht, wenn ich etwas müde und traurig bin, sage ich: Ich bin vor allem ein ehemaliger Deportierter von Buchenwald, nicht nur, weil es eine Jugenderfahrung war, auch, weil: Dieses Überleben, dieser Kampf mit dem radikal Bösen war wirklich meine Bildungsgeschichte.

Heise: Frau Augstein, trotz dem, was er gerade selber über sich gesagt hatte, gilt Semprún ja als ein optimistischer Mensch. Wie haben Sie ihn erlebt?

Augstein: Optimistisch würde ich nicht sagen. Jorge Semprún war ein sehr politisch denkender Mensch, und das heißt, auch ein großer Selbstdarsteller. Das, was wir eben gehört haben, das hätte er niemals in Spanien oder Frankreich in ein Mikrofon gesprochen. Das sagt er uns Deutschen, weil er weiß, dass wir das verstehen können, und weil er weiß, dass uns das auch irgendwie gefällt, jedenfalls in der heutigen Zeit. Ich habe ihn kennengelernt als jemanden, der ein bisschen in sich selbst verschlossen ist. Er gehört einer Generation von Männern an, von denen viele nie wirklich gelernt haben, Empathie zu zeigen, und wer das nicht kann, der ist auf sich selbst zurückgeworfen, was auch ein bisschen einsam macht. Also die Melancholie, die er empfunden hat, rührt ganz wesentlich aus seiner Sozialisierung, würde ich sagen.

Heise: Gibt dieses Nicht-Empathisch- oder Wenig-Empathisch-sein-Können, hat ihm das aber vielleicht auch die Kraft gegeben, diese verschiedenen Dinge wie eben Kampf in der Résistance, Buchenwald, dann der Untergrund – er war als Frederico Sanchez im Untergrund gegen Franco, hat sich später dann aber vom Kommunismus ja auch dann abgewandt –, hat er wegen dieser, ja, wie Sie es sagen, nicht ausgeprägten Empathie diese ganzen Stationen überhaupt erleben, überleben können?

Augstein: Also überleben hat er sie deswegen nicht können, dazu brauchte er Intelligenz. Aber es hat ihm geholfen, mit all dem fertigzuwerden. Er ist ein großer Politiker gewesen, auch wenn er nur einmal kurz Politiker war, nämlich spanischer Kulturminister. Ich denke, dass wenn man in der Öffentlichkeit etwas werden will – das gilt für alle –, dann muss man, dann darf man sich nicht sehr viel darum scheren, was die anderen empfinden. Man hat selber seine Agenda, seine Ziele. Also so, wie er in Buchenwald das Ziel hatte, gemeinsam mit den anderen Kommunisten dort, wenn der Zeitpunkt reif wäre, einen Umsturz zu wagen; so, wie er später dann in Spanien im Untergrund gelebt hat und versucht hat, in den Fabriken die Gewerkschaften, die geheimen Gewerkschaften zu organisieren – solche Dinge kann man nur machen, wenn man immer genau das Ziel im Auge hat und sich nicht fragt, wie es anderen Leuten links und rechts jetzt gerade geht.

Heise: Wie hat das eigentlich angefangen? Ich meine, im französischen Exil als Sohn reicher Eltern hätte er ja auch studieren können. Er ist aber in die Résistance gegangen.

Augstein: Nein, er hat angefangen zu studieren. Sein Vater war auch schon Politiker, er war eine Art Gouverneur und Republikaner. Und als die Faschisten 1936 Überhand gewannen, zu gewinnen drohten, hat er mit seinen Kindern das Land verlassen. Man ist zuerst nach Holland gegangen, und als dann Franco endgültig gesiegt hatte 1939, konnte man in Holland nicht mehr bleiben, weil dann die republikanische Delegation in Holland aufgelöst wurde. Dann ist man ins echte Exil nach Paris gegangen, wo Semprún dann die Schule beendet hat und begonnen hat, an der Sorbonne zu studieren. Er hat das nur nicht weitergeführt, weil die Deutschen in Frankreich einmarschiert sind, und er dann sich der kommunistischen Partei angeschlossen hat und die Résistance, die Arbeit in der Résistance ihm einfach wichtiger war als ein merkwürdiges, abgehobenes Studium der Philosophie.

Heise: Da ist wieder das schon zu merken, also wirklich zu wissen, was man will, und eben sich gar nicht unbedingt zu kümmern, was vielleicht da sonst noch die anderen von einem gewollt hätten. Mit Franziska Augstein erinnern wir an den verstorbenen Schriftsteller Jorge Semprún. All das, Frau Augstein, hat Semprún ja Zeit seines Lebens literarisch aufgearbeitet, uns allen damit auch zugänglich gemacht. Wie haben Sie eigentlich seine Bücher gelesen – als Erinnerung ans 20. Jahrhundert oder als literarische Erlebnisse?

Augstein: Das ist natürlich alles Literatur. Ich habe seine Bücher, die von Buchenwald handeln, alle wirklich auf einem ganz hohen Niveau angesiedelt gelesen, als Literatur und als Berichte davon, wie es gewesen ist. Seine übrigen Bücher – das ist weder das eine noch das andere in diesem Maße.

Heise: Er ist ja geschmäht worden – ich habe es erwähnt, dass er von den Spaniern zum Teil gefragt wurde, bist du eigentlich Spanier, weil er auf Französisch schrieb, in Frankreich hat er dann am Ende die Berufung in die Académie française abgelehnt, weil er da eben auf seinen spanischen Pass angesprochen wurde. Er ist aber auch vielfach ausgezeichnet worden, wirklich vielfach ausgezeichnet worden, zum Beispiel auch mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Was haben ihm eigentlich diese Auszeichnungen, vielleicht auch gerade die deutschen Auszeichnungen, bedeutet?

Augstein: Viel. Er war ein stolzer Spanier, und ein stolzer Spanier verdient es per se, dass er regelmäßig ausgezeichnet wird. Es war sozusagen wichtig, aber es war auch normal. Außerdem war er sich dessen bewusst, wie intelligent er ist und wie er auftritt. Er hat mir einmal gesagt, das ist eine Sache, die ihn gekratzt hat, er hat mir gesagt: Wenn ich immerzu Auflagen, ganz, ganz hohe Auflagen haben will, dann darf ich immer nur über das Konzentrationslager schreiben, aber ich möchte doch manchmal auch über was anderes schreiben.

Heise: Was würden Sie sagen, wie sehr ist er gehört worden?

Augstein: Er ist in Frankreich eine ganz große Koryphäe der Literatur, ein bedeutender Mensch. Wann immer in Frankreich irgendetwas los ist, wozu er sich jemals geäußert hat, hat man ihn konsultiert und ihn gebeten, seine Meinung dazu zu äußern. In Spanien hat man die Nase gerümpft, weil die Spanier in gewisser Weise beleidigt waren, weil er in Frankreich gelebt hat. Und in Deutschland, wie Sie wissen, sonst würden wir nicht reden, gilt er auch sehr viel. Und was entscheidend ist auch, ist eine Sache, das habe ich oft gesehen, wenn ich ihn begleitet habe: Es ist unvergleichlich, wie er jedes Publikum fesseln konnte und bezaubern konnte. Wer das gesehen hat, der konnte sich dem einfach nicht entziehen.

Heise: Er war 87 Jahre alt, ich kann mich eben auch erinnern, wie viel er unterwegs war, wie häufig er auch hier in Berlin war. Wie hat er eigentlich an der Situation in Spanien jetzt teilgenommen, also die Franco-Aufarbeitung, die jetzt seit einigen Jahren geschieht, wo aber auch immer wieder sehr starke Behinderungen ja da sind? Und wie hat er auch diese jüngsten Proteste der jungen Generation wahrgenommen?

Augstein: Er war mit Zapatero bekannt, bevor der spanischer Regierungschef wurde, und Zapatero hat ja selber eine Geschichte, also ein Großvater von ihm ist umgebracht worden im spanischen Bürgerkrieg. Und Semprún hat sich mit Zapatero darüber ausgetauscht und wusste, dass der die Absicht hatte, endlich die Epoche der Transmission zu einem Ende zu bringen und dafür zu sorgen, dass nun endlich wenigstens die Nachkommen der Opfer die Gräber ihrer Eltern und Großeltern finden konnten, die Toten ausgraben konnten, sie würdig bestatten konnten, dass man darüber reden sollte in der Öffentlichkeit, dass man das alles ein bisschen aufarbeiten sollte. Das war Semprún ein ganz großes Anliegen. Er hat Zapatero darin unterstützt und alles, was seither in Spanien auf diesem Sektor geschehen ist, hat er nur mit dem größten Wohlwollen halt begleitet.

Heise: Franziska Augstein, ich danke Ihnen für die Erinnerung an Jorge Semprún!

Augstein: Ja, danke!


Programmtipp
Hören Sie weitere Berichte zum Tod von Jorge Semprún in der Sendung Radiofeuilleton um 11.50 Uhr und 14.50 Uhr sowie in der Sendung Fazit um 19.07 Uhr.