"Es ist quälend"
Der Psychiater Ulrich Sachsse sieht auf Angehörige und Mitschüler der Opfer des Amoklaufs von Winnenden schwere Aufgaben zukommen. Es seien "eine Reihe von Aufgaben, denen sie sich nicht entziehen können, wenn sie nicht für den Rest ihres Lebens geschädigt bleiben wollen", sagte Sachsse.
Joachim Scholl: 16 Tote, 16 zerstörte Familien, und alle, die es miterlebt haben, werden nie vergessen können, was vorgestern in Winnenden passiert ist. Direkt nach der Tat helfen viele Psychologen und Therapeuten, Seelsorger. Aber was wird in einigen Monaten, in einigen Jahren sein? Wie verarbeiten Menschen auf lange Sicht dieses Trauma, das eine solche Gewalttat wie dieser Amoklauf erzeugt. In einem Studio in Göttingen begrüße ich nun den Psychiater Professor Ulrich Sachsse vom dortigen Asklepios Fachklinikum. Er ist einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Traumaforschung. Guten Morgen, Herr Sachsse!
Ulrich Sachsse: Guten Morgen, Herr Scholl!
Scholl: Was macht ein Mensch, der eine solche Extremsituation erlebt, durchlitten hat, in den nächsten Monaten, in den nächsten Jahren durch?
Sachsse: Es gibt eine Reihe von Aufgaben, die auf die Angehörigen, die Mitschüler, den Ort zukommen, eine Reihe von Aufgaben, denen sie sich nicht entziehen können, wenn sie nicht für den Rest ihres Lebens geschädigt bleiben wollen. Das Erste ist, dass dieses Ereignis in uns, in unserer Seele, in unserem Gehirn Bilder, Gerüche, Geräusche, Eindrücke hinterlässt, die für eine ganze Zeit lang so wirken, als ob das Ereignis vor fünf Minuten passiert wäre.
In uns wird durch ein solches Ereignis ein sehr wichtiges Überlebenswarnsystem aktiviert, die Psychologen sagen, wir werden sensibilisiert. Und alles, was an Reizen auf uns zukommt, was auch nur entfernt ähnlich ist dem, was da geschehen ist, ruft in uns eine Reaktion hervor, als seien wir wieder in Lebensgefahr.
Das ist überlebenswichtig, aber es ist quälend, weil die Menschen darauf sich einstellen müssen, für die nächsten Wochen in dieser Form dünnhäutig, reizbar zu sein, immer wieder an das Ereignis erinnert zu werden. Die nächste Aufgabe kommt nach etwa acht Wochen bis einem Vierteljahr.
Dann setzt sich die Trauer durch, die Verzweiflung, und da besteht die Gefahr, dass Menschen stehen bleiben, erstarren, versanden und depressiv werden. Die dritte Aufgabe ist, dass diese Menschen das Gefühl haben, in zwei Welten zu leben. Ihre eigene Welt hat aufgehört, und die Welt draußen geht weiter.
Das ist ein ganz merkwürdiges Gefühl von Doppelleben, so als ob alles vorbei wäre und gleichzeitig alles weitergeht – etwas, was im Allgemeinen ein bis zwei Jahre dauert. Und die vierte Aufgabe ist es dann, dass die betroffenen Familien und Angehörigen damit leben müssen, dass ihr Leben jetzt anders weitergeht. Das ist eine schwere Aufgabe für die Familien, denn die Form der Trauer kann sehr unterschiedlich sein, und die Auswirkungen auf das Familiensystem können sehr, sehr unterschiedlich sein.
Scholl: Nun gibt es viele unterschiedliche Gewaltsituationen. Ein Amoklauf ist eine besondere insofern, dass sie wie ein Blitzschlag erfolgt, ohne dass sich ein Gewitter zusammenzieht, um im Bild zu bleiben. Mit buchstäblich einem Schlag ändert sich alles. Was bedeutet diese Form von Plötzlichkeit, also aus heiterem Himmel, für das Opfer?
Sachsse: Das bedeutet, dass das Opfer eben völlig unvorbereitet überwältigt wird, aus heiterem Himmel. Das heißt, wir können nicht wie bei einem Kriegsereignis, was aufzieht, oder bei einem Erdbeben, was sich ankündigt, irgendwie unsere innere Abwehr stärken und hochfahren. Wir werden – umgangssprachlich – völlig kalt erwischt und sind deshalb besonders schutzlos.
Scholl: Aus der plötzlichen Gewalterfahrung wird dann aber ein Zustand, wie Sie ihn eben beschrieben haben?
Sachsse: Richtig.
Scholl: Wir fühlen uns in diesen Stunden mit ihnen verbunden, den Opfern und Angehörigen, das ist so der Standard-Betroffenheitssatz, den man nun auch wieder oftmals gehört hat. Das Mitgefühl mag ja authentisch sein, aber dann gehen die Jahre ins Land, und man lässt die Opfer mehr oder minder allein?
Sachsse: Nein. Das ist völlig anders heute als, sage ich mal, nach Ramstein, als die Bundesrepublik überhaupt nicht vorbereitet war, auch die Welt nicht vorbereitet war.
Scholl: Ramstein, dieses schreckliche Flugzeugunglück, als diese Düsenjäger ins Publikum rasten.
Sachsse: Ja. Damals musste alles erst aufgebaut werden. Heute gibt es ein Netz von Akutversorgung, aber auch ein sehr großes Netz von Menschen aus dem Bereich Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie, die sich eingearbeitet haben in die Behandlung von Menschen, die mit solchen Katastrophen konfrontiert sind.
Scholl: Gibt es eigentlich Untersuchungen inzwischen, die zeigen, wie das Leben dieser Opfer von Gewalttaten, also solcher Amokläufe weitergeht?
Sachsse: Auch das gibt es. Sowohl in den USA als auch in Deutschland hat man nach solchen Katastrophen, auch nach dem Zugunglück zum Beispiel in Eschede, hat man geschaut, was wird denn so die nächsten zwei, drei Jahre? Wie verläuft das Leben? Man muss leider damit rechnen, dass 15 bis 25 Prozent der Menschen durch ein solches Ereignis eine Veränderung in ihrem Leben erfahren, die ihren Lebensweg doch sehr beeinträchtigt, dass sie also über lange Zeit behandlungsbedürftig sind, dass sie vielleicht arbeitsunfähig werden, dass sie vielleicht erhebliche Beziehungsprobleme in ihren Partnerschaften bekommen. Alle arbeiten daran, dass diese Zahl sich reduziert, weniger wird. Aber das ist schon etwas, was Spuren hinterlassen wird, nicht nur bei den Einzelnen, sondern auch in der Gesellschaft.
Scholl: Wie bewältigen Menschen Gewalt? Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist der Psychiater und Traumaforscher Ulrich Sachsse. In Winnenden, Herr Sachsse, sind 16 Menschen gestorben. Für 16 Familien wird das Leben niemals mehr so sein wie früher, und viele andere, die die Tat in nächster Nähe erlebt haben, werden ebenfalls lange damit zu kämpfen haben.
Eine Familie jedoch trägt ein ganz besonderes Schicksal: die Angehörigen, die Eltern des Täters. Gewissermaßen sind sie auch Opfer der Tat ihres Verwandten, ihres Sohnes. Es schaudert einen ja bei der bloßen Vorstellung, in der Haut des Vaters, der Mutter zu stecken. Ich meine, das Mitgefühl ist natürlich ein gespaltenes, um es vorsichtig auszudrücken, aber wie lebt man da weiter?
Sachsse: Ich glaube, dass an dieser Stelle zwei Perspektiven auch wichtig sind. Das eine ist die Perspektive, sag ich mal, des Therapeuten, wie wäre dieser Familie zu helfen, das ist die eine. Die Zweite, das ist auch etwas für die Perspektive der Justiz.
Und ich habe das, was bisher von Juristen dazu gesagt worden ist, in den Medien so verstanden, dass es sich hier schon um eine Straftat handelt oder eine Ordnungswidrigkeit, die begangen worden ist. Aber dieser Fehler, den der Vater, den die Familie wahrscheinlich gemacht hat, steht ja in gar keinem Verhältnis zur Konsequenz.
Das ist so ähnlich wie bei Verkehrsunfällen oder wie bei Eisenbahnunfällen, wo irgendein kleiner Fehler, eine Kleinigkeit eine Auswirkung hat, die überhaupt nicht in Zusammenhang zu bringen ist. Ich habe heute mehrfach gelesen, das, was in dieser Familie ist, dass Waffen rumliegen und Munition rumliegt, das ist bei sicherlich nicht wenigen Familien aus Schützenvereinen immer mal wieder der Fall.
Ein Waffenexperte hat auch gesagt, gut, wenn nicht 14 Waffen rumgelegen hätten, sondern nur eine, hätte diese Tat natürlich auch passieren können. Und das ist das Drama dieser Familie. Sie hat einen Fehler gemacht, zweifelsfrei, es ist auch etwas, worum sich sicher die Justiz kümmern wird, aber sie ist auch Opfer dieser Tat, weil dieser Fehler zur Konsequenz in keinem Verhältnis steht.
Scholl: Aber Herr Sachsse, die Verantwortlichkeit ist die eine Sache. Die andere Frage ist ja wohl doch die längerfristige, das ist die Frage der Schuld. Eine Familie, die praktisch dann in dem Ort weiterlebt. Bei jedem Gang durch die Stadt, beim Einkaufen, bei jeder banalen Gelegenheit trifft man vielleicht jemand, dessen Tochter getötet wurde vom eigenen Sohn. Ich meine, dieses Schuldgefühl auf lange Sicht zu verarbeiten, das stelle ich mir ganz schwierig vor. Wie begleitet man denn solch einen Prozess therapeutisch?
Sachsse: Zum Beispiel, indem man eben mit den Menschen versucht zu erarbeiten, was ihre Schuld ist, auch sie dabei zu unterstützen, zu sagen, ja, das muss ich verantworten, aber das, was darüber hinausgeht, das ist nicht mehr meine Verantwortlichkeit. Welcher Lebensraum für diese Familie in Zukunft der richtige ist, da glaube ich, ist es viel zu früh, sich zu zu äußern. Aber ein Familientherapeut könnte sicher auch anregen, dass die Familie sich überlegt, dass es vielleicht einen anderen Lebensraum für sie gibt, der für sie selbst sinnvoller ist, aber auch dann für das Dorf und die Umgebung.
Scholl: Weiß man eigentlich, was aus den Eltern der Täter der Columbine High School geworden ist?
Sachsse: Das weiß ich nicht, also da kann ich mich nicht zu äußern, was aus denen geworden ist.
Scholl: Es ist bemerkenswert, wie anonym es eigentlich dann bleibt, gerade wenn es um die Angehörigen der Täter geht. Da wird wenig bekannt, da hält auch so ein Mechanismus der Diskretion oder des Schutzes, irgendwie wird aufrechterhalten.
Sachsse: Das finde ich auch sehr verantwortungsvoll. Die Medien haben einerseits die Aufgabe, die Angehörigen zu unterstützen, aber auch die Aufgabe, ein Thema – das wird ja jetzt auch deutlich mit Erfurt zum Beispiel – nicht immer wieder so lebendig zu erhalten, dass es den Betroffenen schwerfällt, es zu verarbeiten. Das ist eine Gratwanderung, da gibt es keine gute Lösung. Aber ich finde, dass die Medien gut daran tun, den Trauernden auch mit Diskretion zu begegnen.
Scholl: Aus Ihrer Erfahrung und der Bitte um eine kürzere Antwort, wir haben nicht mehr viel Zeit, Herr Sachsse: Werden jugendliche Opfer eigentlich besser damit fertig als Erwachsene, oder ist es für Jugendliche umgekehrt viel tragischer, weil sie noch weniger Schutzmechanismen haben?
Sachsse: Sowohl als auch, einige werden besser damit fertig, weil sie noch mitten in der Entwicklung stehen und noch flexibler sind. Andere werden dadurch ganz erheblich belastet in ihrer Entwicklung und kommen in eine noch stärkere Krise, als die Jugend sowieso schon ist.
Scholl: Gewalt und Trauma eines Amoklaufes – wie gehen die Opfer damit um auf lange Sicht? Das war der Psychotherapeut Ulrich Sachsse aus Göttingen. Herr Sachsse, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Sachsse: Bitte sehr, Herr Scholl.
Ulrich Sachsse: Guten Morgen, Herr Scholl!
Scholl: Was macht ein Mensch, der eine solche Extremsituation erlebt, durchlitten hat, in den nächsten Monaten, in den nächsten Jahren durch?
Sachsse: Es gibt eine Reihe von Aufgaben, die auf die Angehörigen, die Mitschüler, den Ort zukommen, eine Reihe von Aufgaben, denen sie sich nicht entziehen können, wenn sie nicht für den Rest ihres Lebens geschädigt bleiben wollen. Das Erste ist, dass dieses Ereignis in uns, in unserer Seele, in unserem Gehirn Bilder, Gerüche, Geräusche, Eindrücke hinterlässt, die für eine ganze Zeit lang so wirken, als ob das Ereignis vor fünf Minuten passiert wäre.
In uns wird durch ein solches Ereignis ein sehr wichtiges Überlebenswarnsystem aktiviert, die Psychologen sagen, wir werden sensibilisiert. Und alles, was an Reizen auf uns zukommt, was auch nur entfernt ähnlich ist dem, was da geschehen ist, ruft in uns eine Reaktion hervor, als seien wir wieder in Lebensgefahr.
Das ist überlebenswichtig, aber es ist quälend, weil die Menschen darauf sich einstellen müssen, für die nächsten Wochen in dieser Form dünnhäutig, reizbar zu sein, immer wieder an das Ereignis erinnert zu werden. Die nächste Aufgabe kommt nach etwa acht Wochen bis einem Vierteljahr.
Dann setzt sich die Trauer durch, die Verzweiflung, und da besteht die Gefahr, dass Menschen stehen bleiben, erstarren, versanden und depressiv werden. Die dritte Aufgabe ist, dass diese Menschen das Gefühl haben, in zwei Welten zu leben. Ihre eigene Welt hat aufgehört, und die Welt draußen geht weiter.
Das ist ein ganz merkwürdiges Gefühl von Doppelleben, so als ob alles vorbei wäre und gleichzeitig alles weitergeht – etwas, was im Allgemeinen ein bis zwei Jahre dauert. Und die vierte Aufgabe ist es dann, dass die betroffenen Familien und Angehörigen damit leben müssen, dass ihr Leben jetzt anders weitergeht. Das ist eine schwere Aufgabe für die Familien, denn die Form der Trauer kann sehr unterschiedlich sein, und die Auswirkungen auf das Familiensystem können sehr, sehr unterschiedlich sein.
Scholl: Nun gibt es viele unterschiedliche Gewaltsituationen. Ein Amoklauf ist eine besondere insofern, dass sie wie ein Blitzschlag erfolgt, ohne dass sich ein Gewitter zusammenzieht, um im Bild zu bleiben. Mit buchstäblich einem Schlag ändert sich alles. Was bedeutet diese Form von Plötzlichkeit, also aus heiterem Himmel, für das Opfer?
Sachsse: Das bedeutet, dass das Opfer eben völlig unvorbereitet überwältigt wird, aus heiterem Himmel. Das heißt, wir können nicht wie bei einem Kriegsereignis, was aufzieht, oder bei einem Erdbeben, was sich ankündigt, irgendwie unsere innere Abwehr stärken und hochfahren. Wir werden – umgangssprachlich – völlig kalt erwischt und sind deshalb besonders schutzlos.
Scholl: Aus der plötzlichen Gewalterfahrung wird dann aber ein Zustand, wie Sie ihn eben beschrieben haben?
Sachsse: Richtig.
Scholl: Wir fühlen uns in diesen Stunden mit ihnen verbunden, den Opfern und Angehörigen, das ist so der Standard-Betroffenheitssatz, den man nun auch wieder oftmals gehört hat. Das Mitgefühl mag ja authentisch sein, aber dann gehen die Jahre ins Land, und man lässt die Opfer mehr oder minder allein?
Sachsse: Nein. Das ist völlig anders heute als, sage ich mal, nach Ramstein, als die Bundesrepublik überhaupt nicht vorbereitet war, auch die Welt nicht vorbereitet war.
Scholl: Ramstein, dieses schreckliche Flugzeugunglück, als diese Düsenjäger ins Publikum rasten.
Sachsse: Ja. Damals musste alles erst aufgebaut werden. Heute gibt es ein Netz von Akutversorgung, aber auch ein sehr großes Netz von Menschen aus dem Bereich Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie, die sich eingearbeitet haben in die Behandlung von Menschen, die mit solchen Katastrophen konfrontiert sind.
Scholl: Gibt es eigentlich Untersuchungen inzwischen, die zeigen, wie das Leben dieser Opfer von Gewalttaten, also solcher Amokläufe weitergeht?
Sachsse: Auch das gibt es. Sowohl in den USA als auch in Deutschland hat man nach solchen Katastrophen, auch nach dem Zugunglück zum Beispiel in Eschede, hat man geschaut, was wird denn so die nächsten zwei, drei Jahre? Wie verläuft das Leben? Man muss leider damit rechnen, dass 15 bis 25 Prozent der Menschen durch ein solches Ereignis eine Veränderung in ihrem Leben erfahren, die ihren Lebensweg doch sehr beeinträchtigt, dass sie also über lange Zeit behandlungsbedürftig sind, dass sie vielleicht arbeitsunfähig werden, dass sie vielleicht erhebliche Beziehungsprobleme in ihren Partnerschaften bekommen. Alle arbeiten daran, dass diese Zahl sich reduziert, weniger wird. Aber das ist schon etwas, was Spuren hinterlassen wird, nicht nur bei den Einzelnen, sondern auch in der Gesellschaft.
Scholl: Wie bewältigen Menschen Gewalt? Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist der Psychiater und Traumaforscher Ulrich Sachsse. In Winnenden, Herr Sachsse, sind 16 Menschen gestorben. Für 16 Familien wird das Leben niemals mehr so sein wie früher, und viele andere, die die Tat in nächster Nähe erlebt haben, werden ebenfalls lange damit zu kämpfen haben.
Eine Familie jedoch trägt ein ganz besonderes Schicksal: die Angehörigen, die Eltern des Täters. Gewissermaßen sind sie auch Opfer der Tat ihres Verwandten, ihres Sohnes. Es schaudert einen ja bei der bloßen Vorstellung, in der Haut des Vaters, der Mutter zu stecken. Ich meine, das Mitgefühl ist natürlich ein gespaltenes, um es vorsichtig auszudrücken, aber wie lebt man da weiter?
Sachsse: Ich glaube, dass an dieser Stelle zwei Perspektiven auch wichtig sind. Das eine ist die Perspektive, sag ich mal, des Therapeuten, wie wäre dieser Familie zu helfen, das ist die eine. Die Zweite, das ist auch etwas für die Perspektive der Justiz.
Und ich habe das, was bisher von Juristen dazu gesagt worden ist, in den Medien so verstanden, dass es sich hier schon um eine Straftat handelt oder eine Ordnungswidrigkeit, die begangen worden ist. Aber dieser Fehler, den der Vater, den die Familie wahrscheinlich gemacht hat, steht ja in gar keinem Verhältnis zur Konsequenz.
Das ist so ähnlich wie bei Verkehrsunfällen oder wie bei Eisenbahnunfällen, wo irgendein kleiner Fehler, eine Kleinigkeit eine Auswirkung hat, die überhaupt nicht in Zusammenhang zu bringen ist. Ich habe heute mehrfach gelesen, das, was in dieser Familie ist, dass Waffen rumliegen und Munition rumliegt, das ist bei sicherlich nicht wenigen Familien aus Schützenvereinen immer mal wieder der Fall.
Ein Waffenexperte hat auch gesagt, gut, wenn nicht 14 Waffen rumgelegen hätten, sondern nur eine, hätte diese Tat natürlich auch passieren können. Und das ist das Drama dieser Familie. Sie hat einen Fehler gemacht, zweifelsfrei, es ist auch etwas, worum sich sicher die Justiz kümmern wird, aber sie ist auch Opfer dieser Tat, weil dieser Fehler zur Konsequenz in keinem Verhältnis steht.
Scholl: Aber Herr Sachsse, die Verantwortlichkeit ist die eine Sache. Die andere Frage ist ja wohl doch die längerfristige, das ist die Frage der Schuld. Eine Familie, die praktisch dann in dem Ort weiterlebt. Bei jedem Gang durch die Stadt, beim Einkaufen, bei jeder banalen Gelegenheit trifft man vielleicht jemand, dessen Tochter getötet wurde vom eigenen Sohn. Ich meine, dieses Schuldgefühl auf lange Sicht zu verarbeiten, das stelle ich mir ganz schwierig vor. Wie begleitet man denn solch einen Prozess therapeutisch?
Sachsse: Zum Beispiel, indem man eben mit den Menschen versucht zu erarbeiten, was ihre Schuld ist, auch sie dabei zu unterstützen, zu sagen, ja, das muss ich verantworten, aber das, was darüber hinausgeht, das ist nicht mehr meine Verantwortlichkeit. Welcher Lebensraum für diese Familie in Zukunft der richtige ist, da glaube ich, ist es viel zu früh, sich zu zu äußern. Aber ein Familientherapeut könnte sicher auch anregen, dass die Familie sich überlegt, dass es vielleicht einen anderen Lebensraum für sie gibt, der für sie selbst sinnvoller ist, aber auch dann für das Dorf und die Umgebung.
Scholl: Weiß man eigentlich, was aus den Eltern der Täter der Columbine High School geworden ist?
Sachsse: Das weiß ich nicht, also da kann ich mich nicht zu äußern, was aus denen geworden ist.
Scholl: Es ist bemerkenswert, wie anonym es eigentlich dann bleibt, gerade wenn es um die Angehörigen der Täter geht. Da wird wenig bekannt, da hält auch so ein Mechanismus der Diskretion oder des Schutzes, irgendwie wird aufrechterhalten.
Sachsse: Das finde ich auch sehr verantwortungsvoll. Die Medien haben einerseits die Aufgabe, die Angehörigen zu unterstützen, aber auch die Aufgabe, ein Thema – das wird ja jetzt auch deutlich mit Erfurt zum Beispiel – nicht immer wieder so lebendig zu erhalten, dass es den Betroffenen schwerfällt, es zu verarbeiten. Das ist eine Gratwanderung, da gibt es keine gute Lösung. Aber ich finde, dass die Medien gut daran tun, den Trauernden auch mit Diskretion zu begegnen.
Scholl: Aus Ihrer Erfahrung und der Bitte um eine kürzere Antwort, wir haben nicht mehr viel Zeit, Herr Sachsse: Werden jugendliche Opfer eigentlich besser damit fertig als Erwachsene, oder ist es für Jugendliche umgekehrt viel tragischer, weil sie noch weniger Schutzmechanismen haben?
Sachsse: Sowohl als auch, einige werden besser damit fertig, weil sie noch mitten in der Entwicklung stehen und noch flexibler sind. Andere werden dadurch ganz erheblich belastet in ihrer Entwicklung und kommen in eine noch stärkere Krise, als die Jugend sowieso schon ist.
Scholl: Gewalt und Trauma eines Amoklaufes – wie gehen die Opfer damit um auf lange Sicht? Das war der Psychotherapeut Ulrich Sachsse aus Göttingen. Herr Sachsse, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Sachsse: Bitte sehr, Herr Scholl.