"Es ist nicht so, dass die stärkste Fraktion automatisch den Bundeskanzler stellt"
Der ehemalige Ministerpräsident Niedersachsens, Sigmar Gabriel, hat angesichts der Mehrheitsverhältnisse im neu gewählten Bundestag erklärt, dass die Sozialdemokraten "selbstbewusst" in Koalitionsverhandlungen hineingehen wollen. Die SPD sei die stärkste Partei im Parlament, erklärte Gabriel.
Deutschlandradio Kultur: Herr Gabriel, es war eine Wahl-Schlappe für Rot-Grün am vergangenen Wahl-Sonntag. Passt dazu die Siegerpose, die der amtierende Bundeskanzler einnimmt?
Gabriel: Sie werden von mir immer nur die gleiche Antwort hören: Die Wahlniederlage hat Frau Merkel kassiert. Sie ist mal vor ein paar Monaten bei 48 Prozent gehandelt worden und ist bei 35 rausgekommen. Die haben vor der Wahl schon die Ministerposten verteilt. Und dass die Sozialdemokraten froh sind, dass gegen sie nicht regiert werden kann, das muss sie nun schon akzeptieren.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem ist natürlich der geneigte Zuhörer oder Zuschauer ein wenig verwundert, wenn er sich die Winkelzüge anguckt, mit denen man jetzt begründen will, warum Schröder derjenige ist, der den Regierungsauftrag bekommen soll.
Gabriel: Dann erklären Sie mir mal die Winkelzüge.
Deutschlandradio Kultur: Indem er zum Beispiel eine Fraktion CDU/CSU, eine Fraktionsgemeinschaft, die seit gewissermaßen 298 Jahren so existiert, versucht auseinander zu dividieren.
Gabriel: So alt sind die Jungs nicht bei der CDU/CSU. Die SPD ist mit 142 Jahren die älteste Partei. Im Ernst - ich weiß nicht, ob Sie die Geschäftsordnungsdebatte meinen. Die ist ja vom Tisch. Ich glaube, es kann nicht darum gehen, den Fraktionsstatus von CDU/CSU in Frage zu stellen. Ich bin sehr froh, dass Franz Müntefering diese Idee von zwei Kollegen im Deutschen Bundestag sofort vom Tisch genommen hat. Es geht um etwas anderes. Die CSU bekommt in den öffentlich-rechtlichen Rundfunksendern vor bundesweiten Wahlen eigene Sendezeiten, weil sie eine eigene Partei ist. Die CSU bekommt eigene Spendenmöglichkeiten, eigene Finanzierungen, weil sie eine eigene Partei ist. Herr Stoiber weist immer darauf hin, dass er eine eigenständige Partei ist. Also immer dann, wenn es gilt, Geld oder Sendezeiten zu bekommen, dann ist die CSU eine eigene Partei, aber wenn es um die Frage geht, wer ist die stärkste Partei im Deutschen Bundestag, dann ist sie auf einmal nicht mehr eigenständig, dann wird CDU und CSU zusammengezählt. Das ist nicht so. Die stärkste Partei im Deutschen Bundestag ist die SPD und deswegen gehen wir auch selbstbewusst in Koalitionsverhandlungen hinein. Dass wir am Ende eine Koalition schließen müssen, dass die alte nicht geht, das errechnet sich schnell. Aber dass man von uns jetzt will, dass wir uns sozusagen verstecken, uns sagt, "ihr seid die zweitstärkste Partei im Deutschen Bundestag", das stimmt einfach nicht.
Deutschlandradio Kultur: Solche Überlegung hat man doch vorher auch niemals herangezogen.
Gabriel: Also erstmal geht es bei der Fraktion immer um die Frage, wer den Bundestagspräsidenten stellt. Das wird auch der Union keiner streitig machen. Es ist aber nicht so, dass die stärkste Fraktion automatisch den Bundeskanzler stellt. Die Automatik, die sich da ergibt, die sehe ich nicht und mit solchen, sagen wir mal "rechnerischen Methoden", werden wir die Probleme nicht lösen. Wirr werden uns unserer Verantwortung bewusst sein müssen, dass wir die größte Wirtschaftsnation Europas, eines der wichtigen Länder der Erde sind, und dass wir dafür eine stabile Regierung brauchen. Dafür werden wir aufeinander zugehen müssen, und zwar alle miteinander.
Deutschlandradio Kultur: Nach dem Motto "wer sich zuerst bewegt, hat verloren"?
Gabriel: Wenn Sie zu Hause richtig Krach in der Familie haben, dann werden Sie manchmal auch merken, dass es ein paar Tage braucht, bis Sie sich da wieder zusammenraufen, und so ist das zurzeit auch. Das sind jetzt Verhandlungen, wo es um ganz viel geht, und eines können Sie von uns nicht verlangen: Dass wir feststellen, die andere Seite hat für ihr neo-liberales Politikkonzept keine Mehrheit, aber die trotzdem so "mir nix, dir nix" sagen, "komm’, wir machen mit euch ne Regierung".
Deutschlandradio Kultur: Aber auch beim übelsten Familienstreit ist hinterher nicht die Diskussion, wer Familienoberhaupt ist. Und das ist ja das, was im Moment wirklich das größte Problem zu sein scheint, wer dann in der "Regierungsfamilie", in der Koalition das Oberhaupt sein wird.
Gabriel: Ich hoffe, dass es gleichberechtigte Familien gibt, wo das keine Familienoberhäupter mehr gibt. Ihr Familienmodell ist nicht meins.
Deutschlandradio Kultur: Es wird keine große Koalition geben können, wagen wir einfach zu behaupten, in der ein Schröder Regierungschef sein wird.
Gabriel: "Schauen wir mal", sagt Beckenbauer.
Deutschlandradio Kultur: Und wenn das nichts wird, dann läuft es halt doch auf Neuwahlen hinaus?
Gabriel: Also Neuwahlen ist das Dümmste, was wir machen können. Wir können nicht in Deutschland so lange wählen, bis wir ein Ergebnis haben, mit dem die Politiker klar kommen, sondern wir werden ernsthaft miteinander verhandeln müssen. Ob Sie Recht haben oder nicht, das wird sich rausstellen. Wissen Sie, ich spiele den Ball jetzt wirklich mal bewusst zurück. Sie haben monatelang - 'sie' klein geschrieben - in den Medien versucht der Öffentlichkeit zu erklären, wie die Welt nach der Bundestagswahl aussehen wird. Ihre ganzen Prognosen sind nicht eingetroffen - 'ihre' wieder klein geschrieben. Und nun müssen Sie schon mal gestatten, dass jetzt der Deutsche Bundestag am Zug ist. Da entscheiden jetzt andere als Medienvertreter über die Frage, wie eine Regierung gebildet wird und da haben wir bestimmte Verhandlungspositionen, mit den wir da reingehen und die können sie noch dreimal öffentlich in Frage stellen, wir machen es trotzdem so, wie wir glauben’, dass wir angemessen in Verhandlungen gehen müssen. Was am Ende bei Verhandlungen rauskommt, weiß man in der Regel nicht, wenn man reingeht. Sonst brauchen wir nicht verhandeln. Und deswegen müssen Sie gestatten, wenn Sie sagen, es wird am Ende keine große Koalition mit Gerhard Schröder als Kanzler geben, da kenne ich ganz andere Optionen. Da wollen wir uns mal angucken, was jetzt passiert.
Deutschlandradio Kultur: Sie zählten zu denen, Herr Gabriel, die vor der Wahl schon sagten, "man muss sich eigentlich alle Optionen offen halten", was die künftige Regierungsbildung betrifft. Welche wäre Ihnen denn jetzt die liebste?
Gabriel: Eine mit Gerhard Schröder als Kanzler und einem Politikkonzept, bei dem wir nicht sozusagen freies Spiel der Kräfte zulassen, sondern darauf achten, dass in Deutschland nicht das Motto gilt "jeder ist seines Glückes Schmied", weil wir wissen, dass nicht jeder Schmied Glück hat. Darum glaube ich, geht es.
Deutschlandradio Kultur: Das war die Metaphysik, nun aber gibt es Zahlen von Koalitionsstärken im Bundestag. Wie soll das praktisch funktionieren?
Gabriel: Indem man eine Koalitionsvereinbarung schließt. Was sonst?
Deutschlandradio Kultur: Aber welches ist Ihre Präferenz?
Gabriel: Wofür ich eine Präferenz habe ist jetzt die Frage, wer die Regierung leiten soll und welche Inhalte darin sein sollen und das verhandeln wir jetzt.
Deutschlandradio Kultur: Es ist schlechterdings zum Beispiel schwer nachvollziehbar, warum Sie die FDP nicht verstehen - wie Sie gesagt haben - dass sie nicht in eine Ampelkoalition geht. Die FDP kann doch schlicht und ergreifend nicht sozusagen gegen ihre eigenen Wähler eine Rot-Grüne Regierung unterstützen.
Gabriel: Ich glaube dass es einen Auftrag gibt, der Wählerinnen und Wähler, eine liberale Beteiligung in der deutschen Politik sicherzustellen. Die haben relativ stark dazu gewonnen.
Deutschlandradio Kultur: Und zwar hauptsächlich von Wählern, die angeben, in ihrer ersten Präferenz eigentlich CDU/CSU-Wähler zu sein - 41 Prozent haben das gesagt.
Gabriel: Also wenn die Menschen nicht CDU/CSU gewählt haben, sondern FDP, dann werden die dafür einen Grund haben. Und der Grund wird sein, dass sie wollen, dass die FDP in der Politik stärker eine Rolle spielen kann. Es muss die FDP entscheiden, ob sie diesen Wählern eher gut tut, wenn sie sagt, "ich bin Zuschauer in der Politik". Da ist sozusagen Herr Westerwelle mit Lafontaine auf der gleichen Ebene. Das müssen die wissen, ob er sich genau so verhalten will wie Lafontaine, oder ob sie sagen, "wir haben eine so neue Situation in Deutschland, dass wir in diesen Fragen auch über unseren Schatten springen müssen und müssen überlegen, wie kriegen wir eine stabile Regierungsmehrheit".
Deutschlandradio Kultur: Wenn man sich jetzt die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag anschaut, Herr Gabriel, da fällt doch auf, es gibt ja zumindest eine Mehrheit, nämlich eine linke aus SPD - rechnerisch gesehen - und den Bündnisgrünen und der Links-Partei, die jetzt in doch veritabler Fraktionsstärke einzieht. War es eigentlich ein Fehler, die zur Links-Partei mutierten PDS-Leute kategorisch von jeder Mitwirkung auszuschließen, jede Form von Zusammenarbeit auszuschließen, wenn man doch auf Landesebene in Berlin, in Mecklenburg-Vorpommern eigentlich ganz erfolgreiche Arbeit leistet?
Gabriel: Also erstens haben die das selbst getan. Bevor wir überhaupt etwas sagen mussten, haben Gysi und Lafontaine öffentlich erklärt, sie wollen nicht regieren. Bei der SPD gibt es nun einen weiteren Grund: Sie können den Sozialdemokraten nicht zumuten, mit jemandem gemeinsame Politik zu betreiben, der erstens, schon mal aus einer gemeinsamen Politik geflüchtet ist und zweitens, dessen eigentliche Ziel es ist, die SPD zu spalten. Da werden Sie doch nicht von uns verlangen können, dass wir mit dem sozusagen gegen unsere eigenen Interessen arbeiten. Deswegen wird es das nicht geben. Allerdings ist - insofern haben Sie Recht - es interessant, dass zwar keine Gestaltungsmehrheit ist, die da existiert aber eine Mehrheit, die jedenfalls kein neoliberales Politikkonzept will. Das ist die Mehrheit sozusagen ‚links der Mitte’. Insofern werden wir bei den Koalitionsverhandlungen mit der CDU, aber auch mit der FDP und den Grünen darauf zu achten haben, dass sich dieser Wählerwunsch in der Koalition und in der zukünftigen Regierungsarbeit wieder findet.
Deutschlandradio Kultur: Das scheint uns denn doch in einer möglichen großen Koalition am ehesten möglich, denn wenn man sich die thematischen Schwerpunkte und die Ansprüche und das, was in den Wahlprogrammen formuliert wurde, nebeneinander liegt, gibt es da eigentlich wirklich mehr Schnittmengen als Trennendes.
Gabriel: Da haben Sie Recht. Wenn man sich das anschaut, ist das so. Allerdings bei der CDU müssen wir eben sagen, wenn Sie gucken, was Merkel und Kirchhoff und Merz da so vor hatten, das hat mit der alten CDU, die ja einen Arbeitnehmerflügel hatte, die, sagen wir mal, für sozialen Ausgleich versucht hat einzutreten, Katholische Arbeitnehmerbewegung, auch wenig zu tun. Und ich will auch die Probleme nicht klein reden. Ich glaube nur, dass es wirklich darauf ankommt, dass mit großem Verantwortungsbewusstsein für die weitere Entwicklung unseres Landes zu tun. Und dafür brauchen wir ein paar Tage länger als das sozusagen im "Hoppla-Hopp-Verfahren" geht.
Deutschlandradio Kultur: Wäre für Sie denn - etwas kühn gedacht - eine große Koalition ohne die jetzigen Spitzenkandidaten vorstellbar?
Gabriel: Ja, Sie werden verstehen, dass mich diese Frage völlig "überrascht". Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir weiter dabei bleiben werden, dass wir wollen, dass Gerd Schröder diese Regierung führt.
Deutschlandradio Kultur: Dann fragen wir anders. Sagen wir mal, das passiert jetzt. Wir bekommen eine neue Bundesregierung - welcher Couleur auch immer und "natürlich" ist Gerhard Schröder der Regierungschef. Und nun haben wir 2009 und wir werden, das werden Sie ja zumindest konzedieren, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dann eine Post-Schröder-SPD aufzustellen haben. Wie kann die aussehen? Erst ab 2009, selbstverständlich?
Gabriel: Ich will mal vorweg sagen, wie immer die Koalition aussieht: Wenn man reingeht, muss man ihren Erfolg wollen. Was man nicht machen darf ist, dort hineinzugehen und dann sozusagen immer ein bisschen mit dem Gedanken spielen, "jetzt lassen wir das Ding mal platzen". Diese berühmten "israelischen" Lösungen laufen ja immer darauf hinaus.
Deutschlandradio Kultur: Also das man in einer Großen Koalition die Regierungschefs in der Mitte der Legislaturperiode wechselt.
Gabriel: Da haben die Israelis dann immer nach zwei Jahren Neuwahlen gemacht und haben die Koalition vor die Wand gefahren - nicht immer aber gelegentlich. So was darf man nicht machen. Sondern man muss dann seriös sagen ‚wir wollen jetzt den Erfolg und wir wollen uns nach Möglichkeit in vier Jahren messen lassen, wer welchen Anteil an diesem Erfolg hatte. Aber zurück zu der Frage, wie geht es weiter mit der Partei: Ich glaube, dass die SPD in einem solchen Prozess einer wirklich ernsthaften Regierungsarbeit, die nicht darauf aus ist, die Koalition gleich wieder kaputt zu machen, sich natürlich auch wird neu positionieren müssen. Ich glaube, zwei Dinge sind ein wirklich gutes Ergebnis dieser Wahl als Voraussetzung für diesen Prozess. Erstens, ich habe die SPD lange nicht so geschlossen erlebt wie in diesem Wahlkampf. Zweitens, das war eine inhaltliche Geschlossenheit. die bedeutet, dass wir sozusagen hinter Schröder zurück nicht mehr gehen werden. Es wird keinen Zurücksprung in die 70er Jahre geben, wo wir wieder sagen, nur noch Verteilung, nicht mehr die Frage stellen, wie entsteht eigentlich der Kuchen, den wir hinterher verteilen wollen. Und da wird die SPD den Prozess, den sie ja vor den Neuwahlen begonnen hatte - wir haben ja vorbereitet ein neues Grundsatzprogramm - das wird sie engagiert weiter betreiben.
Deutschlandradio Kultur: Aber es ist natürlich trotzdem das Dilemma, dass die SPD zwischen der Agenda 2010 ff - also dem, was man da noch weitertreiben muss - und dem Zwang, die Linke wieder einfangen zu müssen, wenn sie doch noch mal wieder an die 40 Prozent rankommen wollen in ihrem Parteileben, eingeklemmt ist.
Gabriel: Ich glaube, dass das eine spannende Herausforderung ist, die man annehmen muss. Ich finde das gar nicht so gefährlich. Es ist klar zu machen, dass wir eine fortschrittliche Politik wollen, die versucht, wirtschaftlichen Fortschritt und sozialen Fortschritt wieder zueinander zu bekommen. Es ist der historische Auftrag von Sozialdemokratie, dafür zu sorgen, dass die Ergebnisse des wirtschaftlichen Fortschritts nicht nur wenigen Menschen zugute kommen, sondern möglichst vielen, möglichst allen sogar. Dass das nicht mit den Methoden der 70er und 60er Jahre funktioniert, sondern dass man dafür zum Beispiel stärker internationale Spielregeln braucht, dass Wettbewerb etwas ist, was dazu führen kann, dass Gerechtigkeit existiert, dass es nichts Schlimmes ist, dass es nicht darum geht, ob alles der Staat oder man alles privat macht, sondern dass man das entscheiden muss, wo die jeweils besten Ergebnisse dabei herauskommen - das sind Dinge, wo die SPD sich, finde ich, absetzen kann von denen, die den Menschen einen einfachen Weg zurück in die Vergangenheit versprechen. Und wenn wir damit Erfolg haben, dann werden wir auf diesem Wege diese Links-Partei überflüssig machen können. Wir müssen uns mehr darum bemühen, Zugang zu den unterschiedlichen Erfahrungen von Menschen aller Alters- und aller sozialer Gruppen zu haben, um die bei uns aufzunehmen. Ob die jetzt alle wieder Mitglied werden, will ich bezweifeln. Aber wir müssen uns sozusagen auf dem Weg dahin wieder anders organisieren und öffnen. Nur dann werden wir mehr wissen und mehr lernen und vielleicht dann auch in der Folge weniger Fehler bei unseren Entscheidungen machen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja dabei, sich ein neues Parteiprogramm zu geben - auch wenn dieser Prozess im Moment unterbrochen ist. Welche programmatischen Folgen sollte all das, was Sie uns gerade erläutert haben, eigentlich für die SPD haben?
Gabriel: Ich kann nur zwei Bereiche nennen, wo ich glaube, dass wir uns wesentlich intensiver Gedanken machen müssen. Das Erste ist: Was tun wir eigentlich um sozusagen der klassischen Gruppe der Leistungsträger in unserer Gesellschaft - und das sind eben nicht nur die Manager, sondern die Facharbeiter, die Gesellen, die Handwerksmeister, die selbständigen Unternehmer, die mit den mittleren und unterdurchschnittlichen Einkommen - was können wir eigentlich dafür tun, dass sich bei denen Arbeit und Leistung wieder lohnt und die den Eindruck haben, dass das, was wir hier machen, auch dazu führt, dass sie gut klarkommen in diesem Land. Das Zweite ist: welche internationalen Bedingungen brauchen wir, damit soziale Marktwirtschaft nicht irgendwie so ein Begriff aus dem letzten Jahrhundert ist. Ich kann einfach nicht akzeptieren, dass wir keinerlei Spielregeln dafür haben, dass einer, der hier seine Bude zu macht und sie in Tschechien neu aufmacht, dafür Zuschüsse aus Brüssel kriegt. Das ist irre. Wenn der in Tschechien zusätzliche Arbeitsplätze schafft, dann finde ich, ist das in Ordnung. Aber wenn er nur die hier vernichtet und dort neue macht, warum denn dafür öffentliche Gelder geben? Ist mir völlig schleierhaft. Und das Zweite ist zu gucken, dass wir die echten Leistungsträger bei uns mal wieder stärker in den Blick nehmen, die sich bei uns, glaube ich, sehr vernachlässigt fühlen.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie konkrete Ideen, Mindestlohn beispielsweise?
Gabriel: Mindestlohn ist ein Thema. Es geht um die Frage, wie gehen wir mit denen um, die früher in der Industrie Jobs gefunden haben, die alle keine schönen Jobs waren aber gut bezahlt, weil die Produktivität hoch war. Diese Jobs sind alle weg, kommen auch nicht wieder. Im Dienstleistungssektor gibt es neue Möglichkeiten, aber die Produktivität dort ist so niedrig, dass sie drei Jobs brauchen, um ihren Lebensunterhalt bezahlen zu können. Welche Perspektive bieten wir denen? Zum Beispiel etwa Modelle einer der negativen Einkommensteuer, wie wir sie in Großbritannien kennen.
Sigmar Gabriel wurde am 12. Sept. 1959 in Goslar geboren. Als Jugendlicher engagierte sich G. bei der SPD-nahen Jugendorganisation "Die Falken", deren Landesvorsitzender er schließlich wurde. Nach der Realschule und dem Gymnasium in Goslar (Abitur 1979) leistete G. einen zweijährigen Bundeswehrdienst ab. 1982 nahm er an der Universität Göttingen ein Lehramtsstudium für Gymnasien in den Fächern Deutsch, Politik und Soziologie auf, das er mit den entsprechenden Staatsexamen 1987 und 1989) abschloss. Bereits während des Studiums war G. ab 1983 als Dozent in der politischen und beruflichen Erwachsenenbildung tätig. Nach der Referendarzeit war er 1989-1990 beim Bildungswerk der Niedersächsischen Volkshochschule in Goslar als Lehrer in den Fächern Deutsch und Gemeinschaftskunde beschäftigt. Seit 1977 Mitglied der SPD, gewann G. bei der niedersächsischen Landtagswahl 1990 das Direktmandat in Goslar, wurde 1991 ferner Ratsherr der Stadt Goslar. 1994-1997 war er innenpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion und wurde 1997 zum stellv. Fraktionsvorsitzenden gewählt. Im März 1998, nach der für die SPD erneut siegreichen Landtagswahl (47,9 % der Stimmen), übernahm er den Vorsitz der SPD-Fraktion, unter Ministerpräsident Gerhard Schröder. Als Schröder mit dem glanzvollen Wahlsieg in Niedersachsen im Rücken schnell zum SPD-Kanzlerkandidaten avancierte und nach dem Wahlsieg der SPD (40,9 %) bei der Bundestagswahl vom 27. Sept. 1998 Bundeskanzler wurde, wählte der Niedersächsische Landtag am erwartungsgemäß den bisherigen Innenminister Glogowski zum neuen Ministerpräsidenten. Als dieser nach nur 13 Monaten im Amt am 26. Nov. 1999 als Ministerpräsident zurücktrat, wurde G. am Tag darauf von der Landtagsfraktion zum Nachfolger bestimmt. Im Landtagswahlkampf 2003 verlor Rot-Grün die Mehrheit an die CDU und die FDP. G. wurde Faktionsvorsitzender. 28. Juni 2005 löst der SPD-Landesvorsitzende Jüttner G. an der Spitze der Fraktion ab, da G. für den Bundestag kandidiert. Er erhält ein Direktmandat. G. gehört dem SPD-Bundesvorstand an.
Gabriel: Sie werden von mir immer nur die gleiche Antwort hören: Die Wahlniederlage hat Frau Merkel kassiert. Sie ist mal vor ein paar Monaten bei 48 Prozent gehandelt worden und ist bei 35 rausgekommen. Die haben vor der Wahl schon die Ministerposten verteilt. Und dass die Sozialdemokraten froh sind, dass gegen sie nicht regiert werden kann, das muss sie nun schon akzeptieren.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem ist natürlich der geneigte Zuhörer oder Zuschauer ein wenig verwundert, wenn er sich die Winkelzüge anguckt, mit denen man jetzt begründen will, warum Schröder derjenige ist, der den Regierungsauftrag bekommen soll.
Gabriel: Dann erklären Sie mir mal die Winkelzüge.
Deutschlandradio Kultur: Indem er zum Beispiel eine Fraktion CDU/CSU, eine Fraktionsgemeinschaft, die seit gewissermaßen 298 Jahren so existiert, versucht auseinander zu dividieren.
Gabriel: So alt sind die Jungs nicht bei der CDU/CSU. Die SPD ist mit 142 Jahren die älteste Partei. Im Ernst - ich weiß nicht, ob Sie die Geschäftsordnungsdebatte meinen. Die ist ja vom Tisch. Ich glaube, es kann nicht darum gehen, den Fraktionsstatus von CDU/CSU in Frage zu stellen. Ich bin sehr froh, dass Franz Müntefering diese Idee von zwei Kollegen im Deutschen Bundestag sofort vom Tisch genommen hat. Es geht um etwas anderes. Die CSU bekommt in den öffentlich-rechtlichen Rundfunksendern vor bundesweiten Wahlen eigene Sendezeiten, weil sie eine eigene Partei ist. Die CSU bekommt eigene Spendenmöglichkeiten, eigene Finanzierungen, weil sie eine eigene Partei ist. Herr Stoiber weist immer darauf hin, dass er eine eigenständige Partei ist. Also immer dann, wenn es gilt, Geld oder Sendezeiten zu bekommen, dann ist die CSU eine eigene Partei, aber wenn es um die Frage geht, wer ist die stärkste Partei im Deutschen Bundestag, dann ist sie auf einmal nicht mehr eigenständig, dann wird CDU und CSU zusammengezählt. Das ist nicht so. Die stärkste Partei im Deutschen Bundestag ist die SPD und deswegen gehen wir auch selbstbewusst in Koalitionsverhandlungen hinein. Dass wir am Ende eine Koalition schließen müssen, dass die alte nicht geht, das errechnet sich schnell. Aber dass man von uns jetzt will, dass wir uns sozusagen verstecken, uns sagt, "ihr seid die zweitstärkste Partei im Deutschen Bundestag", das stimmt einfach nicht.
Deutschlandradio Kultur: Solche Überlegung hat man doch vorher auch niemals herangezogen.
Gabriel: Also erstmal geht es bei der Fraktion immer um die Frage, wer den Bundestagspräsidenten stellt. Das wird auch der Union keiner streitig machen. Es ist aber nicht so, dass die stärkste Fraktion automatisch den Bundeskanzler stellt. Die Automatik, die sich da ergibt, die sehe ich nicht und mit solchen, sagen wir mal "rechnerischen Methoden", werden wir die Probleme nicht lösen. Wirr werden uns unserer Verantwortung bewusst sein müssen, dass wir die größte Wirtschaftsnation Europas, eines der wichtigen Länder der Erde sind, und dass wir dafür eine stabile Regierung brauchen. Dafür werden wir aufeinander zugehen müssen, und zwar alle miteinander.
Deutschlandradio Kultur: Nach dem Motto "wer sich zuerst bewegt, hat verloren"?
Gabriel: Wenn Sie zu Hause richtig Krach in der Familie haben, dann werden Sie manchmal auch merken, dass es ein paar Tage braucht, bis Sie sich da wieder zusammenraufen, und so ist das zurzeit auch. Das sind jetzt Verhandlungen, wo es um ganz viel geht, und eines können Sie von uns nicht verlangen: Dass wir feststellen, die andere Seite hat für ihr neo-liberales Politikkonzept keine Mehrheit, aber die trotzdem so "mir nix, dir nix" sagen, "komm’, wir machen mit euch ne Regierung".
Deutschlandradio Kultur: Aber auch beim übelsten Familienstreit ist hinterher nicht die Diskussion, wer Familienoberhaupt ist. Und das ist ja das, was im Moment wirklich das größte Problem zu sein scheint, wer dann in der "Regierungsfamilie", in der Koalition das Oberhaupt sein wird.
Gabriel: Ich hoffe, dass es gleichberechtigte Familien gibt, wo das keine Familienoberhäupter mehr gibt. Ihr Familienmodell ist nicht meins.
Deutschlandradio Kultur: Es wird keine große Koalition geben können, wagen wir einfach zu behaupten, in der ein Schröder Regierungschef sein wird.
Gabriel: "Schauen wir mal", sagt Beckenbauer.
Deutschlandradio Kultur: Und wenn das nichts wird, dann läuft es halt doch auf Neuwahlen hinaus?
Gabriel: Also Neuwahlen ist das Dümmste, was wir machen können. Wir können nicht in Deutschland so lange wählen, bis wir ein Ergebnis haben, mit dem die Politiker klar kommen, sondern wir werden ernsthaft miteinander verhandeln müssen. Ob Sie Recht haben oder nicht, das wird sich rausstellen. Wissen Sie, ich spiele den Ball jetzt wirklich mal bewusst zurück. Sie haben monatelang - 'sie' klein geschrieben - in den Medien versucht der Öffentlichkeit zu erklären, wie die Welt nach der Bundestagswahl aussehen wird. Ihre ganzen Prognosen sind nicht eingetroffen - 'ihre' wieder klein geschrieben. Und nun müssen Sie schon mal gestatten, dass jetzt der Deutsche Bundestag am Zug ist. Da entscheiden jetzt andere als Medienvertreter über die Frage, wie eine Regierung gebildet wird und da haben wir bestimmte Verhandlungspositionen, mit den wir da reingehen und die können sie noch dreimal öffentlich in Frage stellen, wir machen es trotzdem so, wie wir glauben’, dass wir angemessen in Verhandlungen gehen müssen. Was am Ende bei Verhandlungen rauskommt, weiß man in der Regel nicht, wenn man reingeht. Sonst brauchen wir nicht verhandeln. Und deswegen müssen Sie gestatten, wenn Sie sagen, es wird am Ende keine große Koalition mit Gerhard Schröder als Kanzler geben, da kenne ich ganz andere Optionen. Da wollen wir uns mal angucken, was jetzt passiert.
Deutschlandradio Kultur: Sie zählten zu denen, Herr Gabriel, die vor der Wahl schon sagten, "man muss sich eigentlich alle Optionen offen halten", was die künftige Regierungsbildung betrifft. Welche wäre Ihnen denn jetzt die liebste?
Gabriel: Eine mit Gerhard Schröder als Kanzler und einem Politikkonzept, bei dem wir nicht sozusagen freies Spiel der Kräfte zulassen, sondern darauf achten, dass in Deutschland nicht das Motto gilt "jeder ist seines Glückes Schmied", weil wir wissen, dass nicht jeder Schmied Glück hat. Darum glaube ich, geht es.
Deutschlandradio Kultur: Das war die Metaphysik, nun aber gibt es Zahlen von Koalitionsstärken im Bundestag. Wie soll das praktisch funktionieren?
Gabriel: Indem man eine Koalitionsvereinbarung schließt. Was sonst?
Deutschlandradio Kultur: Aber welches ist Ihre Präferenz?
Gabriel: Wofür ich eine Präferenz habe ist jetzt die Frage, wer die Regierung leiten soll und welche Inhalte darin sein sollen und das verhandeln wir jetzt.
Deutschlandradio Kultur: Es ist schlechterdings zum Beispiel schwer nachvollziehbar, warum Sie die FDP nicht verstehen - wie Sie gesagt haben - dass sie nicht in eine Ampelkoalition geht. Die FDP kann doch schlicht und ergreifend nicht sozusagen gegen ihre eigenen Wähler eine Rot-Grüne Regierung unterstützen.
Gabriel: Ich glaube dass es einen Auftrag gibt, der Wählerinnen und Wähler, eine liberale Beteiligung in der deutschen Politik sicherzustellen. Die haben relativ stark dazu gewonnen.
Deutschlandradio Kultur: Und zwar hauptsächlich von Wählern, die angeben, in ihrer ersten Präferenz eigentlich CDU/CSU-Wähler zu sein - 41 Prozent haben das gesagt.
Gabriel: Also wenn die Menschen nicht CDU/CSU gewählt haben, sondern FDP, dann werden die dafür einen Grund haben. Und der Grund wird sein, dass sie wollen, dass die FDP in der Politik stärker eine Rolle spielen kann. Es muss die FDP entscheiden, ob sie diesen Wählern eher gut tut, wenn sie sagt, "ich bin Zuschauer in der Politik". Da ist sozusagen Herr Westerwelle mit Lafontaine auf der gleichen Ebene. Das müssen die wissen, ob er sich genau so verhalten will wie Lafontaine, oder ob sie sagen, "wir haben eine so neue Situation in Deutschland, dass wir in diesen Fragen auch über unseren Schatten springen müssen und müssen überlegen, wie kriegen wir eine stabile Regierungsmehrheit".
Deutschlandradio Kultur: Wenn man sich jetzt die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag anschaut, Herr Gabriel, da fällt doch auf, es gibt ja zumindest eine Mehrheit, nämlich eine linke aus SPD - rechnerisch gesehen - und den Bündnisgrünen und der Links-Partei, die jetzt in doch veritabler Fraktionsstärke einzieht. War es eigentlich ein Fehler, die zur Links-Partei mutierten PDS-Leute kategorisch von jeder Mitwirkung auszuschließen, jede Form von Zusammenarbeit auszuschließen, wenn man doch auf Landesebene in Berlin, in Mecklenburg-Vorpommern eigentlich ganz erfolgreiche Arbeit leistet?
Gabriel: Also erstens haben die das selbst getan. Bevor wir überhaupt etwas sagen mussten, haben Gysi und Lafontaine öffentlich erklärt, sie wollen nicht regieren. Bei der SPD gibt es nun einen weiteren Grund: Sie können den Sozialdemokraten nicht zumuten, mit jemandem gemeinsame Politik zu betreiben, der erstens, schon mal aus einer gemeinsamen Politik geflüchtet ist und zweitens, dessen eigentliche Ziel es ist, die SPD zu spalten. Da werden Sie doch nicht von uns verlangen können, dass wir mit dem sozusagen gegen unsere eigenen Interessen arbeiten. Deswegen wird es das nicht geben. Allerdings ist - insofern haben Sie Recht - es interessant, dass zwar keine Gestaltungsmehrheit ist, die da existiert aber eine Mehrheit, die jedenfalls kein neoliberales Politikkonzept will. Das ist die Mehrheit sozusagen ‚links der Mitte’. Insofern werden wir bei den Koalitionsverhandlungen mit der CDU, aber auch mit der FDP und den Grünen darauf zu achten haben, dass sich dieser Wählerwunsch in der Koalition und in der zukünftigen Regierungsarbeit wieder findet.
Deutschlandradio Kultur: Das scheint uns denn doch in einer möglichen großen Koalition am ehesten möglich, denn wenn man sich die thematischen Schwerpunkte und die Ansprüche und das, was in den Wahlprogrammen formuliert wurde, nebeneinander liegt, gibt es da eigentlich wirklich mehr Schnittmengen als Trennendes.
Gabriel: Da haben Sie Recht. Wenn man sich das anschaut, ist das so. Allerdings bei der CDU müssen wir eben sagen, wenn Sie gucken, was Merkel und Kirchhoff und Merz da so vor hatten, das hat mit der alten CDU, die ja einen Arbeitnehmerflügel hatte, die, sagen wir mal, für sozialen Ausgleich versucht hat einzutreten, Katholische Arbeitnehmerbewegung, auch wenig zu tun. Und ich will auch die Probleme nicht klein reden. Ich glaube nur, dass es wirklich darauf ankommt, dass mit großem Verantwortungsbewusstsein für die weitere Entwicklung unseres Landes zu tun. Und dafür brauchen wir ein paar Tage länger als das sozusagen im "Hoppla-Hopp-Verfahren" geht.
Deutschlandradio Kultur: Wäre für Sie denn - etwas kühn gedacht - eine große Koalition ohne die jetzigen Spitzenkandidaten vorstellbar?
Gabriel: Ja, Sie werden verstehen, dass mich diese Frage völlig "überrascht". Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir weiter dabei bleiben werden, dass wir wollen, dass Gerd Schröder diese Regierung führt.
Deutschlandradio Kultur: Dann fragen wir anders. Sagen wir mal, das passiert jetzt. Wir bekommen eine neue Bundesregierung - welcher Couleur auch immer und "natürlich" ist Gerhard Schröder der Regierungschef. Und nun haben wir 2009 und wir werden, das werden Sie ja zumindest konzedieren, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dann eine Post-Schröder-SPD aufzustellen haben. Wie kann die aussehen? Erst ab 2009, selbstverständlich?
Gabriel: Ich will mal vorweg sagen, wie immer die Koalition aussieht: Wenn man reingeht, muss man ihren Erfolg wollen. Was man nicht machen darf ist, dort hineinzugehen und dann sozusagen immer ein bisschen mit dem Gedanken spielen, "jetzt lassen wir das Ding mal platzen". Diese berühmten "israelischen" Lösungen laufen ja immer darauf hinaus.
Deutschlandradio Kultur: Also das man in einer Großen Koalition die Regierungschefs in der Mitte der Legislaturperiode wechselt.
Gabriel: Da haben die Israelis dann immer nach zwei Jahren Neuwahlen gemacht und haben die Koalition vor die Wand gefahren - nicht immer aber gelegentlich. So was darf man nicht machen. Sondern man muss dann seriös sagen ‚wir wollen jetzt den Erfolg und wir wollen uns nach Möglichkeit in vier Jahren messen lassen, wer welchen Anteil an diesem Erfolg hatte. Aber zurück zu der Frage, wie geht es weiter mit der Partei: Ich glaube, dass die SPD in einem solchen Prozess einer wirklich ernsthaften Regierungsarbeit, die nicht darauf aus ist, die Koalition gleich wieder kaputt zu machen, sich natürlich auch wird neu positionieren müssen. Ich glaube, zwei Dinge sind ein wirklich gutes Ergebnis dieser Wahl als Voraussetzung für diesen Prozess. Erstens, ich habe die SPD lange nicht so geschlossen erlebt wie in diesem Wahlkampf. Zweitens, das war eine inhaltliche Geschlossenheit. die bedeutet, dass wir sozusagen hinter Schröder zurück nicht mehr gehen werden. Es wird keinen Zurücksprung in die 70er Jahre geben, wo wir wieder sagen, nur noch Verteilung, nicht mehr die Frage stellen, wie entsteht eigentlich der Kuchen, den wir hinterher verteilen wollen. Und da wird die SPD den Prozess, den sie ja vor den Neuwahlen begonnen hatte - wir haben ja vorbereitet ein neues Grundsatzprogramm - das wird sie engagiert weiter betreiben.
Deutschlandradio Kultur: Aber es ist natürlich trotzdem das Dilemma, dass die SPD zwischen der Agenda 2010 ff - also dem, was man da noch weitertreiben muss - und dem Zwang, die Linke wieder einfangen zu müssen, wenn sie doch noch mal wieder an die 40 Prozent rankommen wollen in ihrem Parteileben, eingeklemmt ist.
Gabriel: Ich glaube, dass das eine spannende Herausforderung ist, die man annehmen muss. Ich finde das gar nicht so gefährlich. Es ist klar zu machen, dass wir eine fortschrittliche Politik wollen, die versucht, wirtschaftlichen Fortschritt und sozialen Fortschritt wieder zueinander zu bekommen. Es ist der historische Auftrag von Sozialdemokratie, dafür zu sorgen, dass die Ergebnisse des wirtschaftlichen Fortschritts nicht nur wenigen Menschen zugute kommen, sondern möglichst vielen, möglichst allen sogar. Dass das nicht mit den Methoden der 70er und 60er Jahre funktioniert, sondern dass man dafür zum Beispiel stärker internationale Spielregeln braucht, dass Wettbewerb etwas ist, was dazu führen kann, dass Gerechtigkeit existiert, dass es nichts Schlimmes ist, dass es nicht darum geht, ob alles der Staat oder man alles privat macht, sondern dass man das entscheiden muss, wo die jeweils besten Ergebnisse dabei herauskommen - das sind Dinge, wo die SPD sich, finde ich, absetzen kann von denen, die den Menschen einen einfachen Weg zurück in die Vergangenheit versprechen. Und wenn wir damit Erfolg haben, dann werden wir auf diesem Wege diese Links-Partei überflüssig machen können. Wir müssen uns mehr darum bemühen, Zugang zu den unterschiedlichen Erfahrungen von Menschen aller Alters- und aller sozialer Gruppen zu haben, um die bei uns aufzunehmen. Ob die jetzt alle wieder Mitglied werden, will ich bezweifeln. Aber wir müssen uns sozusagen auf dem Weg dahin wieder anders organisieren und öffnen. Nur dann werden wir mehr wissen und mehr lernen und vielleicht dann auch in der Folge weniger Fehler bei unseren Entscheidungen machen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind ja dabei, sich ein neues Parteiprogramm zu geben - auch wenn dieser Prozess im Moment unterbrochen ist. Welche programmatischen Folgen sollte all das, was Sie uns gerade erläutert haben, eigentlich für die SPD haben?
Gabriel: Ich kann nur zwei Bereiche nennen, wo ich glaube, dass wir uns wesentlich intensiver Gedanken machen müssen. Das Erste ist: Was tun wir eigentlich um sozusagen der klassischen Gruppe der Leistungsträger in unserer Gesellschaft - und das sind eben nicht nur die Manager, sondern die Facharbeiter, die Gesellen, die Handwerksmeister, die selbständigen Unternehmer, die mit den mittleren und unterdurchschnittlichen Einkommen - was können wir eigentlich dafür tun, dass sich bei denen Arbeit und Leistung wieder lohnt und die den Eindruck haben, dass das, was wir hier machen, auch dazu führt, dass sie gut klarkommen in diesem Land. Das Zweite ist: welche internationalen Bedingungen brauchen wir, damit soziale Marktwirtschaft nicht irgendwie so ein Begriff aus dem letzten Jahrhundert ist. Ich kann einfach nicht akzeptieren, dass wir keinerlei Spielregeln dafür haben, dass einer, der hier seine Bude zu macht und sie in Tschechien neu aufmacht, dafür Zuschüsse aus Brüssel kriegt. Das ist irre. Wenn der in Tschechien zusätzliche Arbeitsplätze schafft, dann finde ich, ist das in Ordnung. Aber wenn er nur die hier vernichtet und dort neue macht, warum denn dafür öffentliche Gelder geben? Ist mir völlig schleierhaft. Und das Zweite ist zu gucken, dass wir die echten Leistungsträger bei uns mal wieder stärker in den Blick nehmen, die sich bei uns, glaube ich, sehr vernachlässigt fühlen.
Deutschlandradio Kultur: Haben Sie konkrete Ideen, Mindestlohn beispielsweise?
Gabriel: Mindestlohn ist ein Thema. Es geht um die Frage, wie gehen wir mit denen um, die früher in der Industrie Jobs gefunden haben, die alle keine schönen Jobs waren aber gut bezahlt, weil die Produktivität hoch war. Diese Jobs sind alle weg, kommen auch nicht wieder. Im Dienstleistungssektor gibt es neue Möglichkeiten, aber die Produktivität dort ist so niedrig, dass sie drei Jobs brauchen, um ihren Lebensunterhalt bezahlen zu können. Welche Perspektive bieten wir denen? Zum Beispiel etwa Modelle einer der negativen Einkommensteuer, wie wir sie in Großbritannien kennen.
Sigmar Gabriel wurde am 12. Sept. 1959 in Goslar geboren. Als Jugendlicher engagierte sich G. bei der SPD-nahen Jugendorganisation "Die Falken", deren Landesvorsitzender er schließlich wurde. Nach der Realschule und dem Gymnasium in Goslar (Abitur 1979) leistete G. einen zweijährigen Bundeswehrdienst ab. 1982 nahm er an der Universität Göttingen ein Lehramtsstudium für Gymnasien in den Fächern Deutsch, Politik und Soziologie auf, das er mit den entsprechenden Staatsexamen 1987 und 1989) abschloss. Bereits während des Studiums war G. ab 1983 als Dozent in der politischen und beruflichen Erwachsenenbildung tätig. Nach der Referendarzeit war er 1989-1990 beim Bildungswerk der Niedersächsischen Volkshochschule in Goslar als Lehrer in den Fächern Deutsch und Gemeinschaftskunde beschäftigt. Seit 1977 Mitglied der SPD, gewann G. bei der niedersächsischen Landtagswahl 1990 das Direktmandat in Goslar, wurde 1991 ferner Ratsherr der Stadt Goslar. 1994-1997 war er innenpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion und wurde 1997 zum stellv. Fraktionsvorsitzenden gewählt. Im März 1998, nach der für die SPD erneut siegreichen Landtagswahl (47,9 % der Stimmen), übernahm er den Vorsitz der SPD-Fraktion, unter Ministerpräsident Gerhard Schröder. Als Schröder mit dem glanzvollen Wahlsieg in Niedersachsen im Rücken schnell zum SPD-Kanzlerkandidaten avancierte und nach dem Wahlsieg der SPD (40,9 %) bei der Bundestagswahl vom 27. Sept. 1998 Bundeskanzler wurde, wählte der Niedersächsische Landtag am erwartungsgemäß den bisherigen Innenminister Glogowski zum neuen Ministerpräsidenten. Als dieser nach nur 13 Monaten im Amt am 26. Nov. 1999 als Ministerpräsident zurücktrat, wurde G. am Tag darauf von der Landtagsfraktion zum Nachfolger bestimmt. Im Landtagswahlkampf 2003 verlor Rot-Grün die Mehrheit an die CDU und die FDP. G. wurde Faktionsvorsitzender. 28. Juni 2005 löst der SPD-Landesvorsitzende Jüttner G. an der Spitze der Fraktion ab, da G. für den Bundestag kandidiert. Er erhält ein Direktmandat. G. gehört dem SPD-Bundesvorstand an.