"Es ist so was Normales geworden, ein Europäer zu sein"

Michal Hvorecky im Gespräch mit Jürgen König · 03.06.2009
Der Autor Michal Hvorecky sieht in der geringen Anzahl von slowakischen EU-Parlamentariern einen Grund für eine mögliche geringe Beteiligung an der Europawahl. Ein Problem sei aber auch, dass Europa in seinem Land schon als etwas Selbstverständliches wahrgenommen werde, sagte Hvorecky.
Jürgen König: Am kommenden Sonntag sind Europawahlen, das nehmen wir im "Radiofeuilleton" zum Anlass, mit Schriftstellern aus mittel-, aus osteuropäischen Ländern zu sprechen, aus Ländern, die während der vergangenen fünf Jahre der EU beitraten, um diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach den gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Länder zu befragen.

Mit Nora Luga aus Rumänien und Sigitas Parulskis aus Litauen haben wir schon gesprochen, heute begrüße ich Michal Hvorecky aus der Slowakei. Geboren 1976, ist er einer der bekanntesten Schriftsteller der jüngeren Generation der Slowakei. Sein Roman "Eskorta" aus dem Jahr 2007 erschien jetzt in deutscher Übersetzung im Tropen-Verlag Stuttgart. Herr Hvorecky ist unser Gast. Ich grüße Sie, schön, dass Sie da sind!

Michal Hvorecky: Dobrý deň, guten Tag!

König: Sie wurden in Bratislava geboren, haben mehrere Jahre in Deutschland gelebt, sind dann aber nach Bratislava zurückgegangen, weil sie dieses Umfeld, wie Sie in einem Interview gesagt haben, doch für Ihr Schreiben brauchen.

Nun haben Sie in Ihrem Roman "Eskorta", gerade erwähnt, Bratislava als einen Ort beschrieben, in dem seit der Unabhängigkeit des Landes und noch mehr seit dem EU-Beitritt nach der Mangelwirtschaft der späten sozialistischen Jahre der entfesselte Kapitalismus regiert. Können Sie uns mal die Atmosphäre Ihrer Stadt Bratislava beschreiben?

Hvorecky: Ja, das ist gar nicht so einfach in ein paar Sätzen, aber auf jeden Fall hat sich meine Stadt, meine Heimatstadt Bratislava unglaublich verändert innerhalb von 20 Jahren. Und ich selber, wenn ich immer ein paar Monate im Ausland bin und dann zurückkomme, wundere ich mich, was alles neu steht, was für Häuser es da gibt, was für Gebäude wurden wieder neu gebaut. Es ist aber auch so, es ist nicht nur sozusagen die Oberflächlichkeit dieser Stadt, die Architektur, die Sanierung der Häuser oder die Neubauten, sondern ich glaube, dass sich auch die Identität der Menschen wirklich radikal geändert hat.

Ich finde, dass Bratislava wieder nach 20 Jahren eine multikulturelle Stadt, eine sehr lebendige Stadt ist. Man muss es auch sich so vorstellen, es hat nur eine halbe Million Einwohner, also es ist keine richtige Großstadt, wie man das zum Beispiel hier in Berlin kennt, sondern es ist eher klein, aber es hat eine ganz besondere Position an den Grenzen.

Nur drei Kilometer entfernt ist die österreichische Grenze, sieben Kilometer östlich Ungarn, nicht so weit westlich wieder Tschechien – und in dem Sinne ist diese spezielle geografische Position jetzt ein Riesenvorteil der Stadt. Da kommen sehr viele, man hört wieder viele Sprachen, Fremdsprachen auf der Straße, da sind viele Ausländer zu Hause und auch viele Slowaken oder Bratislavaer sind oft unterwegs. Es ist eine auch reiche und deswegen auch teure Stadt geworden.

König: Der Protagonist Ihres Romans, er macht sein Geld und auch sein Glück mit einem Damenbegleitservice, daher der Titel "Eskorta". Der wirbt mit dem Slogan: Der Westen ist jetzt im Osten. Bratislava gehört mit Prag zu den reichsten, den wohlhabendsten Städten Mitteleuropas. Wie hat der plötzliche Reichtum der Stadt ihre Bewohner verändert?

Hvorecky: Na ja, Reichtum ist vielleicht nicht das richtige Wort, weil es ist nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, der wirklich reich ist im westlichen Sinne des Wortes. Doch man kann wirklich sagen, dass es den Leuten im Allgemeinen wesentlich besser geht als vor 20 Jahren oder sogar vor 10 Jahren.

Slowakei, das ist ein Land, eine wahre Erfolgsgeschichte. Da gibt’s jetzt gerade viele bessere Jobs, es kommen Investoren immer noch, man bringt das Geld, man will was wirklich neu bauen, und in dem Sinne erlebt halt die Slowakei schon was sehr Positives. Mein Held ist aber wirklich so ein extremer Typ, weil der besessen von Konsum ist.

Und das ist auch ein großes Thema des Landes, dieser Turbokapitalismus der Slowakei hat sehr stark die ganze Stimmung der Stadt, des Landes geprägt. Es ist irgendwie diese neuen Reichen. Und Michal Kirchner aus dem Roman ist gerade so ein Prototyp so eines Mannes, der ganz skrupellos und oft auch sehr wild und hartnäckig auf sein Ziel guckt und würde alles machen, um ihn zu erreichen.

König: Sie sagten, der Slowakei ginge es besser als vor 20 Jahren, als vor zehn Jahren. Nun liest man hier, dass das Geld der ausländischen Investoren vorrangig in Bratislava bleibt, im Großraum der Stadt, dass aber schon einige hundert Kilometer weiter ganze Regionen richtig in Armut versinken, dass inzwischen dort nicht mal mehr Eisenbahnanschlüsse selbst zu größeren Städten hinführen. Ist das nicht eine Spaltung des Landes, die irgendwann, weiß nicht, schon auch den inneren Frieden gefährden könnte? Wenn die Schere immer weiter in diesem Maße auseinanderklafft?

Hvorecky: Ja, da braucht man nicht mehr Konjunktiv zu nutzen, das ist schon heute der Fall, leider. Und da sehe ich auch wahrscheinlich die größte Gefahr der Slowakei. Es ist ein sehr kleines Land, wir haben nur 5,5 Millionen Einwohner, und man kann innerhalb von fünf Stunden ist man mit dem Auto an der östlichen Grenze mit der Ukraine. Doch was man schon 100 Kilometer von Bratislava entfernt sehen kann, Richtung Osten, ist wirklich Armut und eine sehr unterentwickelte Infrastruktur. Und bis heute lebt jeder zehnte Slowake unter Armutsgrenze, inklusive kleiner Kinder.

Und diese Unterschiede – also Bratislava und diese Westregion – des Landes als eine Art boomende Erste Welt und schon bisschen weiter ist eigentlich eine Dritte Welt, vor allem in den Roma-Siedlungen zum Beispiel. Oder ganz östlich an der Grenze mit der Ukraine, da gibt’s Arbeitslosigkeit bis zu 30 Prozent. Es gibt auch große Auswanderungen zum Beispiel aus diesen Teilen des Landes, weil die Leute sehen keine Perspektive für das Leben. Und vor allem die jüngere Generation, die gehen einfach alle weg.

König: Gibt es Bürger im Land, die sagen, das kann nicht so sein, wir müssen uns zumindest darüber verständigen, sei es, indem wir Zeitungsartikel schreiben, indem wir öffentliche Diskussionen durchführen, mit den Leuten reden, gibt es so eine, in Anführungsstrichen, "Gegenbewegung"?

Hvorecky: Auf jeden Fall das gibt’s, und man kann auch sagen sehr intensiv. Das ist, glaube ich, aber ähnlich zum Beispiel auch in Deutschland oder in Österreich. Die sozusagen sogenannten seriösen Medien oder Zeitungen, die sich ernsthaft mit dem Thema Armut in der Slowakei auseinandersetzen, sind nicht die populärsten Medien halt. Und der öffentliche Diskurs im Allgemeinen ist zum Beispiel gegenüber Roma nicht sehr positiv. Ich glaube, für viele Leute ist es ein sehr wichtiges Problem des Landes. Die Lösung findet man aber nicht in Tschechien, nicht in Österreich, bis jetzt auch nicht in der Slowakei.

König: In Europa?

Hvorecky: Ja, Europa hilft da schon heftig mit Geld aus EU, da gibt’s viele Entwicklungsprogramme. Es gibt auch viele persönliche oder regionale Erfolgsgeschichten mit Persönlichkeiten oder Dörfern, die es wirklich geschafft haben und jetzt besseres Leben haben, auch Jobs geschaffen haben. Und ich finde das auch, es ist wie jedes Land immer einfach unglaublich gefährlich, wenn es solche Unterschiede gibt, weil dann gibt’s Neid und Hass.

König: Sie haben gesagt, EU-Gelder seien schon durchaus geflossen in die Slowakei, gleichwohl ist die Europabegeisterung der Slowaken sehr gering. Die Wahlbeteiligung bei den letzten Europawahlen war in keinem EU-Land so niedrig wie in der Slowakei. Jetzt wird gemeldet, dass das Interesse weiter gesunken sei. Wie ist das zu erklären? Ist das Desinteresse, ist das Frust, dass man sich bewusst von Europa, von der EU ablehnt?

Hvorecky: Eigentlich schäme ich mich, das laut zu sagen, aber es ist wirklich so. Ich gehe zu der Wahl, das sage ich ganz offen und das sage ich auch zu Hause öffentlich mehrmals, wenn es nur geht. Das Problem ist, glaube ich, dass die Slowaken oder die Slowakei als Land, weil die haben auch viele Minderheiten, haben Europa jetzt gleich schon als was Selbstverständliches wahrgenommen, was gang und gäbe ist. Die sind jetzt gewöhnt, man kann frei reisen, man hat Euro sogar ab 1. Januar, wir müssen für nichts kämpfen, wenn es um Europa geht, wir sind ein Teil davon. Auf der anderen Seite – und das wundert mich auch – haben Slowaken großes Vertrauen ins Europaparlament. Über 60 Prozent vertrauen dem Parlament.

König: Das ist ja dann schon kurios, ja.

Hvorecky: Die Leute haben aber das Gefühl, sie selber können oder dürfen nichts ändern. Und wir erwarten wirklich nur wahrscheinlich 15 Prozent Wahlbeteiligung, was peinlich, überpeinlich wenig ist. Doch es gibt auch Chancen für die kleineren Parteien, das kann auch ein Überraschungsergebnis sein bei uns. Ich glaube, das braucht einfach Zeit, weil die andere Wahl, wir hatten auch jetzt Präsidentenwahl und da gab’s über 60 Prozent Wahlbeteiligung, weil es ging um unseren Präsidenten und ja, ich selber wähle sehr gerne und mich interessiert das auch sehr. Ich glaube, die Leute nehmen wahr, Slowakei bekommt 13 Parlamentarier, und das ist zu wenig, um was Ernsthaftes zu ändern, und deswegen gibt’s dieses Desinteresse.

König: Aber gibt es auch in der Slowakei schon ein Bewusstsein, "Wir sind Europäer!"?

Hvorecky: Ich glaube auf jeden Fall. Vielleicht wird das nicht so laut gesagt, weil ich glaube, vor allem auf dem Lande sieht man das schon sehr stark, da gibt’s auch Nationalismus, auch im guten und auch im schlechten Sinne. Es ist auch sehr anders in Bratislava, wo man halt so nah zu Fremdsprachen oder so nah zum Ausland einfach lebt.

Und der einfache Beweis dafür ist, wie viele Slowaken jetzt einfach selbstverständlich ins Ausland reisen und vor allem nach Europa. Wir haben jetzt Dutzendtausende Slowaken, die zum Beispiel in Dublin, in London leben und arbeiten. Einige kommen jetzt zurück wegen der Krise, aber immer noch ist es jetzt, wie gesagt, es ist so was Normales geworden, ein Europäer zu sein. Mal sehen, ich hoffe, es verbessert sich die Wahrnehmung.

König: Herr Hvorecky, ich danke Ihnen. In großer Armut großer Reichtum – die Slowakei vor der Europawahl. Ein Gespräch mit dem slowakischen Schriftsteller Michael Hvorecky. Morgen sprechen wir hier mit dem bulgarischen Autor Georgi Gospodinov, am Freitag mit dem ungarischen Schriftsteller György Dalos, jeweils 14:07 Uhr. Am Samstag dann in unserer Reihe "Radiofeuilleton – Im Gespräch" mit Hörern wird dann am 9:07 Uhr Eckart Stratenschulte zu Gast sein, der Leiter der Europäischen Akademie Berlin. Das Thema: So nah und doch so fern – Was bringt uns Europa?