"Es ist eine Verantwortungskrise"

Gesine Schwan im Interview mit Marietta Schwarz · 02.11.2010
Wo einzelne Lobbys zu stark werden, braucht die Politik dringend eine gemeinwohlorientierte bürgerliche Unterstützung aus der Gesellschaft heraus, sagt Gesine Schwan, Gründerin und Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance. Die Politik sei sonst schlicht damit überfordert, eine Balance zwischen den unterschiedlichen Schichten in der Bevölkerung herzustellen.
Marietta Schwarz: Niedrige Arbeitslosenzahlen, eine brummende Konjunktur, fast könnten die guten Nachrichten vergessen machen, dass es da vor zwei Jahren eine weltweite Finanzkrise gab, die noch lange nicht überstanden ist. Noch nie war die Staatsverschuldung der Bundesrepublik so hoch, gleichzeitig fahren die Akteure an den Finanzmärkten wieder wie eh und je ungebremst Gewinne ein. Das hat die Wissenschaftlerin Gesine Schwan, den Manager René Obermann, den Gewerkschafter Berthold Huber und viele andere zu einem Memorandum veranlasst, in dem die Unterzeichner für eine faire und freie Gesellschaft plädieren. Und am Telefon ist Gesine Schwan, Gründerin und Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance, guten Morgen, Frau Schwan!

Gesine Schwan: Guten Morgen, Frau Schwarz!

Schwarz: Wen sprechen Sie denn mit diesem Memorandum an, das ja mit "Bürgerverantwortung – Wege aus der Krise" überschrieben ist?

Schwan: Ich hoffe alle, die ihrerseits sich auf ihre Verantwortung hin ansprechen lassen, insbesondere eben Personen aus den verschiedenen Kreisen, die wir auch zusammengeführt haben in der Humboldt-Viadrina School of Governance für dieses Memorandum. Also das waren Personen aus der Wirtschaft, Sie haben gerade genannt aus den Gewerkschaften - die Initiative ging auch von Berthold Huber aus - es waren Leute aus den Kirchen, aus den Medien, aus der Wissenschaft, aus Nicht-Regierungs-Organisationen. Und wir möchten einfach ein Zeichen dafür setzen, dass sich die verschiedenen Verantwortlichen zusammensetzen müssen, dass es nicht mehr geht, jeder spricht für sich, jeder unterstellt den anderen - vor allen Dingen zum Beispiel die Wirtschaft der Politik oder die Politik der Wirtschaft oder alle beide zusammen –, dass sie sich abgehoben haben, dass sie sich abgesondert haben, und keiner spricht mehr mit den anderen.

Schwarz: Ist diese Postfinanzkrise also auch eine Gesellschaftskrise?

Schwan: Ja, in meiner Sicht ganz eindeutig. Es ist keineswegs nur eine ganz spezifisch wirtschaftliche oder gar Finanzkrise, sondern es ist eine Gesellschafts- und auch eine kulturelle Krise. Das haben wir auch in dem Memorandum angesprochen, dass es da eben sehr viel tiefere Dimensionen gibt als nur finanztechnische Fragen. Zum Beispiel die, dass wir uns eben voneinander abgeschottet haben, dass der Wettbewerb überall, auch in Gebieten, wo er nicht in erster Linie hingehört – also außerhalb der Wirtschaft, in der Kultur, in der Bildung – ein solches Übermaß angenommen hat, dass man sich nur noch auf die eigenen kleinen Kreise konzentriert hat und damit die Verantwortung für alles andere nicht mehr sieht.

Es ist eine Verantwortungskrise auch, die ganz generell geht, es ist eine Kommunikationskrise. Wenn in der letzten Zeit ab und zu von sogenannten Parallelgesellschaften gesprochen worden ist, was vor allen Dingen im Bereich der Einwanderung, der Migranten der Fall ist und was auch öfter vorgeworfen wird, dann muss man sagen, wir bestehen eigentlich weitgehend aus verschiedenen Parallelgesellschaften in unserer Gesellschaft mit unterschiedlichem Abschottungsgrad. Aber gerade die, die am meisten Verantwortung in der Finanzkrise getragen haben, haben sich ziemlich abgeschottet vor der Krise. Und ich habe den Eindruck, sie fangen schon wieder an sich abzuschotten von den Konsequenzen, zum Beispiel der Kommunalverschuldung und so weiter, dieser Krise.

Schwarz: Wie konnte es denn so weit kommen, ist das ein Werteverlust in der Gesellschaft?

Schwan: Na ja, also ich glaube, das Verhalten und Werte fallen nicht vom Himmel, sondern die entstehen auch, solche Veränderungen, durch eine allgemeine gesellschaftliche und ökonomische und politische Wirklichkeit. Und in der Tat, was wir als Verlust feststellen müssen, glaube ich, das ist, dass Menschen sich noch für das Gesamte verantwortlich fühlen außerhalb ihres privaten oder ihres professionellen Bereichs.

Deswegen sprechen wir in dem Memorandum ja auch von Bürgerverantwortung. Bürgerlich sagt oft, dass man sich eigentlich nur um die privaten Sachen kümmert. Das stimmt aber nicht, das wäre der französische Begriff des Bourgeois – der Citoyen kümmert sich ums Ganze. Und ich glaube, es ist inzwischen verloren gegangen der Gedanke, dass wir in einer Demokratie, um sie zu erhalten, uns über die Grenzen hinweg verantwortlich fühlen müssen, dass wir schauen müssen, was die Folgen unseres eigenen Handelns für andere Bereiche sind.

Inzwischen ist bei einigen in der Wirtschaft zum Beispiel dieser Gedanke wieder deutlich geworden. Es gibt vorzügliche Unternehmer, die genau schauen etwa in ihrem Bereich, ob die Zulieferer- und die Abnehmerkette auch wirklich Ansprüchen genügt wie Umweltstandards, Ressourcenschonung, Recht im politischen und im Arbeitssinne und so weiter. Aber das ist viel zu wenig. Andere machen sich schon wieder davon, und ich höre immer mehr gerade von denen, die sehr stark verantwortlich waren für das, was uns widerfahren ist, dass es eigentlich nur um eine Kommunikationskrise ging und dass man eigentlich sozusagen dem gemeinen Volk nur besser erklären muss, worum es geht, und dann wird es schon verstehen. Aber ich glaube, das ist ein Irrtum.

Schwarz: Aber Frau Schwan, wenn Sie an diese Verantwortung appellieren, ist es nicht am Ende dann doch die Politik, die diese Forderung aktiv durchsetzen muss, durchgreifen muss, Gesetze erlassen muss oder zum Beispiel beim Weltfinanzgipfel, beim G20-Gipfel in zwei Wochen zu Taten schreiten muss?

Schwan: Ja, sie ist in unserem Verständnis, in unser aller Verständnis gleichsam für das Gemeine und für alles zuständig. Aber sie kann nicht gemeinwohlorientiert halten, wenn sie mit Gesellschaften zu tun hat, die ihrerseits überhaupt nicht mehr gemeinwohlorientiert sind. Da ist die Politik völlig überfordert und das ist ihre Situation. Es treffen sich dort Regierungen von Nationalstaaten, die ihrerseits unter der "pressure" von Lobbys sind, und zwar sehr ungleich mächtigen Lobbys. Und da kann sie nicht einfach so handeln, wie sie sich das theoretisch denkt. Sondern sie muss – oder jedenfalls da ist der Spielraum klein geworden –, sie steht unter dem Druck derer, die – das sieht man in der Finanzlobby, die hat ein erhebliches Geld ausgegeben, in Amerika etwa 500 Billionen gegenüber der Obama-Administration, weil sie nicht reguliert werden wollte, Wallstreet also … Da ist ein großer Druck, und deswegen muss aus der Gesellschaft selbst auch Hilfe zur Politik, für die Politik kommen.

NGOs machen das, wenn sie gemeinwohlorientiert sind, aber auch aus Parteien und anderen Verbänden und von den Bürgern selbst. Daher noch mal unser Memorandum, dass sie besser gemeinwohlorientiert handeln können. Dazu gehört auch eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit: Wenn in der Öffentlichkeit nur immer bestimmte Aspekte, die sich zum Beispiel durch teure Inserate durchsetzen können, gegenüber der Öffentlichkeit markieren, also wenn solche Einzelmeinungen ganz stark werden, dann müssen andere Meinungen in der Öffentlichkeit auftreten, um wieder langsam das auszubalancieren.

Schwarz: Die Wissenschaftlerin Gesine Schwan, Mitunterzeichnerin des Memorandums für mehr Bürgerverantwortung und Wege aus der Krise. Frau Schwan, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Schwan: Ich danke Ihnen auch!